caiman.de 07/2006

[kol_3] Grenzfall: Kataloniens Leinwände zur WM 2006

Vor Flugbuchung das Kleingedruckte lesen:
Katalonien ist wahrscheinlich der letzte Ort auf dieser Welt, der bis auf wenige von Ausländern geführte Lokalitäten völlig WM frei ist.

La Sexta, der öffentliche spanische Sender, der landesweit die Haushalte erreicht, hat sich für die Dauer der WM in Deutschland gänzlich dem Fußball verpflichtet. Pro Spiel kommentieren drei Journalisten und so wird auch das verhaltenste Spiel zur spannenden Unterhaltung: Nach jedem Abspiel erfolgt umgehend die Nennung des angespielten Spielers, Kurzpassspiele werden von Tiqui-Taqui, Tiqui-Taqui, Tiqui-Taqui Rufen begleitet, Gesangseinlagen zum besten gegeben - beliebt ist etwa "canta y no llores" (singe statt zu weinen) - und bisweilen werden Kommentare abgegeben, die unter die Gürtellinie gehen: sie suchen ein Loch, sie suchen ein Loch, sucht denn nicht jeder sein Loch.

Und dann erfolgte der erste Auftritt der spanischen Nationalmannschaft, die obwohl die spanische Liga zu den besten der Welt zählt, bei internationalen Turnieren fast immer so herrlich enttäuschte. Mit dem überragenden Sieg gegen die Ukraine aber brach für Spanien eine neue Zeitrechnung an und die Kommentatoren überschlugen sich mit euphorischen Bekenntnissen: Von diesem Tag wirst du deinen Kindern erzählen und deinen Enkelkindern oder Heute Nacht werde ich vor Erregung kein Auge schließen. Und mit ihnen feierten ausgelassene Fans in ganz Spanien, so vermittelten es die Fernsehbilder. Und ich saß zuhause und ärgerte mich, nicht mit der Kamera im Anschlag durch Barcelona zu ziehen.



Das leinwandfreie Dorf
Alle zwei Wochen von Juni bis September kam noch bis vor wenigen Jahren der Filmvorführer in das nur fünf Kilometer von der katalanischen Stadt Figueres entfernt liegende kleine bezaubernde Dorf, sperrte die Zufahrtsstraßen zum Dorfplatz, spannte eine gewaltige Leinwand auf, stellte Stühle bereit und warf die Vorführmaschine an. Nicht dass ich ernsthaft hoffte, dass die Leinwand zur Weltmeisterschaft zumindest zu den Spanienspielen reanimiert werden würde, aber von einen Rundgang vorbei am Bürgermeisteramt, dem Gemüseladen und dem Wunderheiler versprach ich mir doch einen halb öffentlichen fußballbegeisterten Ort zu finden. Das Amt war geschlossen, der Gemüsefrau war nicht bekannt, dass Spanien gerade spielt (ich möchte ihr sogar unterstellen, dass sie nicht einmal wusste, dass Spanien an der WM teilnimmt bzw. das überhaupt eine WM stattfindet), und eine Fernsehgemeinschaft existierte auch nicht. Noch nicht einmal in den beiden Kneipen des Dorfes.



Die leinwandfreie Kleinstadt
Am nächsten Tag schwang ich mich aufs Rad, um mich in das fußballtolle Figueres, der Stadt, die ihr Image allein auf den Surrealisten Salvador Dalí stützt, zu stürzen. Das Surreale ist, wie nicht anders zu erwarten, denn auch überall präsent, strahlt von Plakaten, prangert auf Hinweisschildern und ist Thema der Auslagen in den Bäckerläden: schräg geflochtenes Dalí-Brot. Mir aber erschien wesentlich surrealer, keinem einzigen Fußballfan zu begegnen und kein Geschrei aus den Kneipen zu vernehmen. Nachdem ich vier Kneipen betreten hatte und über die Fernsehschirme die Bilder von Bingo oder Nachrichten flackern sah, suchte ich das Monterey auf, dessen Wirt aus Andalusien stammt und eine hohe Fußballaffinität aufweist. Leider aber traf ich auf seine Frau Serafina, die José meist in den Stunden der heiligen Siesta vertritt. Serafina saß hinter dem Tresen versteckt und fieberte mit: zu meinem Leidwesen mit den Stars ihrer Telenovela.



Die leinwandfreie Großstadt
Puyol Fußballgott, Xavi Fußballgott, Fàbregas Fußballgott
Drei der großen spanischen Spieler sind Katalanen, allen voran el tiburón Puyol, der bissige Hai, der Abräumer. Wenn also eine große Anzahl von Katalanen, die zu den Ligaspielen von einem Barça-Rausch in den nächsten fallen, schon keine Begeisterung für das spanische Team hegt, so doch zumindest für ihre drei Stars, wollte ich annehmen. Um den WM-Aktionismus Barcelonas zu testen, begab ich mich zum Spiel Costa Rica - Ecuador in die Landeshauptstadt, deren Straßenbild durch einen hohen Anteil an Lateinamerikanern geprägt ist. Kaum am Plaza Catalunya angekommen, wandte ich mich an eine der zahlreichen Hostessen des katalanischen Tourismusverbandes: "Fußball?! Es gibt unzählige Ort in der Stadt, die Fußball zeigen. Eine Leinwand?! Nein! Wozu? Es gibt doch diverse Kneipen, die die Spiele der WM zeigen." Ich war fassungslos, aber immer noch ein wenig zuversichtlich, rückten doch die ersten Fans in mein Blickfeld: zwei Engländer und ein verirrter Deutscher. Das waren dann aber auch alle für die nächsten drei Stunden.

Natürlich habe ich Kneipen gefunden, die mitunter sogar die Spiele per Beamer übertrugen: allen voran einen Irish Pub und eine asiatisch geführte Lokalität, die San Miguel in Maßkrügen ausschenkt.

Das Aus - Nachtrag
Als hätten die Katalanen es von vornherein geahnt: Das Aus! Jeder spanischen Nationalmannschaft winkt spätestens im Achtelfinale das Aus. Und während sich nun im ganzen Land die Verantwortlichen Gedanken machen, ob die Leinwände bestehen bleiben sollen, hat in Katalonien der WM-frei Alltag einfach Fortbestand.

Text + Fotos: Dirk Klaiber