caiman.de 09/2006

[art_2] Mexiko: Die Conquistadoren Mexikos als Teules und Weiße Götter?
Erste Identifizierungsversuche durch Mexica und Tlaxcalteken (Teil 1)

Die Eroberung Mexikos hat seit den bald 500 Jahren, die uns von ihr heute trennen, kaum etwas von ihrer Faszination eingebüßt. Die Gründe dafür sind vielfältig: Sie fand am Schnittpunkt zweier Welten und Epochen statt, sie ist aus mehreren Perspektiven überliefert und gehört vielleicht zu den facettenreichsten Episoden der Geschichte. Die Frage, die seit dem Ende der Conquista immer wieder gestellt wurde, ist: Wie konnten die ungefähr 2000 Spanier unter Hernán Cortés das ganze Gebiet des späteren Neuspanien mit einer Bevölkerung von bis zu 25 Millionen Einwohnern unterwerfen?

Herán Cortés
Statue in Medellín, Extremadura
Foto: Felix Hinz


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Umberto Eco hat einmal gesagt, dass es auf jede noch so komplizierte Frage meist von irgendwoher eine ganz einfache Antwort gibt. - Und die sei dann falsch. Genauso verhält es sich in der Geschichte zur Conquista Mexikos. Eine solche Antwort auf die genannte Frage lautet, die Spanier seien von den Bewohnern Mexikos oder zumindest von Moctezuma für Götter gehalten worden. Starr vor Schreck und Ehrfurcht habe man mit der Abwehr der Conquistadoren so lange gewartet, bis es zu spät gewesen sei. Die Herkunft dieser Legende lässt sich wie in solchen Fällen üblich nicht mehr eindeutig feststellen. Cortés war derjenige, der quellentechnisch ihre Grundlage schuf, indem den cartas de relación zufolge Moctezuma folgende Ansprache an ihn gehalten haben soll:

"Viele Tage ist es her, dass wir durch unsere Schriften von unseren Vorfahren Nachricht haben, dass weder ich noch alle, die wir in diesem Land leben, Eingeborene desselben sind, sondern Fremde und zu ihm aus sehr fremden Landesteilen gekommen sind. Und wir haben außerdem [Nachricht], dass ein Fürst unser Geschlecht in diese Landesteile brachte, dessen Untertanen [wir] alle waren und der zu seinem Ursprungsort zurückkehrte. Und später kam er zurück nach langer Zeit, und zwar nach so langer, dass diejenigen, die geblieben waren, bereits mit den eingeborenen Frauen dieses Landes verheiratet waren, und sie hatten viele Nachkommen und Ortschaften gebaut, wo sie lebten. - Und als er sie mit sich nehmen wollte, da wollten sie weder gehen noch ihn als Herrn anerkennen, und so kehrte er um. - Und wir haben immer angenommen, dass diejenigen, die von ihm abstammen, kommen müssten, um dieses Land und uns als seine Vasallen zu unterwerfen. Und gemäß der Richtung, die ihr sagt, dass ihr da herkommt, die da ist, wo die Sonne aufgeht, und [gemäß] den Dingen, die ihr von diesem großen Herrn oder König [also Karl V.] erzählt, der euch hierher schickte, glauben wir und halten es für sicher, dass dieser unser natürlicher Herr ist, besonders weil ihr uns sagt, das er seit vielen Tagen Nachricht von uns hat."

Vieles spricht dafür, dass die Franziskaner einige Jahrzehnte später kräftig an der Legende vom wiederkehrenden Fürsten mitkonstruiert haben. Es muss bedacht werden, dass die schlechten Vorzeichen, die Moctezuma vor der Conquista gesehen haben soll, literarische Fiktion sind. Sowohl im Jüdischen Krieg des Flavius Josephus als auch bei anderen antiken Autoren werden vergleichbare Vorzeichen genannt. Sie symbolisieren dort den Zorn des christlichen Gottes über die sündigen Heiden. Moctezuma ist gemäß dieser Darstellung nichts anderes als ein Medium des zürnenden Gottes, der ihm gleich Nebudkadnezar den Untergang seiner Herrschaft kundtut. Die Conquistadoren mit all den ihnen im Buch XII der Historia general des Fray Bernardino de Sahagún zugeschriebenen Schreckenstaten und ihrem finsteren Erscheinen als eiserne, kalkgesichtige Reiter unwiderstehlicher Vernichtungskraft, denen geifernde Hunde vorauslaufen, erscheinen vor diesem Hintergrund als apokalyptische Reiter, als Geißel Gottes. Sie sind grausam, blutgierig, unwiderstehlich, mitleidlos, aber gerade deshalb Krieger Gottes. Auf den Trümmern des gestraften Heidentums sollte nach Zeiten der blutigen Buße das um so reinere Christentum erwachsen. In ihrer polytheistischen Verblendung jedoch sollten die Heiden die Christenkrieger für Götter gehalten haben, und dies habe um so mehr ihren verdienten Untergang besiegelt. - Soviel zur Geschichtsschreibung.

Was aber dachten die Totonaken und Nahuas wirklich über die Conquistadoren? Was hatte es mit der angeblichen Legende vom wiederkehrenden Fürsten auf sich? Was hatte der Gott Quetzalcóatl mit Hernán Cortés zu tun? Welchen Einfluss hatten bestimmte Prophezeiungen aufgrund des zyklisch aufgebauten Wahrsagekalenders auf die Einstellungen und Handlungen der Bewohner Mexikos angesichts der Conquistadoren?

Möglicherweise wusste Moctezuma über die Spanier zunächst mehr als diese über ihn. Thor Heyerdahl und nach ihm viele andere haben bewiesen, dass es theoretisch bereits im Altertum möglich war, den Atlantik von der Alten in die Neue Welt zu überqueren. - Aber zurück? Es ist ungewiss, was es mit dem mysteriösen portugiesischen Piloten auf sich hat, der vor Colón in der Karibik gekreuzt sein soll. Auch gibt es Gründe zur Vermutung, dass Vicente Yáñez Pinzón und Juan Díaz de Solis bereits 1508-09 vor San Juan de Ulúa beim heutigen Veracruz auftauchten. Dies wäre neun Jahre vor der Expedition unter Juan de Grjalva gewesen, der man gemeinhin den ersten Kontakt mit den Mexica zuschreibt. Da die fraglichen mesoamerikanischen Codices im Zuge der Evangelisierung des Landes zum allergrößten Teil verbrannt wurden, lässt sich nicht mehr eruieren, was diese von potentiellen vormaligen Kontakten der Bewohner Mexikos mit Europäern berichteten. Fray Toribio Benavente alias Motolinía erwähnt folgende Begebenheit: "Während dieser Zeit [d.h. bevor Grijalva landete] brachten sie Moteczumatzin eine Kiste mit spanischen Kleidern, die von irgendeinem Schiff gewesen sein musste, das im Mar del Norte [bei einem Unwetter so stark] krängte [, dass es Ladung verlor], in der sie ein Schwert, gewisse Fingerringe, andere Schmucksachen und Kleidungsstücke fanden. Und Moteczuma gab einige Schmuckgegenstände an die Fürsten von Tezcuco und Tlacuba. Und damit sie sich nicht beunruhigten, sagte er ihnen, dass seine Vorfahren sie geheim gehalten und gut gehütet hätten und dass sie sie in großer Achtung hielten."

Die pochtecas genannten Fernkaufleute der Mexica vermochten durchaus die Distanzen von Tenochtitlán nach Yucatán und nach Guatemala zu überwinden, doch was sie in Erfahrung brachten, bleibt Spekulation. Vor einer derart dünnen Quellenlage ist es angebracht, davon auszugehen, dass Grijalva und Cortés die ersten Europäer waren, von denen Moctezuma erfuhr. Die überlieferten Quellen suggerieren zumindest, dass Moctezuma keine Ahnung von Schiffbrüchigen Kastiliern in Yucatán und wenn überhaupt nur wenige Informationen über die Vorgänge im Darién und in der Karibik hatte.

Mit Vorsicht zu genießen sind die den Mexica meist unterstellten Interpretationsschemata, mit denen sie versucht haben sollen, das Phänomen "Kastilier" zu deuten. Der hinreichend bekannte mesoamerikanische Kalender enthielt auch eine zyklische Zeitvorstellung. Die Vorstellung, dass die Zeit nach jedem 52-Jahre-Zyklus wieder von vorn beginne, war nach Ablauf eines jeden Zyklus "mit fundamentaler Existenzangst verbunden" und legte es, wird oft argumentiert, den Nahuas nahe, da man im linearen Sinne weder von "Zukunft" noch von "Vergangenheit" habe sprechen können, bestimmte Abschnitte des Kalenders religiös-mythologischen Deutungsmustern zu unterwerfen, so dass sich also eben dieses Zeitverständnis auf dominante Weise durch Ritual und Prophetie ausgedrückt habe.

Eingehend beschrieben und mit zahlreichen Beispielen veranschaulicht findet sich der prophetische Kalender der Mexica im vierten Buch der Historia general des Sahagún. Sahagún berichtet auch, dass die Mexica ein jedes Individuum gemäß dem Zeichen, unter dem es geboren wurde, einschätzten - und weniger nach seiner Herkunft oder seinen Fähigkeiten. Als Veranschaulichung mag das kalendarische Zeichen Ume Tochtli dienen: In diesem Zeichen Geborene wurden von Anfang an als Säufer angesehen, und sie bekamen keine Chance im Leben. Dies dürfte nicht selten zu einer Sich-selbst-erfüllenden-Prophezeihung geführt haben, was die magische Kraft des negativen Kalenderzeichens zu bestätigen schien. Allerdings waren viele Tageszeichen ambivalent.

Am radikalsten vertrat Tzvetan Todorov die Bedeutung dieses Kalendersystems für die Sicht der Nahuas auf die Conquistadoren: "Das Individuum gestaltet seine Zukunft nicht, sondern diese offenbart sich ihm [...]. Die charakteristische Frage dieser Welt ist nicht [...] praxeologischer Art: Was tun?, sondern epistomologisch: Wie erfahren?"

Vor diesem Hintergrund wird dann angenommen, dass Moctezuma, der in seiner Jugend eine strenge religiöse Erziehung erfahren hatte und sich eher als Priester denn als Krieger verstanden haben soll, mit dem Phänomen "Kastilier" konfrontiert Antworten zunächst in prophetischen Büchern suchte, davon ausgehend, dass kein Ereignis singulär oder zufällig sein kann, sondern in anderer Form bereits an gleicher Stelle des Zyklus´geschehen bzw. angekündigt sein muss. Die fraglichen Bücher sind leider sämtlich verloren.

Alle diese Theorien basieren letztlich auf der Legende vom wiederkehrenden Fürsten Quetzalcóatl, dessen Rückkehr in diesen prophetischen Büchern angekündigt worden sein soll. - In bezug auf zyklisches Zeitverständnis ist zu berücksichtigen, dass dies immer nur ein Aspekt der Zeitphilosophie sein kann, um sie nicht ad absurdum zu führen. Auch bei uns kehren die Jahreszeiten immer wieder, und die Zeit messen wir mit einem Kreisrunden Instrument, und dennoch ist die Zeit immer auch bzw. vor allem linear. Selbst wenn das zyklische Element in Mesoamerika stärker betont wurde, ist es doch auszuschließen, dass die Mexica keinen Begriff von singulären Ereignissen in der Geschichte hatten. Auch die Maya, die einen ähnlichen Kalender verwendeten, kannten eine lineare "lange Zählung" der Zeit.

Moctezuma war ein stolzer, selbstbewusster Herrscher im bedeutendsten Teil der den Nahuas bekannten Welt. In Anbetracht der wenigen historischen Fakten, die sich nicht als spätere Geschichtsfälschungen entlarven lassen, spricht wenig dafür, dass Moctezuma durch die Ankunft der Kastilier ernsthaft beunruhigt war. Er fühlte sich im Gegenteil mächtig genug, eine abwartende Haltung und eine seinen Reichtum unter Beweis stellende Freigiebigkeit leisten zu können.

Wie verhielt es sich mit den in den Quellen immer wieder genannten "Teules"? - Wenn beispielsweise Díaz del Castillo davon schreibt, dass die Nahuas die Conquistadoren teules genannt hätten, scheint er unter diesem Begriff in etwa ´Halbgötter´ zu verstehen. Die Schwarzen unter ihnen, fügt Sahagún hinzu, seien als "wirklich schmutzige" Götter angesehen worden. - Wie haben die Mexica die Kastilier bezeichnet? Sagten sie téotl oder téutl (Gott), oder redeten sie die Fremden mit teuctli oder tecuhtli (Herr) an? Ich behaupte: Sie sagten "Gott" und meinten "Herr".

Moctezuma ließ die Ankömmlinge prächtig empfangen, als sie noch in der Bucht von San Juan de Ulúa ankerten. Es handelte sich neben dem Empfang der Conquistadoren in Tenochtitlán zweifellos um eine der denkwürdigsten kulturellen Begegnungen der Weltgeschichte. Laut Sahagúns Bericht wurden Cortés die Trachten und Attribute der mexicanischen Götter Quetzalcóatl (auch als Ehecatl und als Tlaloc) und Tezcatlipoca dargeboten. Wenn Sahagúns Ausführungen, die die geschichtlichen Ereignisse meist sehr verzerrt widergeben, zutreffen, müssten die genannten Gegenstände zwischen den Gaben befinden, die Cortés zusammen mit seinem ersten Bericht an Karl V. schickte. Und tatsächlich: Ein Vergleich der entsprechenden Sahagún-Passage mit der Inventarliste der betreffenden Schatzsendung des Cortés ergibt klare Übereinstimmungen.

Mictlantecutli und Quetzalcóatl
Quelle: Codex Borgia


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Doch die weitverbreitete These, dass die Gaben Moctezumas bedeuteten, dass die Conquistadoren vom huey tlatoani (Großer Sprecher) für die Götter gehalten wurden, deren Trachten er ihnen übergeben ließ, muss zurückgewiesen werden. Bereits Oviedo, der Quetzalcóatl gar nicht erwähnt, glaubt nicht, dass die Conquistadoren wirklich als Götter angesehen wurden, da doch jede einzelne Mexiko-Expedition (unter Córdoba, Grijalva und Cortés) angegriffen worden sei. Oft ist auch darauf hingewiesen worden, dass eine Legende von der Wiederkehr des Quetzalcóatl oder von jemand anderem aus präcortesianischen Quellen nicht ersichtlich ist. (Dieses Argument muss allerdings drei Einschränkungen erfahren: 1. Es ist leider nur ein Bruchteil der schriftlichen präkolumbianischen mesoamerikanischen Quellen überliefert. 2. Die mexicanische Kultur befand sich in einem Stadium zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Von etwaigen rein mündlich tradierte Mythen hat man heute keine Kenntnis mehr. 3. Möglicherweise gab es eine mündliche Mythos-Variante der macehualtín, die von einer Wiederkehr des Quetzalcóatl berichtete und die Moctezuma, da sie seinen Legitimitätsanspruch gefährdete, unterdrückte. Cortés könnte durch seine Dolmetscherin Marina von dieser Variante Kenntnis erhalten haben.)



Marina informiert Cortés, Quelle: Codex Durán

Wie aber hat man dann die Schmückung der kastilischen Hauptleute mit den überreichten Masken, Mänteln und Insignien zu interpretieren? - Joseph Campbell schreibt in "Die Masken Gottes", seinem berühmten Werk zum Kultur- und Religionsvergleich: Die Maske wird "verehrt und erlebt als eine vollgültige Erscheinung des mythischen Wesens, das sie darstellt, obwohl jedermann weiß, dass ein Mensch die Maske gemacht hat und dass ein Mensch sie trägt. Ihr Träger wird ferner während der Zeit des Rituals, dessen Bestandteil die Maske ist, mit dem Gott identifiziert. Er stellt den Gott nicht bloß dar, er ist der Gott."1 Nimmt man an, dass diese sehr allgemeine und nicht speziell auf die Nahuas gemünzte These Campbells zutrifft, dann stellt sich die entscheidende Frage: Was war für die Nahuas ein Gott?

Eine Antwort hierauf muss unbedingt Richard Townsends Hinweis berücksichtigen: "Ein fundamentales Konzept aztekischen religiösen Denkens wurde durch die Welt-[Wort-]Wurzel teo, oft mit dem Suffix -tl als teotl geschrieben, ausgedrückt. Schwer übersetzbar wurde das Wort von den Spaniern als ´Gott´, ´Heiliger´ oder mitunter als ´Dämon´ wiedergegeben. Studien zum Wort teo zeigen, daß es in Nahuatl-Texten in einer Vielzahl von Kontexten vorkommt. Manchmal begleitet es die Namen von Naturgottheiten, aber es wurde ebenso in Verbindung mit menschlichen Personifikationen dieser Gottheiten sowie in Verbindung mit deren heiligen Masken und dazugehörigen Zeremonialobjekten [...] benutzt. [...] Das Wort teo wurde wohl ebenso gebraucht, um beinahe alles Mysteriöse, Mächtige oder Metaphysische zu bezeichnen."

Es ist unmöglich, die teules aus der Conquista-Geschichte wegzuinterpretieren, aber es ist unbedingt nötig, die Übersetzung "Götter" zu relativieren. Sie gehören immer in Anführungszeichen im Sinne Townsends.

Text: Felix Hinz

Website: Wenn euch das Thema interessiert, besucht die Website des Autors: www.motecuhzoma.de/start-deu.html

Buchtipp: Dr. Felix Hinz ist Autor der dreiteiligen Abhandlung
"Hispanisierung" in Neu-Spanien 1519-1568. Transformation kollektiver Identitäten von Mexica, Tlaxkalteken und Spaniern

Gebundene Ausgabe: 874 Seiten

Verlag: Kovac, J; 1. Auflage: Oktober 2005
ISBN: 3830020708