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[kol_2] Grenzfall: Wer ist Filipe De Long?

Das Telefon klingelt früh an jenem Morgen. "Bist du das, Filipe de Long?", quäkt mir eine Kinderstimme vom anderen Ende der Leitung entgegen. Beim ersten Anruf verneine ich noch höflich und lege dem kindlichen Anrufer nahe, dass es sich wohl um einen Irrtum handeln müsse.

Nachdem mich die Göre jedoch zum dritten mal an diesem Wochenendmorgen aus dem Bett geklingelt hat, unternehme ich drastischere Schritte und verlange, sofort mit der Mutter oder einem anderen Erziehungsberechtigen zu sprechen. "So geht das ja nicht, Fräulein, hier morgens einfach so anzurufen!" Doch sie legt auf. Und ruft dafür fünf Minuten später noch mal an.

Nun, so etwas passiert sicherlich jedem und ständig. Etwas verwundert war ich aber, als sich innerhalb weniger Tage die Anrufe für jenen Filipe de Long exponentiell häuften. Das Entsetzen setzte jedoch erst ein, als eine dunkel-verrauchte, leicht laszive Frauenstimme mich fragte, wie viel Filipe denn wohl für einen Hausbesuch "mit vollem Programm" berechnen würde.

"Wir werden hier nämlich eine gemütliche Privatfeier haben, und da wäre eine kleine Showeinlage Herrn De Longs genau das richtige,um die Jungs so richtig auf Trab zu bringen!"

Nachdem ich den Hörer auf die Gabel geknallt hatte, verharrte ich kurz, schaute mich im Zimmer um und lauschte den Geräuschen meiner beiden Mitbewohner. Beide in ihren Zimmern, verdächtig stumm an ihren Computern arbeitend. Beide im Internet. Wer weis schon so genau, auf welchen moralisch verwerflichen Webpages der so nett wirkende Mitbewohner so seine Anzeigen setzt?

Klick klack klacken die Tastaturen ihrer PCs, jagen wilde Angebote in das weltweite Netz, unter die sie unsere überaus honorige, bisher über alle Zweifel erhabene Telefonnummer setzen. Erste Assoziationen um den Tarnnamen De Long tauchen vor meinem geistigen Auge auf.

Als das Thema beim Abendessen auf den Tisch kommt, verneinen alle glaubhaft jedwede Beteiligung an solch dunklen Machenschaften. So etwas von ihnen, undenkbar sei das!

Der Telefonterror ging weiter. Eine ganze Woche lang störte er mich entschieden bei meiner überaus Konzentration beanspruchenden Heimarbeit. Immer, wenn ich die meist weiblichen Anrufer zur Rede stellen wollte und versuchte, ihnen mal unter Androhungen der Polizei, mal unter vollem Einsatz meines Telefon-Charmes die entscheidende Information zu entlocken, legten sie rasch auf.

"Woher haben Sie diese Telefonnummer?" Klack. Aufgelegt.

Bis es mir eines verregneten Nachmittags gelang, eine junge Anruferin in einen kleinen Plausch zu verwickeln. "Die Nummer hab ich von Filipes Website", gestand sie mir freimütig.

"Und woher kennen Sie Filipe eigentlich?", setzte ich geschickt meine Investigation fort. "Meine kleine Schwester ist Fan von ihm. Sie hat ihn letzten Sonntag in der Faustão-Show gesehen, wo er sein neuestes Lied vorgestellt hat. Und auf seiner Webseite ist diese Telefonnummer als Kontakt für Shows angegeben."

Als ich diese interessanten Neuigkeiten der versammelten Runde am Abendbrottisch mitteilte, wusste plötzlich jeder, wer Felipe De Long ist. "Mensch, kennste den denn nicht. So ein 17-jähriger langhaariger Sänger", weis plötzlich der eine zu berichten. "Sogar ziemlich süß, der kleine", outet sich der andere. Und sie kritzeln auf ein Papier seinen Namen: Felipe Dylon!

Die Anrufe gehen weiter. Wir überlegen uns, welche Geschichten wir den anrufenden Kindern erzählen sollen. "Er ist bei einem Tauchunfall gestorben und gibt deshalb keine Konzerte mehr", halte ich zuerst und persönlich für etwas zu geschmacklos.

Aber schon wenige Tage später ertappe ich mich selbst bei der unverhohlen ausgesprochenen Grausamkeit eines Satzes wie: "Er hat sich zur Ruhe gesetzt und singt nicht mehr". Erschrocken legt das kleine Mädchen am anderen Ende der Leitung auf, und sofort lasten tonnenschwere Schuldgefühle auf meinen Schultern.

Wir beschließen, vom nächsten Anrufer eine Vorauszahlung von 5,000 Reais für ein einstündiges Konzert Felipes zu verlangen. Neben dem Telefon liegt die Kontonummer eines Mitbewohners bereit, doch niemand traut sich letztlich, den Schritt in die kriminelle Unterwelt wirklich zu vollziehen.

"Ihr müsst Felipe Bescheid sagen, dass er versehentlich eure Telefonnummer auf seine Seite gesetzt hat", rät mir eine peruanische Freundin. "Ruf ihn doch einfach an und sag, dass das eure Telefonnummer ist."

In Anbetracht der vielen verzweifelten Mädchen, die vergeblich versuchen, Felipe für ihren Kindergeburtstag zu engagieren, beschließe ich, ihrem Rat zu folgen. Seine Telefonnummer fand ich auf seiner Internetseite. Seitdem versuche ich jedoch unentwegt, Felipe an die Strippe zu bekommen. Sooft ich auch anrufe, es ist immer besetzt.

Text: Thomas Milz
Fotos: amazon.de