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[art_2] Peru: Abuelitos adoptieren

Julia Böhme öffnet die klapprige Tür, die aus Holzbrettern rudimentär zusammen gezimmert ist. Beherzt betritt sie den kleinen Hof mit den Hütten aus Pappe und Plastikplanen. "Wie schön, dass Du gekommen bist", sagt eine alte Frau. Sie strahlt und umarmt Julia herzlich. Zusammen mit ihrem Sohn, den der Drill beim Militär den Verstand gekostet hat, und mit ihrer Enkelin Victoria lebt sie in einer klapprigen Hütte. Gleich daneben liegt die Behausung ihres Ex-Mannes und dessen neuer Frau. Es ist ein elendes Leben, das die 76-jährige führt. Zu ihren Lichtblicken gehören die Besuche von Julia.

Neun Monate lang lebt Julia hier in Lima. Nicht im schicken Teil der Stadt, wo es Bars und Discotheken gibt, sondern in Villa Salvador, einer riesigen Ansammlung elender Hütten und einfachster Häuser aus unverputzten Ziegelsteinen, der Grenze zwischen Stadt und Slum.

380.000 Menschen leben hier, immerhin gibt es in den meisten Behausungen Strom und Wasser. Kein Tourist verirrt sich hierhin. Doch Julia hat sich mit ihren 20 Jahren dafür entscheiden, nach dem Abi nicht gleich zu studieren, sondern ein anderes Leben kennen zu lernen. Sie arbeitet als Freiwillige in dem "Programa Especial del Adulto Major Los Martinsitos", benannt nach einem peruanischen Heiligen. Das Projekt kümmert sich um alte Menschen, die keine Familie haben, die sie versorgt, um die Ärmsten der Alten. Drei Mal in der Woche kommen die Abuelitos, Großelterchen, wie sie liebevoll genannt werden, in das Zentrum, wo sie Essen erhalten, Alphabetisierungskurse durchgeführt und ein paar handwerkliche Tätigkeiten angeboten werden. Es gibt einen Arzt und manchmal einen Physiotherapeuten, Puzzle und einen kleinen Garten. An zwei Tagen in der Woche werden die besucht, die zu alt und krank sind, um in das Zentrum kommen zu können.

Julia begleitet Schwester Jackie vom deutschen "Orden der Armen Schulschwestern", die sich resolut ihren Weg durch die staubigen Gasse Villa Salvadors bahnt.

Für sie sind Freiwillige wie Julia eine große Bereicherung ihrer Arbeit. "Allein die Tatsache, dass da junge Menschen um die halbe Welt gereist sind um sie zu besuchen gibt den Alten das Gefühl wichtig zu sein. Und diese Wertschätzung, die zählt oft mehr als alles andere".

Julia selber hat oft gar nicht so sehr das Gefühl zu helfen: "Eigentlich mache ich gar nicht viel. Ich höre oft einfach nur zu." Es sind Geschichten von schweren Schicksalen, die sie da zu hören bekommt. Gewalt ist in Villa Salvador alltäglich: Prügelnde Ehemänner, Kinder, die ihre Eltern schlagen. Es sind auch Geschichten von Missbrauch, von Krankheit und Armut. "Am Anfang konnte ich das alles kaum glauben. Was die Alten erzählen, hat mich fertig gemacht. Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt, ich lasse es nicht mehr so dicht an mich ran. Manchmal habe ich deswegen ein richtig schlechtes Gewissen, weil ich denke, ich hätte ein kaltes Herz. Aber vielleicht muss das so sein, damit ich es ertragen kann." So sitzt sie an Krankenlagern und hält Hände in Hütten, deren einziges Mobiliar aus Pappkartons und Plastiktüten besteht.

Die Martinsitos mit ihren Freiwilligen sind häufig die einzigen Bezugspersonen, die die Alten haben. In keiner Hütte fehlt die Fotocollage, auf dem alle 145 Abuelitos, die Helfer und der Hund des Projektes abgebildet sind.

Das Leben in Villa Salvador ist für Julia nicht immer leicht. Am meisten nervt sie die ständige Anmache der Männer. "Da kommt die Mutter meiner Kinder", tönt es aus allen Ecken. Es wird gepfiffen und gezischt. Manchmal kann sie das einfach ignorieren, aber wenn sie unter Stress steht, könnte sie zuschlagen.

"Ich bin in Deutschland ein ganz normales Mädchen. Aber hier gelte ich als schön, weil ich blond bin. Es ist anstrengend ständig gemustert und beobachtet zu werden." Seitdem sie sich die Haare dunkler gefärbt hat, ist es etwas besser geworden. Trotzdem ist Villa Salvador alles andere als eine sichere Gegend. Fast jeder hier ist schon beraubt worden und Julias Gastfamilie besteht darauf, dass sie im Dunkeln nicht alleine herumläuft. Sie tut es trotzdem. "Manchmal glaube ich, dass ich zu wenig Angst habe. Aber bisher ist mir noch nichts passiert".

Ihre Entscheidung für Monate in eine Welt zu ziehen, die nicht weiter von Reusten bei Tübingen entfernt sein könnte, hat Julia trotzdem nicht bereut. Seit Jahren hat sie sich für Amnesty International engagiert und Geld für Hilfsprojekte gesammelt. Nun wollte sie erfahren, was Dritte Welt wirklich heißt.

Nach Villa Salvador kam sie, weil ihre Schule hier eine Partnerschaft hat. Ihre Eltern fanden die Idee gut und unterstützen sie auch finanziell, denn für Kost, Logis und private Ausgaben muss sie selber aufkommen. Bei der Planung wurde sie vom Service Civil International unterstützt. Die Organisation schickt Jugendliche aus aller Welt in Soziale Projekte, wo sie als Freiwillige arbeiten. "Ich bilde mir nicht ein, dass ich hier viel helfen kann. Ich glaube, die Arbeit mit den Alten gibt mir viel mehr als ihnen. Ich habe gelernt, wie hart das Leben sein, und was man dennoch alles ertragen kann. Es ist bewundernswert wie die Alten noch arbeiten, wie sie sich durchschlagen."

Aber es gibt nicht nur traurige und ergreifende Momente bei den Martinsitos. Es wird viel gelacht und auch gefeiert. "Wenn einer von den Alten Geburtstag hat, dann gibt es ein richtiges Fest. Und Leute, die kaum Laufen können, fangen an zu Tanzen."

In ein paar Wochen wird sie nach Deutschland zurück kehren um Kunst auf Lehramt zu studieren. Wenn sie an den Abschied denkt, dann wird sie traurig. "Manche von den Alten habe ich richtig lieb gewonnen. Sie sind für mich zu Großeltern geworden.

Text: Katharina Nickoleit
Fotos: Christian Nusch

Info: Man kann einen "Abuelito" aus Villa Salvador adoptieren. Nähere Informationen unter www.adopt-a-grandparent.org

Tipp: Katharina Nickoleit hat einen Reiseführer über Peru verfasst, den Ihr voraussichtlich ab dem 01.12.2009 im Reise Know-How Verlag erhaltet.

Titel: Peru Kompakt
Autoren: Katharina Nickoleit, Kai Ferreira-Schmidt
288 Farbseiten
4. überarbeitete und komplett aktualisierte Auflage
ISBN: 978-3-89662-336-2
Verlag: Reise Know-How