ed 07/2012 : caiman.de

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[art_4] Argentinien: Perspektivwechsel - Oder: Visita argentina
Auszug aus dem Reisetagebuch eines argentinischen Musikers

Endlich habe ich das Flugticket nach Europa in Händen. Rominas deutsche Freunde heiraten und wir sollen als Duo dazu spielen. Eine wirklich einmalige Gelegenheit, um nach Deutschland zu kommen, auch wenn ich von Solingen noch nicht wirklich etwas gehört habe. Das ist irgendwo bei Köln und unweit von Hamburg. Denn da möchte ich gerne so schnell es geht hin, weil dort gerade ein alter Freund lebt, mit dem ich ein halbes Jahr zusammen in einer Residencia mit insgesamt 19 anderen Leuten gewohnt habe. Er war der einzige Deutsche und schon am ersten Abend saßen wir nach dem Essen zusammen, die Gitarre in der Hand, haben gemeinsam musiziert und gingen im Anschluss gemeinsam aus. Beinahe schon eine surreale Begebenheit im besten Cortázar Sinn, aber sie wurde doch Realität. Und wer hätte gedacht, dass wir uns einmal in seiner Heimat wiedersehen könnten?!

Es ist einfach unglaublich. Und jetzt wo hier in Buenos Aires der Winter beginnt, fliege ich in den europäischen Sommer. Es kann eigentlich nur hervorragend werden, auch wenn ich meinen Sohn dann für knapp drei Monate alleine lassen muss. Immerhin will ich mit Romina ja ein bisschen Geld verdienen. Auf der Straße. In Europa funktioniert das noch einigermaßen und ich hoffe auf gutes Wetter und nette Menschen. Der Rest wird sich dann schon von selbst ergeben.

"Verdammte Scheiße", rufe ich. Dann muss ich lachen, obwohl es doch ein wenig traurig ist. Wir haben tatsächlich unseren Anschlussflug von Rom nach Düsseldorf verpasst. Natürlich Low-Cost, also gibt’s kein Ersatzticket, zumal wir selber Schuld sind, weil wir uns viel zu lange in den Flughafengeschäften aufgehalten haben. Jetzt ist der Flieger weg und guter Rat teuer. Wir müssen also die Bahn nehmen, die hier in Europa ja wunderbar funktionieren soll. Was in Lateinamerika der Bus ist, ist hier die Bahn und man kann auf Schienen in die entlegensten Winkel der Republik gurken. Wenn man nur will oder das Geld dazu hat. Denn Bahnfahren ist in Deutschland verdammt teuer. Wir zahlen jetzt ein Vielfaches für den 24-stündigen Trip über München nach Düsseldorf verglichen mit unserem Billigticket. Obwohl die Reise noch gar nicht richtig begonnen hat, herrscht in unserer Reisekasse schon Leere.

Irgendwann kommen wir dann in Solingen an, allerdings habe ich massive Sprachschwierigkeiten. Die Leute sprechen fast kein Spanisch, ich fast kein Englisch. Mit Händen und Füßen ist alles recht mühsam, aber mit einem Lächeln geht die Missverständigung dann doch etwas einfacher. Was allerdings immer verbindet, ist die Musik. Mit Romina auf der Bühne zu stehen macht Spaß und die Leute gehen tatsächlich aus sich heraus. Von der deutschen Mentalitätskälte fehlt wirklich jede Spur. Ich freue mich auf Hamburg, auf Peter, auf Spanisch sprechende Menschen, auf Bier und Musizieren in den Straßen. Wir müssen allmählich ein bisschen Geld verdienen.



Die Ankunft in Hamburg verläuft reibungslos, fünf Stunden Zugfahrt und wir werden nachts um 22 Uhr am Bahnhof abgeholt. Ach, wie schön den Kerl mal wieder zu sehen. Er hat sich kaum verändert, wir sind nur etwas älter geworden. Seine Wohnung ist schön, groß, wir schlafen im Arbeitszimmer und am nächsten Morgen geht’s schon auf Stadtbesichtigung. Hamburg hat was, das steht fest. Mit einem dieser roten Leihräder fahren wir durch die Innenstadt und schauen uns alles an: den kleinen See in der Mitte der Stadt samt Fontäne und die großen, alten Bauten, das tolle Rathaus, den Hafen und den beeindruckenden Elbtunnel. Es ist wirklich unglaublich.

Dann gehen wir Döner essen. Die schmecken im Gegensatz zu denen in Argentinien wirklich gut! Überhaupt ist das Fleisch nicht so schlecht, wie ich dachte. Ganz im Gegenteil. Alles, was wir hier probieren, schmeckt außerordentlich lecker: Döner, Schnitzel, Grillfleisch, Schweinebraten. Und es liegt nicht daran, dass wir Argentinier das gute Fleisch stets exportieren, denn das, was wir essen, kommt ja aus der Region… Nach dem Essen setzen wir uns auf die Bank vor einem Kiosk, in dem es kleine Knabbereien und noch viel Bier gibt. Fast ist es so, als würde man in Buenos Aires einen Pati, also einen Hamburg essen, ein Bierchen trinken und dabei den vorbeischlendernden Leuten zugucken. Das Bier schmeckt ausgezeichnet: würzig, mit Gehalt, viel besser als das in Buenos Aires, was aber keine große Kunst ist.



Auf dem Nach-Hause-Weg kommen wir an einer Kneipe vorbei, die angeblich ein Argentinier eröffnet hat. Kleine Hexe, ein lustiger Name. Und drinnen gibt’s tatsächlich einen Mate samt Bombilla und ein kleiner Flyer von den Redonditos, wohl Argentiniens einflussreichster Band, hängt an einem Holzpfosten vor der Bar. Dahinter stehen Jorge aus Kolumbien und Raquel, Spanierin. Davor trinkt ein Chilene sein Bier und natürlich kommen wir mit allen ziemlich schnell ins Gespräch. Und siehe da, auf die Latinos ist Verlass, wir können schon am übernächsten Morgen dort auftreten. Getränke und Essen kostenfrei, was will man mehr. Ein erster Lichtblick, denn leider ist das Wetter hier derart bescheiden, dass wir auf der Straße unser Glück erst gar nicht versuchen können.

Wir schlafen lange, gehen dann ein wenig spazieren, essen, quatschen und machen Musik. Peter soll auch was singen und es überrascht mich immer wieder, dass er argentinische Lieder kennt, die nicht mal ich als Einheimischer im Repertoire habe. Wir einigen uns auf zwei Klassiker von Luis Alberto Spinetta und Bersuit Vergarabat und ich hoffe inständig, dass er bis morgen den kompletten Text intus hat. Sonst könnte es doch ein wenig peinlich werden. Zudem bin ich mir unsicher, was ich mit Romina spielen soll. International? Oder eher Spanischsprachiges? Vielleicht sogar Tango?

Peter meint, dass die spanischen Stücke immer besser ankämen, aber ich kann mir das nicht vorstellen. Wir diskutieren das bei einem Glas Wein, kochen nebenbei und wanken dann gemütlich ins Bett.



Das Konzert war genial. Die Stimmung anfangs noch recht behäbig, steigerte sich immer mehr und erreichte nach der Pause ihren Höhepunkt. Peter war absolut textsicher und begleitete uns bei zwei Liedern sogar auf der Gitarre. Insgesamt haben wir knapp 100 Euro verdient. Gar nicht so schlecht für den Anfang. Es waren einige Latinos da und so mussten wir unseren Gastgeber auch eher selten wegen Konversationsübersetzung nerven. Fast ist es hier wie in Buenos Aires, wo sich auch gerne die Deutschen in "ihren Lokalen" treffen, um ihre Sprache sprechen zu können. Nur halt umgekehrt, was uns ja nur Recht sein kann. Interessant außerdem: Die Empanadas im Brujito waren hervorragend. Zwar nicht unbedingt besser, aber mindestens genauso gut wie die argentinischen. Allmählich wird mir Deutschland ein wenig unheimlich.

Ausschlafen, Ausruhen, Mails checken mit der Heimat chatten. Am späten Nachmittag geht’s auf ein Geburtstagsfest direkt am Hafen auf die Landungsbrücken. Es ist schon verrückt, wo hier immer und immer wieder gefeiert wird. Wir essen, trinken und unterhalten uns, während im Hintergrund ein großes Frachtschiff nach dem anderen kurzzeitig mächtige Schatten wirft. Das ist schon wirklich bizarr und einmalig. Leider sind die Leute hier nicht ganz so aufgeschlossen, obwohl offenbar einige auch spanisch sprechen. Also ziehen wir bald gemütlich weiter in eine Kneipe unweit dem Rotlichtviertel und der Reeperbahn. Die ist bei Nacht wirklich unglaublich. Viele bunte Lichter und ein noch viel bunteres nächtliches Publikum treibt sich hier rum. Was würde ich dafür geben, noch einmal 10 Jahre jünger zu sein…

Der Wecker klingelt, in einer Stunde geht es mit dem Bus weiter nach Berlin. In Hamburg haben wir gar nicht auf der Straße gespielt, das soll in der Hauptstadt anders werden. Außerdem treten wir dort auf einem kleinen Festival auf. Wir packen alles zusammen und verlassen ganz still und heimlich die Wohnung. Ich hab’s nicht über das Herz gebracht, Peter zu wecken. Ich hasse Abschiede, wirklich, ich hasse sie.



Es war toll hier in Hamburg, wir wurden wunderbar aufgenommen und haben eine Menge Spaß gehabt. Fast alle, mit denen wir hier zu tun hatten, zeigten, dass die Stereotypen so gar nicht zutreffen wollen und irgendwie ist mir Deutschland weit weniger fremd, als ich es mir hätte vorstellen wollen. Und dazu auch noch gutes Fleisch, leckere Empanadas, freundliche Menschen, sehenswerte Häuser. Irgendwie ist bis dato noch kein Heimweh aufgekommen und würde hier ab und zu mal die Sonne scheinen, wäre Hamburg gar nicht so weit weg von Buenos Aires.

Text + Fotos: Andreas Dauerer

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