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[art_4] Spanien: Toledo - Weltkulturerbe und Marzipantorte bei 43° Grad

 
Es gibt wohl kaum eine Stadt, die auf so kleiner Fläche so viele erstrangige Kulturmonumente zu bieten hat wie das kastilische Toledo, zur Zeit Kaiser Karls V. für ein paar Jahrzehnte die Hauptstadt eines Weltreiches, "in dem die Sonne nie unterging". Aber es gibt idealere Tage für eine Besichtigung dieses Weltkulturerbes als einen über 40° Grad heißen Junitag.

Doch ich habe es mir vorgenommen, es gibt kein Zurück. So besteige ich am Morgen des 13. Juni in Madrid den vollklimatisierten Zug und bin froh, meinen Rollkragenpullover dabei zu haben, sonst würde ich mir in dem auf Tiefkühltruhe geschalteten Zugabteil wohl eine zünftige Sommergrippe holen. Eine halbe Stunde später komme ich in Toledo an. Um 10.30 Uhr sind es bereits 31° Grad im Schatten. Ich ziehe den Rollkragenpulli aus und nehme ein Taxi zur Plaza Zocodover. Da ich nur etwas mehr als acht Stunden Zeit habe, beschließe ich Toledos Mega-Monument, die Kathedrale, diesmal auszuklammern. Sie ist die fünft- oder sechstgrößte Kathedrale der Welt (größer als der Kölner Dom) und voller Kunstschätze (allein 20 Gemälde von El Greco). Aber erstens habe ich sie bei meinem letzten Besuch vor acht Jahren sehr ausgiebig besichtigt und zweitens rege ich mich jedes Mal auf, weil dies eine der ganz wenigen spanischen Kathedralen ist, wo – trotz des Eintritts von 10 Euro – fotografieren strengstens verboten ist. Warum? Wem gehören denn all die Kunstschätze in diesem Gotteshaus? Der Kirche - also uns allen! (die wir trotz allem immer noch Kirchensteuer zahlen, und gar nicht wenig).

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Diesmal also nur außen vorbei, dabei wie immer einen meditativen Blick auf die Fensterrose und den kunstvollen Turm geworfen und weiter. Ohnehin kann man in der Kirchenhauptstadt Spaniens (Toledo war im Mittelalter Europas größtes Erzbistum und ist heute noch Sitz des Primas von Spanien) dem Sakralen nicht entfliehen. Denn heute ist der Tag vor Fronleichnam, dem größten Fest Toledos, und alle engen Gassen sind nicht nur mit Sonnensegeln gegen die Hitze beschirmt, sondern auch üppig mit sakralem Schmuck für die morgige Prozession dekoriert.

Ich war schon mindestens sechsmal in Toledo, aber habe längst noch nicht alles gesehen (oder es ist schon so lange her, dass eine Zweitbesichtigung dringend nötig ist). Deshalb habe ich mir für den heutigen Tag ein strammes Programm mit der Besichtigung von acht Monumenten vorgenommen, schön in chronologischer Reihenfolge. Da von den Iberern und Römern kein komplettes Gebäude erhalten ist, beginnen wir also mit den Westgoten:

1. Museum für Westgotische Kultur in der Kirche San Román, 11:00 Uhr bei 32° Grad. Im Reich der Westgoten (ca. 476 - 711) war Toledo erstmals Hauptstadt Spaniens. In dem kleinen Museum kann man Kopien von westgotischen Goldkronen und westgotische Sarkophage und Reliefs besichtigen. Untergebracht ist es in einer der schönsten Kirchen von Toledo, in der Mudéjarkirche San Román, die zwar deutlich jünger ist als die hier präsentierten Exponate, aber doch auf fast 800 Jahre Geschichte zurück blicken kann.

Sie wurde zwischen 1250 und 1290 erbaut und die prachtvollen arabisch inspirierten Hufeisenbögen und vor allem die Fresken, die aus derselben Epoche stammen, sind eigentlich wertvoller als die westgotischen Museumsstücke und gut erhalten. Besonders schön: ein Engelspaar, das Weihrauchgefäße schwenkt. Etwas neuer als das Hauptschiff der Kirche ist der schöne Turm aus dem 14. Jahrhundert und der angebaute Renaissance-Chor mit platereskem und vergoldeten Hochaltar aus dem frühen 16. Jahrhundert.

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2. Ehemalige Moschee Cristo de la Luz, 12:00 Uhr bei 33° Grad. Im Jahre 712 eroberten die muslimischen Araber die Hauptstadt des christlichen Westgotenreiches und Toledo blieb eine der wichtigsten Städte in ihrem Herrschaftsgebiet. Von dieser Epoche, die 1085 mit der kastilischen Eroberung Toledos zu Ende ging, zeugen neben der Stadtmauer (Puerta Vieja de Bisagra, Puerta Bib-Al Mardón) und der Alcántara-Brücke diese kleine, um 990 erbaute Moschee. Der einfache, aber elegante Ziegelbau ist nur knapp neun Meter lang und breit und wurde nach 1085 in eine Kirche umgewandelt. Der islamische Ursprung zeigt sich unverkennbar in den Sebka-Rautenbögen. Innen hat jedes der winzigen Gewölbe ein anderes geometrisches Muster. Es ist imponierend, wie hier mit einfachen Mitteln und Materialien eine erlesene Dekoration geschaffen wurde, die in einer steilen Gasse seit über 1000 Jahren die Stürme der Zeit überdauert hat.

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3. Synagoge Santa María la Blanca, 12.30 Uhr bei 34° Grad. Toledo war während des gesamten Mittelalters eines der wichtigsten Zentren jüdischer Kultur in Spanien, bis zur fatalen Vertreibung der Juden im Jahr 1492. Hier, im "Toledo der drei Kulturen", wurden zwischen dem 10. und 13. Jahrhundert die Werke von Platon und Aristoteles von jüdischen und arabischen Wissenschaftlern ins Lateinische übersetzt. Und hier steht die älteste Synagoge Europas, vollendet 1220 (der Vorgängerbau war noch deutlich älter). Sie trägt zwar weiterhin den Namen der Kirche, in die sie 1550 umgewandelt wurde, aber aus ihrem Innenraum hat man bis auf ein Kreuz alle christliche Dekoration (Altäre, Statuen, Gemälde) verbannt, um das ursprüngliche Erscheinungsbild des jüdischen Sakralraumes möglichst wieder herzustellen.

Der trotz reduzierter Dimensionen fünf schiffige Tempel beeindruckt in seiner Kombination von schlichtem Weiß, eleganten Hufeisen- und Mudéjarbögen und dezenten Vergoldungen in der kleinen Kuppel und den Bögen. Rätselhaft die Kapitelle der Säulen mit ihren Schnörkeln und Pinienzapfen. Die neue Beleuchtung bringt diesen Säulensaal wunderbar zur Geltung. Und obwohl der Raum völlig leer ist, verbringe ich doch viel Zeit hier, denn die Atmosphäre lädt sehr zur Meditation ein. Zudem ist es in diesem 800-jährigen Gemäuer schön kühl und draußen wartet ein Inferno.

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4. Synagoge del Tránsito (Sephardisches Museum), 13.30 Uhr bei 37° Grad. Vollendet um 1370, ist sie 150 Jahre jünger als Santa María la Blanca. Architektonisch präsentiert sich diese zweite in Toledo erhaltene Synagoge architektonisch einfacher (nur einschiffig), aber mit noch prunkvollerer Dekoration. Überwältigend gleich beim ersten Blick nach oben das original erhaltene Holzgewölbe im Mudéjarstil, filigran die Fenstergitter aus Stuck, beides dominiert von arabisch beeinflussten Sternenmustern. Reich verziert auch die Wände, sie wirken wie Vorhänge aus Stein, unterbrochen durch zierliche Mudéjarbögen. Die angrenzenden Räume gehörten Samuel Levi, dem Schatzmeister Königs Pedro des Grausamen, und beherbergen heute das Sephardische Museum, in dem anhand zahlreicher Exponate die Geschichte des Judentums in Spanien dargestellt wird.

Die spanischen Juden nannten sich selbst Sephardim und trugen über viele Jahrhundert zum wirtschaftlichen Reichtum und zur kulturellen Blüte Spaniens bei - bis zu ihrer tragischen Vertreibung im Frühjahr 1492. Die meisten emigrierten damals ins Osmanische Reich (Istanbul, Thessaloniki), Marokko und (vorübergehend) nach Portugal oder Italien. In vielen sephardischen Familien werden bis heute die alten Schlüssel zu ihren Häusern in Toledo aufbewahrt. Zu den Türen einiger Häuser in dieser uralten Stadt könnten sie heute noch passen.

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5. Museo del Greco, 14:00 Uhr bei 38° Grad. Damit eines gleich klar ist: dies hier ist nicht das Haus, in dem der geniale Maler Domenikos Theotokopoulos (El Greco) selbst gewohnt hat, es hätte es aber sein können, weil es im späten 15. Jahrhundert erbaut wurde. Jedenfalls hat man diesen palastartigen Komplex, der eine schöne Holzkuppel im Mudéjarstil besitzt, mit alten Möbeln ausgestattet und präsentiert hier alle Gemälde des großen Meisters, die sich nicht in Toledaner Kirchen oder im Museo Santa Cruz befinden.

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Leider kein Geheimtipp, ständig werde ich von lärmenden Touristengruppen verschiedenster Herkunft eingekreist. Im Hauptsaal wird ein kompletter Apostelzyklus mit 13 Gemälden von El Greco gezeigt sowie sein höchst originelles Werk "Ansicht und Plan von Toledo". In einer Zeit, in der fast nur Porträts von Heiligen und Adligen gemalt wurden, war die Darstellung des Panoramas einer Stadt revolutionär, zumal El Greco wie immer eine sehr eigenwillige Vision auf die Leinwand gebracht hat. Zum einen erscheint die Ansicht realistisch-rational, was durch den detaillierten Stadtplan, den sein Sohn unten rechts präsentiert, noch betont wird. Aber zum anderen deutet das verklärte Licht, in das die Stadt getaucht wird und die kleine wilde Engelsschar, die darüber schwebt, die mystische Sicht des Malers an.

Komplettiert wird die Sammlung des Museums durch teils interessante Gemälde von Imitatoren und Nachfolgern El Grecos (v.a. Luis Tristán). Obwohl El Greco erst als Erwachsener nach Toledo kam, hat er mit seinen Werken diese grandiose Stadt geprägt wie kaum ein anderer - und wiederum hat die Atmosphäre dieser steilen Gassen, die sich den Fels hinauf ziehen, ihn zu Kreationen inspiriert, die an einem anderen Ort kaum so entstanden wären.

Kurz nach 15:00 Uhr. Als ich die kühlen, klimatisierten Säle des El Greco Museum verlasse und wieder auf die Straße trete, glaube ich, geradewegs in einen Ofen zu marschieren. 40° Grad im Schatten und zurück ins Zentrum geht es natürlich steil bergauf. In Toledo gibt es überhaupt nur steile Gassen! Nach ein paar Schritten läuft der Schweiß in Strömen. Zum Glück erinnere ich mich, dass es bei Santa Maria la Blanca einen Getränkeautomaten gibt und stürze eine Dose eiskaltes "Aquarius" in mich hinein, bevor ich die Gasse empor klettere. Vor dem nächsten Monument muss dringend eine kurze Pause her. Was isst man in Toledo -– auch bei 40° Grad - natürlich Marzipan! Bei Santo Tomé sitze ich in einem Café und bestelle ein großes Stück Marzipantorte bei einer Kellnerin, die meint, sich verhört zu haben. Denn die Touristen ringsumher essen Eis oder eiskaltes Gazpacho. Mir egal. Marzipan geht immer und Toledo hat das beste der Welt.

6. Museo de Santa Cruz, 16:00 Uhr bei 41,5° Grad. Ich muss raus aus dieser Sonnenglut, bevor ich kollabiere. Selbst wenn ich nicht an Kunst interessiert wäre, würden die kühlen Säle dieses stattlichen Renaissancepalasts ein verlockend angenehmer Aufenthaltsort sein. Und das ist nun echt unglaublich, aber im Gegensatz zum Museo del Greco bin ich hier ganz allein! Dabei ist Santa Cruz das deutlich wichtigere Museum. Ein Dutzend sehr großformatiger Werke El Grecos gibt es hier auch (das schönste ist wohl die "Inmaculada"). Und dazu ein paar sehr bedeutende Werke mittelalterlicher Kunst und der Renaissance von flämischen und spanischen Meistern. Auch Skulpturen wie die wunderbare Madonna ("Virgen de la Expectación", ca 1530) von Diego de Siloe, einen Hochaltar des größten Bildhauers von Toledo, Alonso de Berruguete (ca. 1540) und erstrangige Gemälde (u.a. vom Barockmaler Ribera und vom unterschätzten Toledaner Renaissance-Maler Correa de Vivar) präsentiert dieses viel zu wenig besuchte Museum.

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Allein das Gebäude ist den Besuch wert. Erbaut wurde dieses ehemalige Klosterhospital in Toledos goldenem 16. Jahrhundert vom Architekten der Katholischen Könige, Enrique Egas (die spektakuläre Fassade im plateresken Stil, 1514) und vom Architekten Kaiser Karls V., Alonso de Covarrubias (Renaissance-Patio, ca. 1530).

7. Barockkirche San Ildefonso, 17.30 Uhr bei 43° Grad nach steilem Aufstieg. Geschlossen! Jetzt bin ich aber sauer! Schon sechs Mal habe ich vor dieser barocken Jesuitenkirche mit der imposanten Doppelturm-Fassade gestanden und jedes Mal war sie zu. In Schweiß gebadet habe ich mich bei 43° Grad hier hoch gequält und alles umsonst! Also beim 7. Mal...

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8. Kirche Santiago del Arrabal. Vor dieser ältesten Kirche Toledos habe ich auch schon sechs Mal vor verschlossenen Türen gestanden. Ich habe auch diesmal wenig Hoffnung, als ich außen herum gehe. Ältester Teil des Tempels ist sein Turm, von dem einige meinen, er sei ein ehemaliges Minarett (dann müsste er vor 1085 errichtet sein). Wahrscheinlicher ist, dass er kurz nach der christlichen Eroberung ca 1150 erbaut wurde. Die Kirche wurde zwischen 1230 und 1260 erbaut und sieht von außen eher aus wie eine Moschee mit ihren arabischen Hufeisenportalen und Sternenfenstern. Und sie ist tatsächlich offen - zum ersten Mal!

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Seit 1984 will ich diese Kirche besuchen und immer war sie zu. Ganz langsam wie in Trance trete ich ein. Santiago del Arrabal ist von beeindruckend schlichter Schönheit. Wären nicht der Hochaltar und ein paar Kreuze an den Wänden, könnte man diese Kirche auch innen für eine Moschee halten. Die Hufeisenbögen setzen sich, wenn auch sehr in die Länge gestreckt, als Blendarkaden an den Wänden fort. Stille erfüllt den Raum. Nur ein paar Großmütterchen murmeln den Rosenkranz. Abseits der Touristenströme herrscht in diesem 800 Jahre alten Tempel eine mystische Atmosphäre. Ich wage kaum, umherzugehen und zu fotografieren. Der Renaissance-Altar ist nur dezent vergoldet und stört die Harmonie in der alten Kirche nicht. Ich setzte mich ins Halbdunkel und vergesse die Zeit. Glockengeläut erinnert mich daran, dass es bald 20:00 Uhr ist.

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Nun muss ich möglichst schnell zum Bahnhof. Es gäbe zwar noch zwei spätere Züge zurück nach Madrid, aber die waren schon ausgebucht. Wenn es nicht 43° Grad wäre, könnte man von hier zu Fuß zum Bahnhof laufen (knapp zwei Kilometer). Aber ich bin nicht sicher, ob ich von der Puerta de Bisagra aus den Weg finde und viel Zeit bleibt nicht.

Kein Taxi weit und breit. Ich entschließe mich, die paar hundert Meter zu den Rolltreppen zu laufen, um zurück zur Plaza Zocodover zu kommen, wo es immer Taxis gibt. Die berühmte Rolltreppe, hinter einem Sichtschutz versteckt, um das Weltkultur-Panorama nicht zu stören, wurde von der UNESCO erlaubt, um Fußgänger vom Touristenbusparkplatz schnell nach oben in die Altstadt zu bringen. Aber es ist nicht eine Rolltreppe, sondern vier oder fünf. Mir kommt es vor, als wäre die Strecke ein paar Kilometer lang. Es dauert endlos lang und ich werde nun doch nervös. Eine Übernachtung in Toledo war nicht eingeplant und wegen Fronleichnam werden alle Hotels ausgebucht sein. Endlich komme ich oben an, habe keinen Blick mehr für die Schönheit der Stadt, mir brennt der Schweiß in den Augen und ich sehe fast nichts. Mir bleiben weniger als 20 Minuten bis zur Abfahrt des Zuges. Ich stürze halb blind zum Taxi und lasse mich ins Polster fallen.

Drei Minuten vor Abfahrt erreiche ich den Bahnhof und muss wieder den Rollkragenpulli für den eisgekühlten Zug auspacken. Und ich nehme mir vor: beim nächsten Mal werde ich in Toledo übernachten, endlich San Ildefonso besichtigen und in der Kathedrale fotografieren - selbst wenn man mich dafür einsperrt...

Text + Fotos: Berthold Volberg

Tipps und Links:
Kirche San Román / Westgotisches Museum: turismocastillalamancha.es/patrimonio/museo-de-los-concilios-y-de-la-cultura-visigoda-3761/descripcion/

Synagoge del Tránsito: museosefardi.mcu.es

Museo del Greco: museodelgreco.mcu.es

Museo de Santa Cruz: www.patrimoniohistoricoclm.es/museo-de-santa-cruz/

Marzipan: Die Marzipantorte gibt es im Café neben der Kirche Santo Tomé, das beste Marzipan kauft man in der Konditorei Santo Tomé (Calle Santo Tomé Nr. 3; am leckersten sind die Marzipan-Pralinen mit Pinienkernen): mazapan.com

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