caiman.de 07/2005


[kol_1] Grenzfall: Hitler und das gegrillte Rind

"Warum trinkt Ihr Deutschen eigentlich immer nur warmes Bier?" In meinem Glas schwimmen kleine Eisstückchen. Nach Stunden im Eisfach grenzt es an ein Wunder, dass die Glasflasche nicht einfach explodiert ist. Dafür hat sich das Bier sofort nach dem Öffnen in Eis verwandelt. Geduldig warte ich darauf, dass es eine einigermaßen trinkbare Temperatur annimmt. Und das dauert.



Währenddessen brutzeln gewaltige Fleischstücke über dem Grillfeuer vor sich hin. Wenn das Fett hinunter tropft, schießt eine grelle Stichflamme durch das Gitterrost. "Hast Du keinen Hunger mehr, oder was? Du musst doch essen!" Und schon liegt ein neuer Fleischlappen auf meinem Teller. "Und trink Dein Bier, bevor es warm wird!", fordert mich mein Gastgeber auf. "Und Du, Hitler, verschwindest endlich!", brüllt er dem kleinen Vierbeiner zu, der mich mit großen traurigen Augen um ein Stück Fleisch anbettelt.

Hier ist Fleischland! Das wurde schon auf der Hinfahrt klar. Viehweiden soweit das Auge reicht. Wo einst dichter Urwald die Ebenen überzog, herrscht heute das Rind. Die Gegend um Araçatuba weist die höchste Dichte von Flugzeugen pro Einwohner auf. Damit überfliegen die Viehbarone ihre riesigen Besitztümer. Oder sie düsen zum Shoppen nach São Paulo. Mit dem Flugzeug unterwegs zu sein ist so selbstverständlich wie das Fortbewegen mit dem Auto. Das sagt zumindest die Frau auf dem Beifahrersitz. Und die muss es wissen. Immerhin ist sie hier im Hinterland von São Paulo aufgewachsen.

So ein Flugzeug scheint man aber auch wirklich zu brauchen.

Vor uns klafft ein riesiges Loch in der Straße, wo früher einmal eine Brücke war. Die ist jedoch dem letzten etwas heftigerem Regen zum Opfer gefallen. Und so recken und strecken sich ihre ungestümen Betonplatten gen Himmel.

Es war diese Gegend, die São Paulo vor 130 Jahren über Nacht reich machte. Damals sprossen Kaffeebäume aus der rotbraunen Erde; von hier stammten einst 90% der globalen Kaffeeproduktion. Vereinzelt sieht man noch ein paar Sträucher, doch längst ist der Kaffee nördlich nach Minas Gerais und südlich nach Paraná weitergezogen. Hier macht man jetzt das große Geld mit Rindviechern. Herdengröße gibt man in Zehntausenden an, ein Kilo bestes Fleisch kann man direkt in den Schlachtfabriken für 8,50 Reais kaufen. Im 500 Kilometer entfernten São Paulo muss man dafür 28,50 Reais hinlegen.

"Für morgen sind wir auf drei Churrascos eingeladen. Sei vorbereitet!" Am Straßenrand tauchen kleine Holzhütten auf. "Die richtig teuren Rinder haben ihre eigenen Hütten. Wenn man eine Million Reais und mehr wert ist, kann man doch erwarten, eine eigene Hütte zum Schlafen zu haben, oder?"

"Vor ein paar Monaten gab es hier das teuerste Churrasco der Geschichte: 1,6 Millionen Reais! Ein Stromkabel ist gerissen und auf ein 1,3 Millionen teures Rind gefallen. Dann ist noch ein anderes Rind dazugekommen, hat das unter Strom stehende Rind berührt und ist direkt mitgebraten worden. Zum Glück war das zweite Rindvieh nur 300,000 Reais wert. Doch auch so war es das teuerste Churrasco der Welt."

Und dann der erste Abend in der Stadt. "Ich will die Prinzessin der Stadt küssen!" Eine unüberlegt und leichtfertig ausgesprochene Ansage! Dieses Wochenende ist großes Stadtfest angesagt. Im Mittelpunkt steht das traditionelle Rodeo.

Mit Cowboyhut und engen Lederhosen versuchen sich die Jungs von den Fazendas im Bullenreiten. Vor der Arena gibt es Churros, frittierte längliche Waffeln mit süßer Füllung und Caipirinhas im Halbliterplastikbecher. Natürlich ohne Eis. "Dann passt mehr rein!"

Aus den übersteuerten Lautsprechern quillt deftigste Cowboymusik, die von Frauen mit Gitarrenkörpern erzählt. Was auch immer das bedeuten mag. "Alle Männer schreien jetzt bitte mal!", fordert der Mann mit dem Mikrofon und den engen Lederhosen das Publikum auf. "Und jetzt alle Schwulen!" Das Publikum tobt vor Lachen. So ein Halbliterbecher voll Caipirinha ohne Eis ist mehr als man denkt. Ein dumpfes Summen überzieht meine Ohren.

Vor mir steht ein dickes, blond gefärbtes Mädchen mit perlenbesetztem Cowboyhut und Fransenrock. "Das ist die Stadtprinzessin. Küss sie oder geh Bier holen!" Die Wahl fällt nicht schwer. Die Hersteller haben sich nicht lumpen lassen und extra Rodeobier auf den Markt gebracht. Schmeckt aber genau so wie immer. Nur der Cowboy auf der Dose ist da sonst nicht drauf.

"Hast Du schon von dem teuersten Churrasco der Geschichte gehört? Vor ein paar Monaten ist hier ein Rind von einem Stromkabel getötet worden. 3 Millionen auf einen Schlag weg", sagt die kettenrauchende 45-jährige Bekannte meiner Begleiterin. "Sie mag Dich!", flüstert mir diese ins Ohr. Die Welt ist wirklich voller eigenartiger Zufälle.

An den Rest des Abends habe ich nicht mehr viele Erinnerungen. Gegen morgen haben mich die Cousinen meiner Begleiterin in der Nähe des Busbahnhofes aufgesammelt. Wohin ich wollte, kann ich nicht mehr genau sagen. Am nächsten Nachmittag sah ich mich dann heftigsten Beschuldigungen ausgesetzt, obwohl es Monet, der kastrierte Hund meiner Gastgeberin war, der auf die Hausschluffen seines Herrchens gepinkelt hat und nicht der Caipirinha trinkende Gast aus Deutschland.

"Keine Caipirinhas!", hatte ich mir für den heutigen Abend vorgenommen. Und so erholt man sich bei Fleisch und Bier.

Das ist mittlerweile so weit aufgetaut, dass es genießbar ist. Mein Gastgeber entreißt mir meinen Teller und feuert die darauf befindlichen mindestens 300 Gramm leckerstes Fleisch mit einem Schwung über die Mauer auf das Grundstück des Nachbarn.

"Es ist nicht gut, kaltes Fleisch zu essen. Besonders, wenn wir noch frisches auf dem Grill haben." Mit einem Riesenmesser zerteilt er einen weiteren Lappen Fleisch. "Warum hast Du es nicht wenigstens dem armen Hund gegeben?", werfe ich mit einem Blick auf die kleine Gestalt mit den Kulleraugen zu meinen Füßen ein.

"Hitler muss lernen, dass man am Tisch nicht betteln darf." Und mit drohend erhobener Hand brüllt er den kleinen Hund an. "Ab in Deine Ecke, Hitler. Aber zack-zack!" In der einen Hand hält er eine neue tiefgefrorene Flasche Bier. Mit der anderen ergreift er mein Glas und schüttet das endlich perfekt temperierte Bier auf den Boden. "Du hast es schon wieder warm werden lassen! Aber mach Dir keine Sorgen, ich hab noch genug im Eisfach."

Während ich die Eisbröckchen in meinem Glas beobachte, stochert unser Gastgeber in einem riesigen Stück Grillfleisch herum. "Vor ein paar Monaten gab es hier das teuerste Churrasco der Geschichte. 60 Millionen Reais auf einen Schlag weg! War in allen Schlagzeilen Brasiliens."

Ich frage mich, warum die Leute hier ihr Bier mit und die Caipirinhas ohne Eis trinken. Hitler liegt in seiner Ecke und döst vor sich hin. Woran er wohl gerade denkt?



Text + Fotos: Thomas Milz