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[art_2] Brasilien: Ballhunger
Fußball und Kino in Brasilien

Inmitten all des Trubels, die eine WM nun einmal im "Land des Fußballs" so mit sich bringt, findet Luiz Zanin Oricchio Zeit, geduldig Widmungen zu schreiben. Strategisch günstig hat er die Veröffentlichung seines Buches "Fome de Bola - Cinema e Futebol no Brasil" (Ballhunger - Kino und Fußball in Brasilien") platziert. Genau einen Tag, bevor Weltmeister Brasilien ins Geschehen im fernen Deutschland eingreift.

"Fußball und Kino sind seit Kindeszeiten meine großen Leidenschaften", sagt der Kultur- und Sportredakteur der Tageszeitung "Estado de São Paulo". "Seit vielen Jahren schreibe ich über Kino, und ebenso über Fußball. Warum also nicht beides zusammen bringen. So hatte ich wenigstens ne Menge Spaß."

Auf 500 Seiten beschreibt Luiz Zanin Oricchio die parallele Entwicklung der Geschichte des brasilianischen Fußballs und Films. Fast gleichzeitig sind beide am Zuckerhut eingetroffen. Der Fußball 1894, als ein gewisser Charles Miller, Brasilianer aus São Paulo mit englischer Abstammung, von einer Reise in das Land seiner Vorfahren zurückkam. Im Gepäck zwei Fußbälle, einen Stapel Trikots und ein Handbuch mit den wichtigsten Regeln. Nur zwei Jahre später, 1896, wurde in der Rua do Ouvidor in Rio de Janeiro der erste Prototyp einer Filmkamera den staunenden Passanten präsentiert. Seitdem haben die Brasilianer, genau wie Luiz, zwei große Leidenschaften: Filme gucken und kicken.

Doch passt denn beides auch zusammen? "Ich wollte einfach einmal untersuchen, welche Rolle der Fußball im brasilianischen Kino spielt. Mein Eindruck war der, dass sich das Kino nicht besonders um den Fußball gekümmert hat.

Dabei ist doch der Fußball die große Leidenschaft der Brasilianer. Wieso hat man ihn trotzdem so vernachlässigt?" Aus dieser Anfangsfrage erwuchs eine ausgedehnte Grabungstätigkeit.

Zu seinem Erstaunen fand er etwa 320 Filme, die sich um den Ball drehen. "Und ich bin mir sicher, dass es noch viel mehr gibt. Mit der Zeit werden sie wieder aus der Versenkung auftauchen ... Die ersten bewegten Bilder über Fußball in Brasilien datieren auf das Jahr 1907 oder 1908. Spiele wurden gefilmt, der Fußball wurde als gesellschaftliches Ereignis dargestellt. Und der erste Spielfilm wurde bereits 1931 gedreht. Also in den Anfangszeiten des Tonfilms."

Mit dem Aufstieg Brasiliens zur Fußball-Weltmacht Ende der 50er Jahre mehrten sich die Filme über die "Craques" der Seleção wie "O Rei Pelé" aus dem Jahre 1963, "Tostão, a Fera de Ouro" von 1970, "Pelé” (1970), "Isto é Pelé” (1974) und "Mané Garrincha” (1978). Aber auch tragische Helden wie "Barbosa” (1988), Brasiliens Torwart bei der WM 1950, kommen zu Wort. Ihm lastete man zeitlebens die 1:2 Niederlage gegen Uruguay im heimischen Maracanã-Stadion an. In Zukunft, so glaubt Luiz Zanin, wird es eher mehr Filme über Fußball geben.

"Die Tendenz geht dahin, dass der Fußball immer mehr Raum im brasilianischen Film einnimmt. Obwohl es ein großes Problem mit Fußballfilmen gibt: sie sind keine großen Kassenknüller. Und das nicht nur in Brasilien. In Europa ist es ähnlich."

Ein Beispiel dafür ist der Dokumentarfilm "Pelé Eterno" von Anibal Massaini. Mit großem Werbeaufwand 2004 in die brasilianischen Kinos gebracht, wollten gerade einmal 200.000 Besucher den größten Fußballer aller Zeiten auf der Leinwand kicken sehen. Symptomatisch für den Rohrkrepierer "Fußballfilm".

"Der Produzent Luiz Carlos Barreto hat mir das einmal so erklärt: Er versuchte, den Film "Garrincha - Alegria do Povo" (1962) ins Ausland zu verkaufen. Ein englischer Freund, dem er den Film verkaufen wollte, sagte ihm: Der typische Fußballfan arbeitet den ganzen Tag, kommt abends nach Hause, wo ihn seine Frau erwartet. Sie setzt ihm das Essen vor, und er macht das Radio an, um Fußballkommentare zu hören. Am Wochenende geht er ins Stadion, und danach geht er mit Freunden in den Pub, um Bier zu trinken und über das Spiel zu diskutieren."

"Alles, was sich die Frau im Leben wünscht, ist nichts über Fußball hören zu müssen. Denn Fußball ist ein Thema, das sie und ihren Ehemann trennt. Wenn der Ehemann sie dann mal ins Kino einlädt, will sie irgendetwas sehen, bloß keinen Film über Fußball. Und wenn ein Pärchen ins Kino geht, ist es normalerweise die Frau, die den Film aussucht."

Aber es scheint Hoffnung für die Männer und die Produzenten von Fußballfilmen zu geben, meint Luiz: "Mir ist aufgefallen, dass sich immer mehr Frauen für Fußball interessieren. Sie gehen ins Stadion, und wissen sogar was Abseits ist." Er kommt ins Stocken, grübelt kurz.

"Okay, sagen wir mal einige von ihnen wissen es. Oder sie kennen zumindest den Unterschied zwischen einem Einwurf und einer Ecke." Aber nicht nur in den Stadien scheint sich frauentechnisch etwas zu bewegen. Auch hinter den Kameras ist ein Umschwenken erkennbar.

"Es gibt eine Reihe von Regisseurinnen, die Filme über Fußball machen. Wie Leila Hipólito mit "Decisão" (1998). Oder "Berlinball" von Anna Azevedo über Marcelinho, der bei Hertha BSC Berlin spielt. Der Film wurde dieses Jahr in Berlin ausgezeichnet. Frauen, Fußball und Kino - das könnte zukünftig eine ganz neue Chance für den Fußball sein."

Und in bester Beckenbauermanier fügt Luiz lächelnd hinzu: "Schaun wir mal."

Text + Fotos: Thomas Milz

Luiz Zanin Oricchio, "Fome de Bola - Cinema e Futebol no Brasil”, 488 Seiten, Inklusive Photos und Interviews mit João Moreira Salles, Pelé, Anibal Massaini und Luiz Carlos Barreto, u. a.
Verlag Imprensa Oficial SP
ISBN 85-7060-453-X