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[kol_2] Macht Laune: Tigre Delta - das etwas andere Buenos Aires

Anlässe zum Feiern gibt's in Argentinien - wie sonst auch auf dieser Welt - ja genügend. Diesmal war es allerdings ein besonders angenehmer: Nach einem schweren Motorradunfall und der damit verbundenen zweiwöchigen Pause im Krankenhaus, hatte mein Freund Rodrigo in sein elterliches Haus zum Asado eingeladen. Der einzige Haken an der Sache: das elterliche Häuschen liegt im beschaulichen Tigre Delta und man muss mit einem kleinen Boot durch die unzähligen verzweigten Flussarme des Rio de la Plata.

Das Haus befindet sich dann irgendwo auf einer der kleinen Inseln. "Du sagst einfach dem Bootsführer, dass Du zwei Haltestellen nach der Apotheke an Land gehen möchtest."

Ich habe Rodrigos Worte noch genau im Ohren, aber ich war schon mal im Tigre Delta und hab da so meine Befürchtungen.

Ich breche also extra ein bisschen früher ins Delta auf. Die einfachste und schnellste Möglichkeit ist der Zug vom Plaza San Martin aus. Sehr angenehm, denn zum einen kann man da ein wenig lesen oder einfach nur die Leute beobachten. Und zum anderen geht das wirklich fix. Irgendwo besteht noch die Möglichkeit in eine grüne Touristengondel einzusteigen, aber dazu habe ich nun absolut gar keine Lust. Das wirklich Schöne am Zugfahren in Buenos Aires ist, dass tatsächlich jeder mit diesem Transportmittel unterwegs ist. Der Banker, die Putzfrau, der Arbeitslose, der Yuppie, das schulpflichtige Kind. Hier treffen sie sich alle.

Einer der berühmtesten Züge ist der tren blanco, der weiße Zug. Das hat aber nichts mit irgendwelchen Rassenzugehörigkeiten zu tun - in Argentinien weist die indigene Bevölkerung ohnehin nur einen Prozentsatz von kleiner gleich einem Prozent auf - sondern es ist der Zug der cartoneros, die in Buenos Aires für kleines Geld die Kartons von den Straßen sammeln und weiter verkaufen. Ich habe mal eine Dokumentation, in die ich zufälliger Weise hineingeschlittert bin, über diesen Zug gesehen. Die suchten da nach Ausländern, denen sie diese "etwas andere Attraktion" der Stadt zeigten und dann deren Reaktionen filmten. Nun ja, den tren blanco hab ich nicht genommen. Da fährt auch kein Normalbürger mit. Ich hab stattdessen die ganz normale Bummelbahn nach Tigre genommen, allerdings weder gelesen noch irgendwen beobachtet, sondern einfach geschlafen.

Die Sonne ist noch relativ stark um fünf Uhr nachmittags und ich schlendere gemächlich zur Ablegestelle der lanchas, der kleinen Boote, die uns zu den einzelnen Inseln bringen.

Vorher esse ich noch eine kleine enchilada bei einem der Kioske um die Ecke, wo am Wochenende normalerweise der Markt stattfindet. Jetzt ist nicht mehr viel los. Die Touristen sind schon nach Hause gegangen und nur ein paar Hunde dösen in der Abendsonne. Die Bootsanlegestelle selber kann man nicht verpassen. Man folgt einfach dem Geruch. Es ist nicht bösartig, wenn man sagt, dass es im Tigre Delta stinkt. Es ist einfach die Wahrheit. Gerade da, wo sich die Hauptanlegestelle befindet, steht das Wasser scheinbar schon seit dreißig Jahren, ist richtig braun und mit viel gutem Willen, schenkt man den Einheimischen auch Glauben, dass das vom eisenhaltigen Erdreich kommt. Bisweilen zweifle ich daran.

Mein Fahrschein ist gelöst und ich habe Glück, weil das nächste Schiff schon in ein paar Minuten aufbricht. Zusammen mit den Porteños geht es an Deck des überdachten Schiffchens. Vorwiegend Frauen sehe ich, die die Hände voller Einkaufstüten haben und den täglichen Klatsch und Tratsch austauschen. Ein paar Arbeiter in ihrer Arbeitskleidung und ich mittendrin. Ich gehe zum Kapitän und erkläre ihm, wo ich ungefähr hin will. "Na klar, kein Problem, setz Dich hin und genieße die Fahrt."

Von Genuss kann allerdings keine Rede sein, als wir in Richtung Hauptarm des Rio de la Plata fahren, vorbei an alten rostigen Schiffen und hinein ins Wasserlabyrinth.

Zumindest der Gestank verflüchtigt sich und ich sehe den Ruderern zu, wie sie gegen die Wellen unseres Schiffes ankämpfen. Ich erinnere mich an einen alten Zeitungsartikel über einen tragischen Unfall. So ein dreiviertel Jahr wird es wohl her sein. Eine der lanchas hat ein mit Jugendlichen voll besetztes Ruderboot in der Dämmerung gerammt. Vielleicht war es auch schon Nacht. Von den acht Personen haben drei dabei ihr Leben gelassen. Im Anschluss daran gab es heftige Debatten darüber, wie man in Zukunft solche Unfälle vermeiden könne. Später stellte sich heraus, dass der Bootsführer der lancha ein paar Bier zuviel hatte. Damit war die Sache abgehakt. An den Booten selber hat sich jedenfalls nichts geändert, ich sehe weder ein aufgestecktes Fähnchen, noch Lämpchen oder Reflektoren, die die Boote besser sichtbar machen würden.

Noch immer umgibt uns braunes Wasser und zu meiner Überraschung stinkt es nicht - vielleicht doch eisenhaltig. Wir passieren allerhand Geschäfte: da ist der Eisenwarenhändler, die Tankstelle, der Bäcker, verschiedene Restaurants.

Und alles auf Stelzen. Ich komme mir ein klein wenig vor wie in Venedig. Nur nicht so vornehm und edel, aber auf diese rustikal ehrliche Art einfach toll. Und es ist ruhig geworden. Sowohl draußen als auch auf dem Schiff. Vielleicht ist es auch der Motor, der eintönig alles übertönt. An den einzelnen Haltestellen steigen Leute ein und aus. Wie beim Busfahren genügt ein Handzeichen, um den Bootsführer zum Stoppen zu bewegen. Schließlich kommt meine Apotheke in Sicht und fünf Minuten später stehe auch ich auf einem wackeligen Stelzen-Steg und bin froh, als ich festen Inselboden unter meinen Füßen habe.

Fahrzeuge gibts hier nicht mehr und man braucht sie auch nicht. Die Inseln sind relativ klein und wenn überhaupt, dann fährt man auf den Wegen mit dem Rad. Ansonsten haben die Familien natürlich Ruder- oder Motorboote, die sich in der Regel mehrere Familien teilen.

Ich frage mich durch, wo die Familie Rey wohnt und habe das Gefühl, dass die Leute hier ein bisschen weniger gestresst sind als in der Stadt. Ein kleiner Junge begleitet mich bis zu Rodrigos elterlichem Haus.

Mit einem "tempranito, no?" werde ich vom Hausherrn begrüßt. "Rodo müsste jeden Augenblick kommen". Es kann sich also nur um Stunden handeln. Gut, dass ich an die zwei Flaschen Wein gedacht habe.

Text + Fotos: Andreas Dauerer