caiman.de 09/2007

[kol_1] Helden Brasiliens: Curupira

Er geht ziggedizack. Haar wie Feuer, und doch sieht man ihn selten; er dagegen sieht nicht alles, aber fast. Possenreißend bringt Curupira den Wanderer zum Lachen, und vor Lachen fällt der Wanderer tot um. Curupira meint das wörtlich. Curupira meint alles wörtlich.

Einer hat ihn mal gesehen, vor langer Zeit, da war Curupira gerade dumm. Weil er wollte. Der Mann lag da und schlief, fast nackt. Curupira war hungrig und er beschloss, das Herz des Mannes aufzuessen. Aber! Der Mann erwachte. "Gib mir dein Herz, ich will es essen!", sagte Curupira. Der Mann gab ihm ein Stück, und Curupira verspeiste es ganz. Aber! Jetzt war er erst richtig hungrig. Er wollte mehr: "Gib mir mehr!" "Gut", sagte der Mann und gab ihm den Rest. Es war das Herz eines Affen, den er gejagt hatte, und er fand sich sehr schlau. "Ich habe getan, was du wolltest. Ich habe dir mein Herz gegeben, damit du es aufessen kannst. Nun sei gut und gib mir ein Stück von deinem!"

Curupira sah das ein, sicher, das sah er ein. "Leih mir dein Messer, Mann!" Innendrin lachte Curupira. Außendraußen nahm er das Messer, schob es sich in die Brust und starb.

Der Mann, der sich schlau fand, hatte eine eitle Tochter, die war so eitel, dass sie von allem immer das Schönste für sich wollte. Und jetzt wollte sie eine Halskette aus den schönsten Perlen, den schönsten von allen. Der Mann dachte und dachte und dachte. Er dachte einen Tag, zwei Tage, drei Tage. Und dann erinnerte er sich an Curupira und seine wunderschönen grünen Zähne, und er ging hin. Ach, Curupira war nur noch Knochen. Ach, die Pflanzen hatten Curupiras Knochen schon fast verschluckt. Aber seine wunderschönen grünen Zähne funkelten und glänzten zwischen den Blättern. Der Mann nahm Curupiras Schädel und schlug ihn gegen einen Baum, einmal, zweimal, dreimal. "Ai!", sagte der Mann, denn mit dem dritten Schlag stand Curupira vor ihm, unversehrt, und der Mann ließ Curupiras Kopf los.

Innendrin lachte Curupira. Außendraußen sagte er: "Oh! Du, Mann, hast mich ins Leben zurückgeholt! Nimm diesen Pfeil und diesen Bogen! Es ist ein Verzauberbogen und ein Verzauberpfeil. Nie werden sie ihr Ziel verfehlen, und nie soll es dir, Mann, an Beute mangeln. Aber! Niemals erschieße ein Tier im Rudel oder einen Vogel im Schwarm."

Der Mann mit dem Verzauberbogen war jetzt der berühmteste Jäger, und alle bewunderten ihn, weil er nie sein Ziel verfehlte. Aber! Einmal war er auf der Jagd mit anderen Männern, und er war hochmütig geworden. Wenn sie ihn bewunderten, wollte er, dass sie ihn noch mehr bewunderten. Und da: Jurití, ein ganzer Schwarm. Der Mann wählte einen Vogel aus und schoss ihn aus der Luft, als wäre es das Leichteste. "Oooh!", machten die anderen Männer aus Bewunderung, und dann liefen sie weg. Weil die anderen Jurití sich zornig auf den Mann stürzten, der geschossen hatte. Der Mann war jetzt alleine, und die Vögel zerrissen ihn in viele Stücke: Hier lag ein Arm, dort ein Kopf, und da noch andere Teile.

Curupira machte ein Feuer, und von seinen Freunden, den Bienen, holte er Wachs. Er schmolz das Wachs und klebte den Mann damit wieder zusammen. "Danke!", sagte der Mann. Außendraußen sagte Curupira: "Das war das erste Mal und das letzte Mal, dass ich dich retten konnte. Geh jetzt nach Hause. Aber! Du darfst nie mehr Heißes trinken oder essen." Was tat Curupira innendrin? Er lachte.

Der Mann ging nach Hause und lebte weiter. Niemand wusste, was geschehen war. Bis eines Tages. Seine Frau reichte ihm eine Suppe, das war eine so gute Suppe, eine so wohlriechende Suppe, eine so schöne, heiße, duftende Suppe, dass der Mann nicht nein sagen konnte. Er trank die Suppe und schmolz. Eine feine Geschichte, findet Curupira! Sie soll weitererzählt werden!

Mal hat Curupira Fell, mal hat er keins. Mal hat er blaue Zähne und mal grüne. Mal hat er riesige Ohren und mal nicht. Am liebsten hat er es, wenn sie erzählen, dass er auf einem Wildschwein reitet, denn dann reitet er auf einem Wildschwein.

Hier oder dort - was kümmert’s ihn? Curupira kümmert’s nicht, solange sie von ihm erzählen. Er kennt: Jenipapo-Frucht und Guaraná-Liane, Açaí-Palme und Jacaranda-Baum. Er kennt: VW und Toyota, er kennt Ampel. Er kennt: Hochhaus und Pförtner und Einkaufszentrum. Er kennt: Blattschneider-Ameise und Jabutí und Faultier und Bananenspinne. Er kennt Hauskatze, Kellerassel und Kakerlake. Wenn ihn fast einer sieht, wird Curupira Jurití oder Laternenpfahl oder modriges Stück Holz zwischen Laub oder Briefkasten. Jetzt sitzt Curupira im Mangobaum über der Straße, lutscht an einer Frucht und schaut den Autos und Menschen und Sachen zu. Da, fast sieht ihn einer! Tsui! ist er davon, schneller als ein Blick. Die, die bescheid wissen, sagen: "Hat keinen Sinn, Curupira nachzulaufen. Gibt keinen, der ihn einholen kann."

Immer erzählen sie von seinen Füßen. Seine Füße sind ganz und gar nicht wie ihre Füße. Seine Füße sind das Gegenteil von ihren Füßen! Versucht einer, Curupiras Spuren zu folgen, dann kommt er immer nur dorthin, wo Curupira war und nie dahin, wo Curupira ist.

In den engen Straßen, nachts, kann er sie ebenso gut in die Irre führen, wie er sie im Wald in die Irre führen kann. Die Leute kennt er seit, seit, seit. Ach, seitdem sie herumlaufen und von ihm erzählen. Erst kamen die einen Leute, dann kamen eine Weile keine, dann kamen die anderen Leute und kurz darauf noch andere. Verschieden verpackte Leute, verschieden eingefärbte Leute.

Da ist eine Frau. Sie weiß nicht, dass hier Curupira wohnt. Sie hätte ihm Tabak anbieten müssen, oder wenigstens Schnaps. Ungehobelt! Curupira macht Lärm; er schlägt mit einem Schildkrötenpanzer gegen die eisernen Jalousien einer geschlossenen Autowerkstatt, dass es rumpelt wie Gewitterdonner. Sie schaut in Curupiras Richtung. Puts! wird er ein Haufen Müll. Sie schaut wieder weg. Puts! wird er Curupira.

Oh, und jetzt hat die Frau Angst! Sie läuft: Diese Straße, jene Straße, diese Straße, jene Straße. Aber! Sie ist wieder dort, wo sie losgelaufen ist. Curupira schaut ihr zu. Curupira pfeift sein unheimliches Pfeifen. Die Frau bleibt nicht stehen, sie läuft immer schneller, immer anders und doch immer im Kreis. Wie geht das? Sie weiß es nicht. Oder? Sie sieht sich um. Curupira wird ein Stock. Sie sieht sich um. Curupira wird ein Stein. Vielleicht sieht sie kurz das rote Funkeln seiner Augen, aber nur ganz kurz. Gleich wird er sie mit der Stimme eines Jaguars anbrüllen, oder nein, sie mit der Stimme eines Autos anfahren, oder nein: Mit der Stimme ihres Geliebten nach ihr rufen, das macht die Leute immer ganz ganz ganz durcheinander. Doch was ist das? Was ist das ist das ist das? Was tut sie da?

Die Frau hält an. Wieso läuft sie nicht weiter? Die Frau klaubt eine lange Wäscheleine aus einem Gebüsch, eine lange Wäscheleine, die andere Leute achtlos fortgeworfen haben. Sie wickelt die Leine zu einem Ball, ganz klein, ganz eng, ganz klein. Das Ende der Leine verschnürt sie tief und fest im Innern. "Ich glaub’ nicht, dass du das Ende findest!", ruft sie und wirft das Knäuel über eine Mauer, über einen Stacheldraht, in einen Hinterhof. Curupira blinzelt, einmal, zweimal. Er späht über die Mauer.

Wo ist das Ende? Wo mag es sein? Das Ende? Wär doch gelacht, wenn er es nicht fände! Wär doch gelacht! Mit einem Satz ist Curupira über die Mauer. Und während er aufgeregt das Knäuel in seinen Händen dreht und wendet und an seinem Ohr schüttelt und nach dem Ende sucht, schließt die Frau die Augen und wartet einen Moment, und noch einen. Dann dreht sie sich um und geht. Sie hat den Weg nach Hause wiedergefunden. Innendrin lacht Curupira.

Text: Nico Czaja