brasilien: Lulas Regierung verliert ihr Hirn
José Dirceu tritt zurück
THOMAS MILZ
[art. 1]
peru: Organisierte Jungunternehmer mit Bauchladen
KATHARINA NICKOLEIT
[art. 2]
spanien: Jaén – die vergessene Stadt Andalusiens
BERTHOLD VOLBERG
[art. 3]
mexiko: La marcha mundial de las mujeres
TINA WILLENBORG
[art. 4]
grenzfall: Hitler und das gegrillte Rind
THOMAS MILZ
[kol. 1]
amor: Nicht für Geld im Ausland kicken
Leben und spielen im schönsten Land der Welt
DIRK KLAIBER
[kol. 2]
lauschrausch: Grüne Kartoffeln / Funky Barcelona
TORSTEN EßER
[kol. 3]
macht laune: Nachtmusik
NICO CZAJA
[kol. 4]





[art_1] Brasilien: Lulas Regierung verliert ihr Hirn - José Dirceu tritt zurück

Das ganze erinnert an Opposition. Im Präsidentschaftswahlkampf 2002 erschallte die Hymne auf allen Straßen und Plätzen, und wer unter den zwei Millionen Menschen war, die in der Wahlnacht dem soeben zum Präsidenten gewählten Luiz Inácio Lula da Silva auf der Avenida Paulista zujubelten, dem wird sofort ein Schauer über den Rücken laufen. "Ihr müsst es nur wollen, und schon wird es Realität: Jetzt ist Lula!"

Auszüge aus der Originalrede von Dirceu und Foto-Film
Flash-Datei (400 kb)

In Endlosschleife erschallt das Lied fast drei Jahre später in der Casa Portugal in São Paulos Stadtviertel Liberdade. Es soll die 1500 militanten Anhänger von Lulas Arbeiterpartei PT in diesen schweren Tagen in Schwung bringen. Gespannt warten alle auf den Auftritt von José Dirceu.

Bis vor etwa 24 Stunden war Dirceu noch Chef von Lulas Präsidialamt und der einflussreichste Politiker in Brasília. Der große Strippenzieher im Hintergrund, diskreter Steuermann des Regierungsschiffes.

Jetzt ist er das erste prominente Opfer des Korruptionsskandals, der seine Partei tief erschüttert und auf die Regierung überzugreifen droht. Ob ihm zudem ebenfalls die Rolle des Täters zukommt, untersuchen gerade mehrere parlamentarische Untersuchungsausschüsse gleichzeitig. So soll die PT unter Dirceus Anleitung Abgeordneten befreundeter Parteien monatliche Schmiergelder gezahlt haben, damit diese im Parlament der Politik der Regierung zustimmen.

"Mensalão", etwa "fettes Monatssalär", nennt man die monatlichen Zahlungen von angeblich 30,000 Reais (über 10,000 Euros) und mehr, die von PT Schatzmeister Delúbio Soares ausgezahlt worden sein sollen.

Wenn es eine lebende Legende der politischen Linken in Brasilien gibt, dann ist es Dirceu. Seine Biografie liest sich wie ein äußerst spannender Roman und hat bereits als Vorlage für einen Kinofilm gedient. Ende der 60er Jahre wurde der radikale Studentenführer von der Militärdiktatur ins Gefängnis geworfen. Daraufhin entführten linke Guerillakämpfer den amerikanischen Botschafter in Brasilien und erpressten Dirceus Freilassung.

Dieser tauchte nach Kuba ab, wo er sich einer Gesichtsoperation unterzog. Aus dieser Zeit stammen Dirceus gute Kontakte zu Fidel Castro. Und so war er in den vergangenen 30 Monaten der Regierung Lula die Brücke zwischen der Karibikinsel und Brasília.

Und auch zu Hugo Chávez werden ihm beste Verbindungen nachgesagt. Ging es in den letzten Jahren darum, Positionen mit der venezolanischen oder kubanischen Regierung abzuklären, so setzte sich Dirceu ins Flugzeug.

Ende der 70er kehrte Dirceu heimlich nach Brasilien zurück und lebte lange als biederer Geschäftsmann getarnt eine kleinbürgerliche Existenz. Nach dem Ende der Militärdiktatur organisierte er alle vier Präsidentschaftswahlkämpfe seines Weggefährten Lula. "Lula ist das Herz der PT, ich bin das Hirn", pflegte der ehemalige PT-Parteichef stets zu sagen. Jetzt warten in der aufgeheizten Halle alle ungeduldig darauf, was das Hirn ihnen zu sagen hat.

Parteichef José Genoino bläst dem Publikum kämpferische Salven entgegen, heizt die Stimmung immer weiter auf. "Wir sind hier um zu zeigen, dass die PT den Kampf annimmt!"

Parteichef Genoino

Doch zuerst erklimmen die wichtigsten Minister und Abgeordneten der PT die Bühne, manche frenetisch gefeiert wie São Paulos ehemalige Bürgermeisterin Marta Suplicy. Bei anderen mischen sich Buhrufe unter den Applaus. Besonders Finanzminister Antonio Palocci bekommt den Unmut der Anhänger zu spüren; ist es doch seine konservative Wirtschaftspolitik, die nirgendwo in Brasilien so heftig kritisiert wird wie in den eigenen Reihen.

Am Eingang zu der Veranstaltung verteilen Anhänger eines linken PT-Flügels Erklärungen, in denen sie das Ende der neoliberalen Politik von Lula und Palocci fordern.

Parteichef Genoino

Und so fehlt auf der Veranstaltung dann eigentlich einer ganz besonders: Präsident Lula. Der war auch 24 Stunden vorher nicht mit von der Partie, als der in feinsten Zwirn gehüllte Dirceu im Kreise der Parteifreunde seinen Rücktritt bekannt gab.

Im Rudel verließen die PT Politiker nach der kurzen aber brillanten Rücktrittsrede Brasília, um an der Seite ihres Leitwolfs Dirceu der angeschlagenen Partei mit der Veranstaltung in São Paulo neuen Kampfesmut einzuhauchen.

Finanzminister Palocci links außen und Dirceu rechts außen

"Die PT und die Demokratie verteidigen" lautet der Slogan der Veranstaltung. In erregten Diskursen denunzieren die zahlreichen Redner Verschwörungen des Establishments gegen die PT und die Regierung, warnen vor dem Versuch der korrupten Eliten, der profitgierigen Bankiers, den Mann aus dem Volk aus dem Präsidentenpalast zu vertreiben.

Sie rufen nach Kampf, fordern zum Rückschlagen auf, bitten um Mobilisierung der Straße und sprechen der Opposition das Recht ab, der PT Korruption vorzuwerfen. "Die letzte Regierung war dermaßen korrupt, woher nehmen sie jetzt das Recht, über uns zu richten?"

Währenddessen versucht Präsident Lula im weit entfernten Brasília den in seiner Partei wütenden politischen Tsunami von der Regierung fern zu halten. Vorbei die Zeiten, in denen Lula den roten PT-Stern in Blumenform im Garten des Präsidentenpalastes pflanzen ließ.

"Wir werden ins eigene Fleisch schneiden, wenn es nötig sein sollte", hat er erst einige Tage zuvor verkündet; anlässlich der Eröffnung eines internationalen Anti-Korruptionskongresses ausgerechnet in Brasília.

Wem er den chirurgischen Eingriff mit jenen Worten androhte, kann nur vermutet werden. Neben Dirceu ist PT Schatzmeister Soares der Hauptbeschuldigte. Hartnäckig hält ihm die Parteiführung um PT Präsident José Genoino die Treue, während seine Frau ihm unlängst auf einer Pressekonferenz Spickzettel zusteckte, um sich den bohrenden Fragen der Reporter zu erwehren. "Die PT verkauft sich nicht und ergibt sich auch nicht", stammelte der nervöse Soares in die Mikrofone.

Jetzt kommt Soares auf die Bühne. Als einziger der Anwesenden wird er nicht angekündigt. Vielleicht hatten die Organisatoren Angst vor Buhrufen. Wenn dem so sein sollte, waren die Sorgen unbegründet. In Siegerpose begrüßt Soares die PT Anhänger.

Schatzmeister Soares

Doch nichts ist vergleichbar mit den Jubelszenen, die aufbranden, als der in Jeans und Lederjacke gekleidete Dirceu auftritt. Parteichef Genoino greift dessen Hand, reckt sie in den Himmel und die Menge stimmt Sprechgesänge zugunsten Dirceus an.

Doch sobald Dirceu ans Rednerpult tritt, legt sich eine unheimliche Stille über den Saal. Gespannt lauschen sie seinen Worten, die denen seiner gestrigen Abschiedsrede ähneln.

Dirceu und Genoino

Er spricht davon, dass er mit sauberen Händen und erhobenen Hauptes seinen Posten verlassen habe. Dass er den Ministersessel gegen seinen Abgeordnetensitz getauscht habe, um die PT im Kongress gegen die falschen Anschuldigungen besser verteidigen zu können.

Dann wird er kämpferischer. Er listet all das auf, was die Regierung in den letzten zweieinhalb Jahren geleistet habe, und jedes Mal fragt er die Menge, wem sie das zu verdanken habe. "Luuulaaa" schallt es zurück. "Sie wollen Kampf, und sie werden Kampf bekommen!"

Die Menge tobt. Und auf der Bühnen fallen die PT-Größen Dirceu um den Hals.

Die Partei hat einen neuen Helden. "José Dirceu ist mein Freund! Wer sich mit ihm anlegt, der legt sich auch mit mir an!", skandiert die Menge.

Und nur wenige Tage später erschallen die Rufe wieder, diesmal aus den 200 Kehlen der militanten PT Anhänger auf den Zuschauertribünen des Kongresses, während der wieder in feinen Zwirn gehüllte Dirceu seinen ersten Diskurs als Abgeordneter hält.

Lulas Wahlkampfhymne von 2002 scheint längst vergessen. Die Zeiten werden härter. Jetzt ist Krieg. Jetzt ist Dirceu!

Text + Fotos: Thomas Milz

Hier die Höhepunkte von Dirceus Rücktrittsrede im Wortlaut:

Deutsch:
Ich glaube, dass ich im Kongress ab nächster Woche dem Land, der öffentlichen Meinung, all das erklären kann, was zur Zeit in der Gesellschaft debattiert wird. Sowohl was die tiefgreifenden ökonomischen Transformationen, die sozialen und politischen, die wir unter der Führung von Präsident Lula gerade durchführen, wie auch die unbegründeten Anschuldigungen gegen meine Person, meine Partei und meine Regierung betrifft.

Ich werde die PT mobilisieren, um alle die zu bekämpfen, die den politisch-demokratischen Prozess unterbrechen wollen, und die versuchen, die Regierung Lula zu destabilisieren.

Alle hier wissen, dass ich immer davon geträumt habe, Brasilien an der Seite von Präsident Lula zu regieren, und ich werde weiterhin Brasilien mitregieren, als Abgeordneter und als einer der Führer der PT. Ich betrachte mich nicht als außerhalb der Regierung, ich fühle mich als integrierter Teil der Regierung. Die Regierung Lula ist meine Leidenschaft, ist mein Leben, und ich lasse mit diesem Abschied einen Teil meines Herzens zurück, alle wissen das. Aber ich lasse nicht meine Seele zurück, sie zieht mit mir in den Kampf. Ich weiß zu kämpfen in der Ebene wie auf der Hochebene*, und ich habe die Demut als Militanter in meine Partei und in den Kongress als Abgeordneter zurückzukehren.

Ich schäme mich für nichts, was ich in der Regierung Lula gemacht habe. Ich habe saubere Hände, das Herz ohne Bitterkeit und den Geist auf das gerichtet, für das ich immer gekämpft habe: für Brasilien.

*Brasilia wird allgemein als Planalto bezeichnet, da es auf einer Hochebene liegt, und der Palácio do Planalto ist Lulas Präsidentenpalast.

Auszüge aus der Originalrede von Dirceu und Foto-Film
Flash-Datei (400 kb)

Portugiesisch:
Acredito que, na Câmara, a partir da semana que vem, eu vou poder esclarecer ao país, à opinião pública, os temas que hoje estão em debate na sociedade, tanto com relação às profundas transformações econômicas, sociais e políticas que estamos fazendo sob a liderança do presidente Lula, como das denúncias infundadas contra a minha pessoa, o meu partido e o meu governo.

Vou mobilizar o PT para dar o combate àqueles que querem interromper o processo político democrático, e querem desestabilizar o governo do presidente Lula.

Todos aqui sabem que eu sempre sonhei em governar o Brasil ao lado do presidente Lula, e vou continuar governando o Brasil como deputado e como dirigente do PT. Não me considero fora do governo, me considero parte integrante do governo. O governo do presidente Lula é a minha paixão, é a minha vida e eu, ao sair, deixo aqui parte da minha alma, do meu coração, todos sabem. Mas não deixo a minha alma, ela vai comigo para a luta. Eu sei lutar na planície e no Planalto, e tenho humildade para voltar para meu partido como militante, para voltar para a Câmara como deputado.

Eu não me envergonho de nada que fiz no governo do presidente Lula. Tenho as mãos limpas, o coração sem amargura e tenho a mente sempre colocada naquilo por que sempre lutei, que é pelo Brasil.





[art_2] Peru: Organisierte Jungunternehmer mit Bauchladen

Angestrengt runzelt David die Stirn und rechnet seine Rate aus. Drei Euro und 75 Cent muss er umgerechnet zurück zahlen. Der elfjährige hat einen Kredit aufgenommen um sein eigenes Geschäft zu gründen. Er ist einer der unzähligen ambulantes, fliegende Händler, die in Lima an jeder Ampel und jeder Straßenecke Softdrinks, Bonbons oder Kekse verkaufen. David will mit selbstgemachtem Eis, marcianos, zu Deutsch Marsmenschen, sein Glück versuchen.

Um sein Darlehen von 40 Euro zu bekommen, musste David bei der Hilfsorganisation IFEJANT einen Geschäftsplan vorlegen: Geschäftsidee, Marktstudie, Kostenrechnung. Darüber beriet er sich mit Lady.

Sie ist 13, hat bereits sechs Jahre Erfahrung im Straßenverkauf und entscheidet über die Kreditvergabe als Juniorconsultant mit. Eis zu verkaufen schien ihr eine gute Idee – für den Sommer. Für die kühle Jahreszeit riet sie David zusätzlich Kekse in sein Sortiment aufzunehmen. Gemeinsam überlegten sie, an welcher Straßenecke es wenig Konkurrenz gibt, wo man am günstigsten kleine Plastiktüten bekommt, in die das Eis abgefüllt wird, und wie man es am besten präsentiert.

Kinderarbeit, das ist eine zweischneidige Sache. Am 12. Juni wird der internationale Tag gegen Kinderarbeit begangen, und im Westen ist man sich darüber einig, dass Kinder nicht arbeiten, sondern zur Schule gehen und spielen sollten. Doch die Realität sieht in den Entwicklungsländern anders aus. Ohne die Mithilfe der Kinder können viele Familien nicht überleben. "Einfach nur gegen Kinderarbeit zu sein, dass ist scheinheilig", sagt Elvira von IFEJANT.

"Wer etwas gegen Kinderarbeit tun will, der muss dafür sorgen, dass die Eltern so gut bezahlt werden, dass sie auf das Einkommen ihrer Töchter und Söhne nicht angewiesen sind", sagt Elvira Figueroa. "Und solange das nicht der Fall ist, können wir nur dafür sorgen, dass die Kinder unter möglichst guten Bedingungen arbeiten." Wichtig ist der von der Deutschen Kindernothilfe unterstützten Organisation deshalb vor allem, dass die Kinder ihr Geschäft durchschauen.

Einmal pro Woche werden sie deshalb zu Schulungen eingeladen. 12 Kinder haben sich in der Hütte aus Spanplatten und mit Wellblechdach eingefunden. Das ist weit und breit das beste Gebäude hier in Nuevo Sol Naciente, einem Slum im Norden Limas, wo die Behausungen meist aus Bastmatten und Plastikplanen bestehen, die sich die steinigen Wüstenhügel emporziehen. Draußen reißen Männer die Straße auf. Nicht etwa, um Wasserrohre zu verlegen, sondern um nach großen Steinen zu suchen, die man verkaufen könnte.

Heute schneidet Elvira ein besonders wichtiges Thema an: Wie behauptet man sich gegen die große Konkurrenz? "Preise senken", kommt es wie aus der Pistole geschossen. "Festen Kundenstamm aufbauen", sagt Milena. Sie verschenkt zu jeder Cola, die sie verkauft, ein Bonbon. David führt Strichlisten: Wer zehn marcianos gekauft hat, bekommt ein weiteres geschenkt. Wichtig auch: Lächeln und ein freundliches Auftreten, ordentliche Kleidung, saubere und hygienische Bauchläden.

Die Kinder haben sich in der "Bewegung der arbeitenden Kinder und Jugendlichen Perus", kurz NAT’s, organisiert. Lady leitet die Ortsgruppe "Siempre independientes – Immer unabhängig". "Wir treten für unser Recht auf Arbeit ein", erklärt die junge Präsidentin selbstbewusst. "Und wir verlangen, von unseren Eltern nicht ausgebeutet zu werden." Darunter versteht sie, nicht mehr als vier bis sechs Stunden pro Tag arbeiten zu müssen, damit genug Zeit für die Schule bleibt.

Lady ist sehr gespannt zu erfahren, was Kinder denn in Deutschland so arbeiten. Das Kinderarbeit in manchen Ländern verboten ist, findet sie ungeheuerlich. "Wie sollte ich denn dann meine Schulhefte bezahlen?", fragt sie. Ihr Geschäft läuft inzwischen gut, Gewinne investiert sie in ein besseres Sortiment und bald will sie anfangen, etwas zurück zu legen. Ob es reichen wird um zu studieren, um ihren Traumberuf Ärztin zu erlernen?

David hat einen Finanzplan aufgestellt. Sorgfältig sind die Kosten für das Geschäft kalkuliert: Tütchen, Säfte, Beitrag zur Stromrechnung des Nachbarn, in dessen Kühlschrank er seine marcianos einfriert. Auch seine Lebenshaltungskosten sind aufgeführt: Jeweils 80 Cent für Frühstück und Abendessen. Die Ausgaben für eine Hose, ein Hemd und Sandalen pro Jahr, umgelegt auf die Wochen. Schulsachen. Und die Extrawünsche: Kaugummi, Orangen, Cola. Und natürlich die Raten für den Kredit.

Bis vor einem Jahr wurde den Kindern ihr Startkapital geschenkt. Doch das hat sich nicht bewährt, schon deshalb, weil oft die Eltern das Geld einforderten um es in Bier umzusetzen. Gemeinsam mit den Kindern wurde entschieden, nur noch Darlehen zu vergeben. Die Rückzahlung klappt bislang reibungslos, vielleicht auch, weil die Kinder merken, dass man sie ernst nimmt, ihnen etwas zutraut. David jedenfalls präsentiert stolz das passend abgezählte Geld für seine erste Rückzahlung.


Zufrieden betrachtet er Elviras Unterschrift in seinem kleinen Kreditheft. "Wenn das so weiter läuft, dann hab ich irgendwann meinen eigenen Laden."

Text: Katharina Nickoleit
Fotos: Christian Nusch

Tipp: Katharina Nickoleit hat einen Reiseführer über Peru verfasst, den Ihr voraussichtlich ab dem 01.12.2009 im Reise Know-How Verlag erhaltet.

Titel: Peru Kompakt
Autoren: Katharina Nickoleit, Kai Ferreira-Schmidt
288 Farbseiten
4. überarbeitete und komplett aktualisierte Auflage
ISBN: 978-3-89662-336-2
Verlag: Reise Know-How





[art_3] Spanien: Jaén – die vergessene Stadt Andalusiens

Olivenhaine – soweit das Auge reicht. Oliven auf jedem Teller. Oliven in jeder möglichen Form und Konstellation. Wer keine Oliven mag, sollte Jaén, die andalusische Provinzhauptstadt im Zentrum des größten Olivenanbaugebiets der Welt, wohl eher meiden. Denn alles in der Provinz Jaén, wo 150 Millionen Olivenbäume ihr silbriggrünes Blattwerk der andalusischen Sonne entgegen recken, ist eine Hommage an die Olive. Überall in den Bars von Jaén bekommt man die kleinen, gesunden, aber kalorienreichen Früchtchen zu Wein oder Bier gratis dazu. Und nirgends schmecken sie so gut wie hier, nirgends findet man sie in so vielen Variationen: mariniert in tausend verschiedenen Soßen, mal würzig, oder sauer in Essig, mal in Zitrone, oder extrem knoblauchig, mal mild und fast süßlich.



An den Oliven hat es nicht gelegen, dass bei einer Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts von der renommierten spanischen Tageszeitung EL PAIS durchgeführten Untersuchung über Lebensqualität in spanischen Provinzhauptstädten Jaén den letzten Platz belegte. Provinziell, einsam und abgeschieden, abseits der großen Verkehrswege, kaum Freizeitangebote, extrem hohe Arbeitslosigkeit und niedriges Einkommen, Jugendflucht und Überalterung – dies waren einige der Kriterien, die zum harten Urteil über Jaén führten.

Inzwischen hat sich Vieles verändert. Neue Parks, Sport- und Spielplätze wurden während der letzten 15 Jahre angelegt, ein Jazzfestival im November und „Lagarto Rock“ , eine Serie von Rockkonzerten im Juni, mit der die Stadtväter die Jugend erfreuen wollen, bereichern den Kulturkalender.

Die nicht sehr zahlreichen Touristen, die den Weg in die inmitten des weiten Meers von Olivenhainen liegende Stadt finden, kommen jedoch wegen Sehenswertem aus längst vergangenen Epochen.

So bin auch ich zusammen mit meiner Freundin Amparo aus Sevilla, treue Begeleiterin auf meinen Reiserouten durch Andalusien, vor allem wegen der Renaissance-Bauwerke nach Jaén gekommen. Beginnen muss jede Stadterkundung beim Monument Nummer 1 und das ist in Jaén – wie in den meisten spanischen Städten – die im Verhältnis zur bescheidenen Stadtgröße überdimensionale Kathedrale.


Es handelt sich um einen monumentalen Renaissance-Tempel, 90 Meter lang, dabei aber extrem breit (über 60 Meter). Damit gehört die Kathedrale von Jaén zu den größeren in Spanien. Begonnen vom Architekten Andrés de Vandelvira im Jahre 1548, zog sich die Bauzeit bis etwa 1700. Den besten Blick auf den großen Baukomplex hat man vom Burghügel des Castillo de Santa Catalina. Von außen erzeugt der rechteckige Baukörper einen Eindruck klassischer Strenge und Klarheit.

Aufgelockert wird der gleichmäßige Renaissance-Rhythmus an der barockisierten Frontfassade, die zwischen 1667 und 1684 gestaltet wurde. Alle Skulpturen und Reliefs der Fassade sind von Pedro Roldán, dem virtuosen Sevillaner Barockbildhauer.

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Es ist sein größtes Werk außerhalb Sevillas und zugleich eine Ausnahme in seinem Gesamtwerk, da er hier in Stein gemeißelt hat während er in Sevilla fast nur Holzskulpturen anfertigte. Zwischen den Türmen bevölkern neun Monumentalskulpturen von Roldán das Obergeschoß der Fassade: die vier Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas und Johannes und die vier Kirchenväter Ambrosius, Augustinus, Hieronymus und Gregor.




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Im Zentrum thront mit Reichsapfel der heilige König Ferdinand III., Eroberer von Jaén und Sevilla. Im Untergeschoß, eingerahmt von korinthischen Säulen, ziehen die Statuen des Santiago und des Erzengels Michael die Aufmerksamkeit auf sich. Alle diese Werke Roldáns strahlen eine enorme Dynamik aus, besonders die Reliefs, die die Himmelfahrt Marias darstellen und die dramatische Szene des „Engelssturzes“: Erzengel Michael besiegt mit schwungvollem Schwertschlag Luzifer, der mit Monstergesicht und weit aufgerissenem Mund kopfüber in die Tiefe stürzt.

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Wenn man sich an der barocken Fassade, die mit ihren schönen Engeln und exquisiten Monstern wie ein Freiluft-Hochaltar wirkt, satt gesehen hat, betritt man die weite, dreischiffige Hallenkirche. Das Innere der Kathedrale wird dominiert von mächtigen korinthischen Bündelpfeilern, die Kuppeln und Gewölbe tragen. Beeindruckend ist die hohe Hauptkuppel, die frei in der Luft zu schweben scheint. Insgesamt gibt es 18 Kapellen an den Seiten und im Chorumgang. Uns gefallen am besten die Capilla de San Miguel, beherrscht von einem riesigen, ovalen Barockgemälde, das wiederum den Erzengel Michael darstellt. Und die Capilla de San Fernando, wo die populärste Christusskulptur von Jaén verehrt wird: Nuestro Padre Jesús Nazareno, den man überall in Jaén liebevoll respektlos „El Abuelo“ , Opa, nennt. Dem Abuelo zu Ehren wurde eine der größten religiösen Bruderschaften Spaniens gegründet, die heute über 7.000 Mitglieder hat. In der Karfreitagnacht hat beinahe jeder Bewohner von Jaén die gleiche Verabredung: „que me voy con el Abuelo.“ (Heut begleite ich den Opa). Mit diesen Worten schließen sie sich dem Paso der 400-jährigen Christusstatue auf dem Weg durch die Altstadt an.

Zum Abschluss der Kathedralenbesichtigung sollte man auf jeden Fall den Kapitelsaal und die Sakristei, ein Werk des Architekten Vandelvira, besuchen. Beide Baukomplexe gehören zu den reinsten Renaissance-Schöpfungen in Spanien. Empfehlenswert ist auch ein Blick in das Museum der Kathedrale. Es bietet eine Anzahl sakraler Kleinode aus Gold, Silber und Alabaster aus den Epochen der Renaissance und des Barock; zu den Höhepunkten zählen Skulpturen von Alonso Cano und Martínez Montañés.

Wem dies an Sakralkunst noch nicht reicht, der kann durch die Carrera de Jesús einige Schritte gen Westen gehen, bis er zum Convento de Santa Teresa kommt. Das Gebäude ist unscheinbar, aber in seinem Innern liegt einer der bedeutendsten Schätze religiöser Literatur verborgen: eines der beiden Original-Manuskripte des „Cántico“ vom großen Mystiker San Juan de la Cruz.

Oder man wendet sich Richtung Osten, zur Kirche San Ildefonso. Es ist die größte Kirche Jaéns und wie die Kathedrale vorwiegend im Renaissancestil erbaut. Ein Tempel mit mächtiger Doppelturmfassade und jonischen Säulen, die das Hauptportal einrahmen. Das Seitenportal ist in wunderbarem plateresken Stil gehalten und zeigt die Szene, in der die Jungfrau Maria dem heiligen Ildefonso das Meßgewand überreicht.


Im Innern übertrifft diese Kirche sogar die Kathedrale: die spektakulären barocken Hochaltäre sind von herausragender Qualität und reich geschmückt.

Nach soviel Kunst und Goldglanz ist es Zeit für ein ausgedehntes Mittagsmahl mit anschließender kurzer Siesta. Amparo schlägt vor, in die von einem Freund empfohlene Tapas-Bar „El Abuelo“ zu gehen. Eine gute Wahl. Wir beginnen dort mit dem erstaunlich guten Rotwein der Region und Pipirrana. Trotz des seltsamen Namens ist diese Vorspeise köstlich: es handelt sich um die lokale Variante von Salmorejo (dickflüssiges Gazpacho), die mit Schinken und hartgekochten Eiern serviert wird. Danach bestellt Amparo eine Ración Morcilla (Blutwurst). Diese ist gebraten, schmeckt köstlich und sehr orientalisch, da mit viel Zimt gewürzt. Aber es ist zuviel, und wir denken bereits an unser Dessert. Wer in Jaén Süßes kosten möchte, der sollte wie wir zum nahen Convento de las Bernardas gehen. Die Nonnen dieses Klausurklosters verkaufen dunkle Versuchungen: Brandy-Schokoladen-Trüffel. Diese selbstgemachten Pralinen von respektabler Größe, von denen eine einzige wahrscheinlich mehrere Tausend Kalorien hat, machen umgehend süchtig. Darüber hinaus haben die Bernardas viele arabisch inspirierte Knabbereien im Angebot.

Wie in allen andalusischen Städten, trifft man auch in Jaén auf Spuren der arabischen Vergangenheit. Wir stehen vor dem Palacio de Villadompardo (1592). Auf den ersten Blick gleicht er einem normalen Renaissance-Palast. Aber 1913 entedeckte man unter dem Palast die größten und am besten erhaltenen Arabischen Bäder Spaniens. Wir steigen hinab in die kühlen, düsteren Badehallen aus dem 11. Jahrhundert. Obwohl sie damals einen sehr profanen Zweck erfüllten, haben diese Räume heute in leerem Zustand eine beinahe sakrale Atmosphäre. Das Dämmerdunkel wird erhellt durch Tageslicht, das durch sternförmige Öffnungen in den Gewölben fällt, wobei einige dieser Sterne dunkel bleiben, da an diesen Stellen die Palastmauern direkt auf den Bädern stehen. Die meisten Palasträume beherbergen heute die Sammlungen des Museo Internacional de Arte Naif Manuel Moral. Dieses kuriose Museum ist das größte seiner Art in Spanien und besitzt eine der größten Sammlungen naiver Kunst weltweit. Es ist extrem unterhaltsam, denn in diesem Museum darf gelacht werden. Jedenfalls ist das angesichts von soviel (unfreiwilliger) Komik kaum zu vermeiden. Es gibt Bilderserien, die wie Comics aussehen, sehr bunt, bisweilen drollig. Dieses Museum ist für alle, die Kunst nicht ganz so ernst nehmen, ein echter Geheimtipp.

Nun wenden wir uns wieder monumentaler Kunst zu und bewundern La Magdalena, die älteste Kirche von Jaén. Ihr Glockenturm war ein ehemaliges Minarett und im Patio befindet sich noch das Wasserbecken, das den Moslems zur rituellen Waschung vor dem Betreten der Moschee diente. Die Kirche selbst ist leider geschlossen und wir wandern die steile Gasse der heiligen Ursula hinunter und kommen zum Hospital San Juan de Dios.


Heute dient der ehemals sakrale, weit verzweigte Gebäudekomplex als Konferenzzentrum. Der Konferenzsaal ist einzigartig: es ist die alte Klosterkirche. Hinter dem Rednerpodium befindet sich der Hochaltar, so dass Dutzende von Heiligen und Engeln auf die diskutierenden Konferenzteilnehmer herabblicken.

Am Ende unserer Entdeckungstour durch Jaén steigen wir in ein Taxi und fahren hinauf zum Castillo de Santa Catalina. Wir kommen gerade noch rechtzeitig zum Sonnenuntergang. Leider geht die Sonne nicht über der Kathedrale, sondern über der anderen Seite der Stadt unter. Wir gehen bis zum Gipfelkreuz am östlichen Ende des Burghügels und warten bis die Nacht hereinbricht. Da wird plötzlich die Kathedrale von Scheinwerfern in ein goldenes Licht getaucht. Wie ein Lichtkristall, ein strahlendes Märchenschloß, liegt sie dort vor uns in dunkler Tiefe. Jaén, die vergessene Stadt Andalusiens, ist doch einen Besuch wert.

Text + Fotos: Berthold Volberg

Tipps und Links:
Restaurants und Tapas-Bars
El Abuelo
C. Las Bernardas Nr. 14
Große Auswahl an typischen und originellen Tapas

Taberna El Gorrión
C. Arco del Consuelo
Nahe der Kathedrale, rustikales Ambiente in einem Haus aus dem 18. Jahrhundert, vor allem kalte Tapas-Spezialitäten und gute Rotweine der Region

Monumente – Öffnungszeiten:
Kathedrale: Eintritt frei, geöffnet Mo. – Sa. 8.30 – 13.00 und 16.00 – 19.00
Sonntags und an Feiertagen: 9.00 – 13.00 und 17.00 – 19.00
Museum der Kathedrale (einschließlich Sakristei und Kapitelsaal):
Eintritt: 3 Euro, geöffnet: 10.30 – 13.00 und 17.00 – 19.00
Mo. geschlossen

Palacio de Villadompardo: Arabische Bäder, Museum für Naive Kunst und
Museum für Volksbräuche:
Eintritt frei für alle EU-Bürger (Personalausweis!)
geöffnet: Di. – Fr. 9.00 – 20.00
Sa. / So. 9.30 – 14.30
Mo. geschlossen

Provinzmuseum (Museo Provincial)
Eintritt frei für alle EU-Bürger (Personalausweis!)
geöffnet: Di. 14.30 – 20.30; Mi. – Sa. 9.00 – 20.30
Mo. + So. geschlossen
Diese große Museum ist eine Mischung aus Archäologischem Museum und Museum der Schönen Künste. Hier findet man unter einem Dach iberische Keramik und Skulpturen aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. sowie Zeichnungen von Picasso und anderer Avantgarde-Künstler des 20. Jahrhunderts.






[art_4] Mexiko: La marcha mundial de las mujeres

UN MUNDO BASADO SOBRE LA IGUALDAD, LA LIBERTAD, LA SOLIDARIDAD Y LA PAZ
Ende April 2005 bewegte sich ein bunter Zug von Frauen von der guatemaltekischen Grenze nach San Cristóbal de las Casas im mexikanischen Bundesstaat Chiapas. Dem weltweiten Frauennetzwerk "Marcha Mundial de las Mujeres", das diese Aktion seit fünf Jahren plant und vorbereitet, gehören inzwischen 5.500 Frauengruppen aus 163 Ländern an. Es engagiert sich vornehmlich für die Verringerung der Armut und richtet sich gegen Gewalt gegen Frauen. Die globale Bewegung setzt sich aus Frauen unterschiedlichster ethnischer, kultureller oder religiöser Herkunft zusammen, junge Mädchen sind genauso engagiert wie alte Frauen – und viele von ihnen haben noch nie vorher ihre Stimme erhoben.

Bild 1:
La Manta de la Solidaridad Mundial soll den Inhalt der Charta in einem kreativen Prozess zum Ausdruck bringen.

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LA CARTA MUNDIAL DE LAS MUJERES PARA LA HUMANIDAD
Frauengruppen aus aller Welt hatten sich am 10. Dezember 2004 in Ruanda nach einem langen  Abstimmungsprozess auf die Carta Mundial de las Mujeres para la Humanidad (Charta der Frauen an die Menschheit) geeinigt. Sie enthält 31 Prinzipien zu den Themen Gleichheit, Solidarität, Gerechtigkeit und Frieden, die aus Sicht der Frauen für die Konstruktion einer Welt ohne Ausgrenzung, Diskriminierung und Unterdrückung grundlegend sind.

Bild 2:
Traditionelle Tänze gehörten mit ins Programm des Aktionstages in San Cristóbal de las Casas.

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IGUALDAD – LIBERTAD – SOLIDARIDAD – JUSTICIA - PAZ
Die Charta wurde am 8. März 2005 in Brasilien, São Paulo, in einem öffentlichen Akt verlesen und wird seitdem von vielen Frauen sieben Monate lang durch 53 Länder getragen. Am 17. Oktober 2005 endet der "Marcha Mundial de las Mujeres" in Ouagadouguou, Burkina Faso, mit einem weltweiten Aktionstag: 24 Stunden der symbolischen Solidarität unter Frauen mit vielfältigen Aktionen, die jeweils zwischen zwölf und ein Uhr Ortszeit durchgeführt werden.

Bild 3:
Der Marsch bewegt sich durch die engen Gassen von San Cristóbal – auch viele Männer bekunden ihre Solidarität.

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CREAR LA MANTA DE LA SOLIDARIDAD MUNDIAL
Symbolisch wird die Aussage der globalen Charta durch ein Tuch dargestellt. Auf jeder Etappe kommt ein Stück Stoff hinzu und so entsteht eine große Patchworkdecke mit den gesammelten Impressionen der Frauengruppen aus aller Welt. Anfang Mai wurde das Tuch von Quebec den Frauen aus der Türkei überbracht, aktuell bewegt sich der Marsch durch Europa.

Bild 4:
Im Vordergrund ist die Carta Mundial de las Mujeres para la Humanidad zu sehen.

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LA CARTA INVITA A LA ACCIÓN PARA CAMBIAR EL MUNDO ¡HAY URGENCIA!
Frauen aus San Salvador und Guatemala überquerten Ende April die Grenze nach Chiapas/Mexico, um das Patchworktuch nach San Cristóbal zu begleiten. Einmalig war die Reaktion der Grenzposten, welche den Frauen unbürokratisch den Übergang gestatteten, auch wenn viele von ihnen keine gültigen Papiere zum Überqueren der Grenze besitzen. Überhaupt konnte man schöne Gesten beobachten und es solidarisierten sich erstaunlich viele Männer mit dem Marsch der Frauen.

Chiapas gehört sowohl zu den ressourcenreichsten als auch zu den ärmsten Bundesstaaten Mexicos. Aktuell befindet sich die Region im Focus eines breit angelegten Entwicklungsprogramms, welches offiziell die Verringerung der Armut und die Verbesserung der Situation der indígenen Bevölkerung zum Ziel hat. Der angestrebte Nutzen für die arme Bevölkerung kann durchaus angezweifelt werden, da es vorwiegend um die Durchsetzung neoliberaler Wirtschaftsinteressen geht und sich seit Jahren ein hochkomplexer Konflikt zwischen unterschiedlichen Interessengruppen entwickelt.

Bild 5:
Viele Frauen sind noch nie vorher für ihre Rechte auf die Straße gegangen.

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In Chiapas hat sich seit dem Aufstand der Zapatisten 1994 eine große Anzahl meist sehr gut organisierter politischer Gruppen herausgebildet und die indígene Bevölkerung hat es wie kaum anderswo verstanden, ihren Forderungen Gehör zu verleihen. Auch auf dem Aktionstag in San Cristóbal kamen die unterschiedlichsten Gruppen zusammen, um ihre Solidarität kundzutun.

Text + Fotos: Tina Willenborg






[kol_1] Grenzfall: Hitler und das gegrillte Rind

"Warum trinkt Ihr Deutschen eigentlich immer nur warmes Bier?" In meinem Glas schwimmen kleine Eisstückchen. Nach Stunden im Eisfach grenzt es an ein Wunder, dass die Glasflasche nicht einfach explodiert ist. Dafür hat sich das Bier sofort nach dem Öffnen in Eis verwandelt. Geduldig warte ich darauf, dass es eine einigermaßen trinkbare Temperatur annimmt. Und das dauert.



Währenddessen brutzeln gewaltige Fleischstücke über dem Grillfeuer vor sich hin. Wenn das Fett hinunter tropft, schießt eine grelle Stichflamme durch das Gitterrost. "Hast Du keinen Hunger mehr, oder was? Du musst doch essen!" Und schon liegt ein neuer Fleischlappen auf meinem Teller. "Und trink Dein Bier, bevor es warm wird!", fordert mich mein Gastgeber auf. "Und Du, Hitler, verschwindest endlich!", brüllt er dem kleinen Vierbeiner zu, der mich mit großen traurigen Augen um ein Stück Fleisch anbettelt.

Hier ist Fleischland! Das wurde schon auf der Hinfahrt klar. Viehweiden soweit das Auge reicht. Wo einst dichter Urwald die Ebenen überzog, herrscht heute das Rind. Die Gegend um Araçatuba weist die höchste Dichte von Flugzeugen pro Einwohner auf. Damit überfliegen die Viehbarone ihre riesigen Besitztümer. Oder sie düsen zum Shoppen nach São Paulo. Mit dem Flugzeug unterwegs zu sein ist so selbstverständlich wie das Fortbewegen mit dem Auto. Das sagt zumindest die Frau auf dem Beifahrersitz. Und die muss es wissen. Immerhin ist sie hier im Hinterland von São Paulo aufgewachsen.

So ein Flugzeug scheint man aber auch wirklich zu brauchen.

Vor uns klafft ein riesiges Loch in der Straße, wo früher einmal eine Brücke war. Die ist jedoch dem letzten etwas heftigerem Regen zum Opfer gefallen. Und so recken und strecken sich ihre ungestümen Betonplatten gen Himmel.

Es war diese Gegend, die São Paulo vor 130 Jahren über Nacht reich machte. Damals sprossen Kaffeebäume aus der rotbraunen Erde; von hier stammten einst 90% der globalen Kaffeeproduktion. Vereinzelt sieht man noch ein paar Sträucher, doch längst ist der Kaffee nördlich nach Minas Gerais und südlich nach Paraná weitergezogen. Hier macht man jetzt das große Geld mit Rindviechern. Herdengröße gibt man in Zehntausenden an, ein Kilo bestes Fleisch kann man direkt in den Schlachtfabriken für 8,50 Reais kaufen. Im 500 Kilometer entfernten São Paulo muss man dafür 28,50 Reais hinlegen.

"Für morgen sind wir auf drei Churrascos eingeladen. Sei vorbereitet!" Am Straßenrand tauchen kleine Holzhütten auf. "Die richtig teuren Rinder haben ihre eigenen Hütten. Wenn man eine Million Reais und mehr wert ist, kann man doch erwarten, eine eigene Hütte zum Schlafen zu haben, oder?"

"Vor ein paar Monaten gab es hier das teuerste Churrasco der Geschichte: 1,6 Millionen Reais! Ein Stromkabel ist gerissen und auf ein 1,3 Millionen teures Rind gefallen. Dann ist noch ein anderes Rind dazugekommen, hat das unter Strom stehende Rind berührt und ist direkt mitgebraten worden. Zum Glück war das zweite Rindvieh nur 300,000 Reais wert. Doch auch so war es das teuerste Churrasco der Welt."

Und dann der erste Abend in der Stadt. "Ich will die Prinzessin der Stadt küssen!" Eine unüberlegt und leichtfertig ausgesprochene Ansage! Dieses Wochenende ist großes Stadtfest angesagt. Im Mittelpunkt steht das traditionelle Rodeo.

Mit Cowboyhut und engen Lederhosen versuchen sich die Jungs von den Fazendas im Bullenreiten. Vor der Arena gibt es Churros, frittierte längliche Waffeln mit süßer Füllung und Caipirinhas im Halbliterplastikbecher. Natürlich ohne Eis. "Dann passt mehr rein!"

Aus den übersteuerten Lautsprechern quillt deftigste Cowboymusik, die von Frauen mit Gitarrenkörpern erzählt. Was auch immer das bedeuten mag. "Alle Männer schreien jetzt bitte mal!", fordert der Mann mit dem Mikrofon und den engen Lederhosen das Publikum auf. "Und jetzt alle Schwulen!" Das Publikum tobt vor Lachen. So ein Halbliterbecher voll Caipirinha ohne Eis ist mehr als man denkt. Ein dumpfes Summen überzieht meine Ohren.

Vor mir steht ein dickes, blond gefärbtes Mädchen mit perlenbesetztem Cowboyhut und Fransenrock. "Das ist die Stadtprinzessin. Küss sie oder geh Bier holen!" Die Wahl fällt nicht schwer. Die Hersteller haben sich nicht lumpen lassen und extra Rodeobier auf den Markt gebracht. Schmeckt aber genau so wie immer. Nur der Cowboy auf der Dose ist da sonst nicht drauf.

"Hast Du schon von dem teuersten Churrasco der Geschichte gehört? Vor ein paar Monaten ist hier ein Rind von einem Stromkabel getötet worden. 3 Millionen auf einen Schlag weg", sagt die kettenrauchende 45-jährige Bekannte meiner Begleiterin. "Sie mag Dich!", flüstert mir diese ins Ohr. Die Welt ist wirklich voller eigenartiger Zufälle.

An den Rest des Abends habe ich nicht mehr viele Erinnerungen. Gegen morgen haben mich die Cousinen meiner Begleiterin in der Nähe des Busbahnhofes aufgesammelt. Wohin ich wollte, kann ich nicht mehr genau sagen. Am nächsten Nachmittag sah ich mich dann heftigsten Beschuldigungen ausgesetzt, obwohl es Monet, der kastrierte Hund meiner Gastgeberin war, der auf die Hausschluffen seines Herrchens gepinkelt hat und nicht der Caipirinha trinkende Gast aus Deutschland.

"Keine Caipirinhas!", hatte ich mir für den heutigen Abend vorgenommen. Und so erholt man sich bei Fleisch und Bier.

Das ist mittlerweile so weit aufgetaut, dass es genießbar ist. Mein Gastgeber entreißt mir meinen Teller und feuert die darauf befindlichen mindestens 300 Gramm leckerstes Fleisch mit einem Schwung über die Mauer auf das Grundstück des Nachbarn.

"Es ist nicht gut, kaltes Fleisch zu essen. Besonders, wenn wir noch frisches auf dem Grill haben." Mit einem Riesenmesser zerteilt er einen weiteren Lappen Fleisch. "Warum hast Du es nicht wenigstens dem armen Hund gegeben?", werfe ich mit einem Blick auf die kleine Gestalt mit den Kulleraugen zu meinen Füßen ein.

"Hitler muss lernen, dass man am Tisch nicht betteln darf." Und mit drohend erhobener Hand brüllt er den kleinen Hund an. "Ab in Deine Ecke, Hitler. Aber zack-zack!" In der einen Hand hält er eine neue tiefgefrorene Flasche Bier. Mit der anderen ergreift er mein Glas und schüttet das endlich perfekt temperierte Bier auf den Boden. "Du hast es schon wieder warm werden lassen! Aber mach Dir keine Sorgen, ich hab noch genug im Eisfach."

Während ich die Eisbröckchen in meinem Glas beobachte, stochert unser Gastgeber in einem riesigen Stück Grillfleisch herum. "Vor ein paar Monaten gab es hier das teuerste Churrasco der Geschichte. 60 Millionen Reais auf einen Schlag weg! War in allen Schlagzeilen Brasiliens."

Ich frage mich, warum die Leute hier ihr Bier mit und die Caipirinhas ohne Eis trinken. Hitler liegt in seiner Ecke und döst vor sich hin. Woran er wohl gerade denkt?



Text + Fotos: Thomas Milz






[kol_2] Amor: Nicht für Geld im Ausland kicken
Leben und spielen im schönsten Land der Welt


Lucio, Zé Roberto und Roque Junior bei Bayern und Miquelis für München. Brasilianer und Argentinier verzaubern Fußball-Deutschland. Jeder einzelne Spielername der südamerikanischen Spitzen-Nationalteams ist dem Leder-Narr während der Tage des gerade beendeten Confederation Cups geläufig. Denn nur ein einziger Brasilianer der Seleção kickt in seiner Heimat, in der argentinischen Elf sind es immerhin 3 zu Hause Spielende. Alle anderen suchen ihr Glück in Europa, wobei Geld und Ruhm nicht selten die Tränen der Kälte des Winters, der jenseits von Weißwurst und Maß fehlenden Leidenschaft und der sprachlichen Barriere trocknen müssen. So verlängern Stars ohne Ankündigung und Rückmeldung gerne mal den Heimaturlaub in der Winterpause. Was kümmern sie Geldstrafen, wenn Mama den kleinen Weltenbummler auffordert, noch ein paar Tage zu bleiben, damit sie ihn wieder aufpäppeln kann. Auf völliges Unverständnis seitens der Arbeitgeber stoßen sodann die kleinen Fettpolster links und rechts der Hüfte, die Sportfans im disziplinierten Deutschland nur von Sympathieträger Jan Ullrich aus dem Radsport kennen.

In Europa verbreiten die ballgewandten Lateinamerikaner aber nicht nur Freude, sondern sie lernen auch etwas - und zwar Disziplin. Alle elf Spieler inklusive Torwart der brasilianischen Auswahl, so wissen Beckmann und Kerner während der Übertragungen in ARD und ZDF zu berichten, würden am Liebsten auf Teufel komm raus stürmen. Abwehrspieler gäbe es im ewigen Samba-, Tanga- und Fußball-Fieber gefangenen Brasilien nur auf dem Papier. Erst durch das Erlernen der europäischen Disziplin hätten sich etwa Roque Junior und Lucio zu echten Abwehrrecken gemausert, wenn es ihnen auch nach wie vor schwer fällt, die Mittellinie nicht zu überschreiten. Denn so ergreife gerade Lucio, läuft es bei den Bayern mal nicht rund, die Initiative und stürmt die Gegner in Grund und Boden.

Und da war er wieder der Antritt des brasilianisch-bayrischen Abwehrchefs mit den Stelzenbeinen. Dieses mal jedoch nicht für die Münchner, sondern für die Nationalmannschaft des aktuellen Weltmeisters im zweiten Gruppenspiel des Cups und darüber hinaus vergeblich, obwohl die einzelnen Spieler des Gegners in Deutschland, wie auch dem übrigen Europa fast gänzlich unbekannt sind. "Méjico, Méjico ga-na-rá!" Dass aber sollte sich nach dem Spiel in der Vorrunde gegen die Brasilianer ändern, denn es verzauberten in erster Linie die Mexikaner.



Allen voran zu tiefst entzückt zeigte sich Günter Netzer, der die perfekte Interpretation der europäischen Diszipliniertheit im Abwehrverhalten und die übernatürliche Energielaufleistung gepaart mit der Eleganz in der Ballführung, der Spielfreude und dem effektiven Zusammenagieren vor des Gegners Tor bis über den Klee lobte. Was darüber hinaus die Zuschauer vor dem Fernseher wie im Stadion in Euphorie und Raserei versetzte, waren Showeinlagen, wie der Hackentrick des Abwehrspielers Osorio. Dieser unterlief scheinbar unbeteiligt den Ball, der nach einem Abpraller in hohem Bogen auf ihn zukam, anstatt sich mit den bereit stehenden Brasilianern um diesen zu streiten. Kurz vor des Balles Aufprall auf die Erde aber hob er die Hacke des rechten Fußes im Knie im neunzig Grad Winkel genickt nach hinten und nahm so den Ball mit einer nicht zu übertreffenden Lässigkeit mit, indem er ihn im kleinen Bogen wieder über den eigenen Körper nach vorne bugsierte. Angesichts der Unverfrorenheit und Brillanz in der Ausführung vermochte Osorios direkter Gegenspieler Zé Roberto seinen Mund gar nicht mehr zu schließen.

Im Viertelfinale traf Mexiko, das Brasilien nicht zuletzt durch die Paraden ihres Keepers Sanchez mit 1:0 besiegte, dann auf die Nummer Eins der Welt, auf Argentinien. Und sie fanden in den Männern der durch unzählige Parrillas gefestigten Ausdauer, um es vorweg zu nehmen, nach 120 Minuten Spielzeit und 5 verwandelten Elfmetern ihren Meister. Bis zu diesem Zeitpunkt aber waren die vom aztekischen Gott der Spielerbetreuung Ixtlilton protegierten Mexikaner Argentinien ebenbürtig. Besonders begeisterten sie durch präzise Pässe. Ob kurz gespielt oder über den halben Platz, jeder Ball fand Fuß oder Brust des anvisierten Spielers.

Spätestens nach diesem Auftritt sollten die deutschen Vereine aufmerksam geworden sein und ihre Späher aus Argentinien und Brasilien hin und wieder gen Norden schicken, in der Hoffnung in dem fast legionärlosen Mexiko fündig zu werden und die Bundesliga mit Sanchez, Borgetti oder Salcido zu bereichern. Doch in den Verhandlungen mit den mexikanischen Spielern wird Fingerspitzengefühl gefragt sein, denn nur mit Geld lassen sich die Spieler nicht der Heimat entlocken. Zum einen sind sie mit den eigenen Gefilden verbunden und verdienen in Mexiko gutes Geld zum anderen leben sie in einem der schönsten und vielseitigsten Länder der Welt, das darüber hinaus in der kulinarischen Weltrangliste zusammen mit Thailand und Italien einen der ersten drei Plätze dauerbelegt.

Text + Fotos: Dirk Klaiber





[kol_3] Lauschrausch: Kampflieder grüner Kartoffeln vs Funky Barcelona

La Papa Verde
Oficialmente y legal
galileo-mc

Als im Gefolge der Spanier die aus den Anden stammende papa Mitte des 16. Jahrhunderts nach Europa kam, wurde sie als Speise abgelehnt: zu bitter! Die Kartoffel wurde wegen ihrer schönen Blüten bewundert. Erst als man sie nicht mehr roh zu essen versuchte, sondern kochte, eroberte die Knolle die Speisepläne der Menschen und machte aus Deutschland das Kartoffelland schlecht hin. Und von dort, genauer aus der rheinischen Spaßmetropole Köln, kommt La Papa Verde.

Auf ihrem Debutalbum "Oficialmente y legal" verbinden die sieben Musiker eben jenen rheinischen Spaß mit politischer und sozialer Kritik (z.B. "La Paloma de la Paz") und machen daraus einen (meist) äußerst tanzbaren Mix, der zwischen cumbia, rumba, Ska und Reggae angesiedelt ist, manchmal mit einem Schuss Hardcore.

Dazu passt ihre Beteiligung am musikalischen "Edelweißpiratenprojekt", aus dem ihr Stück "Hier und Dort" hervorging, die gelungene lateinamerikanische Aufarbeitung eines Textes dieser von den Nazis verfolgten Jugendlichen. In ihrer Mestizo-Musik à la Manu Chao oder mexikanischer Bands wie "El Gran Silencio" kommt auch der Humor nicht zu kurz: "soy la rica papa, no me confundas con el gordo papa de Roma", heißt es in "La Papa Verde". Die in den Texten häufig verehrten porritos empfehle ich aber nach dem Genuss der CD zu rauchen, denn sonst ist die Stimmung zu gedämpft für Tanz und/oder Kampfaufruf ("en cada canción un manifiesto de liberación"). Die Kartoffelgöttin Aro-Mamma wird mit diesem Werk hochzufrieden sein.Muchachito Bombo Infierno


Muchachito Bombo Infierno
Vamos que no vamos
Exil Music 5908-2

Türen zu und los! Durch die Straßen von San Francisco? Nein, durch die Gassen von Raval, auch wenn die Musik zunächst an den 70er-Jahre-Soundtrack der US-Krimiserie erinnert. Aus Barcelona kommt eine (für uns) neue und rauchige Stimme: Jairo Perera Viedma. Er und seine Kumpanen von Muchachito Bombo Infierno rechnen sich zur Mestizo-Szene der katalanischen Hauptstadt, und so finden sich auch hier wieder die üblichen Hilfstruppen (Ojos de Brujo in der rumba "Eima").

Doch viele ihrer Stücke fallen glücklicherweise aus dem rumba-Rahmen: Funky und jazzig im Stil der 70er Jahre, mit einem Schuss Rockabilly kommen die meisten Songs daher. Der Rest wandelt zwischen rumba, Rock und Reggae.

Spannend, unterhaltsam und ein erster folgerichtiger Schritt aus dem Ska-Rumba-Einheitsbrei, den man in Deutschland so liebt.

Text: Torsten Eßer
Fotos: amazon.de







[kol_4] Macht Laune: Nachtmusik

Es ist schon lange dunkel. Nach der feuchten Hitze des Tages ist die Nacht eher lau. Der orangefarbene Schein der Straßenlaternen lässt die bunt angemalten Häuser auf beiden Seiten der kopfsteingepflasterten Straße noch kulissenhafter erscheinen als am Tage, fast wie in einer Sepiafotografie aus alten Zeiten. Die hölzernen Fensterläden sind geschlossen, nur wenig rührt sich. Es ist Freitag, es geht auf Mitternacht zu - und wenn man angestrengt lauscht, bemerkt man, dass der Wind mehr die Straße hinaufträgt als nur den schweren Duft von Blüten: Da ist eine Idee von Gesang in der Luft, jetzt noch kaum zu hören, im nächsten Moment schon ein wenig näher - und dann sieht man die Prozession langsam die Steigung hinaufwandern. Der Himmel ist klar, es hat den ganzen Tag nicht geregnet, deswegen haben sich heute viele Menschen auf dem Platz vor der Kirche versammelt, um singend durch die Altstadt Olindas zu ziehen.

Ganz vorne gehen die Musikanten, dirigiert von einem alten Mann mit weißen Haaren: Ein riesengroßer Bursche mit einem winzigen Banjo, ein winziger Bursche mit einer riesengroßen Gitarre, ein Geiger, der vielleicht nicht immer ganz den richtigen Ton trifft, dafür aber um so lebendiger zwischen den anderen herumtanzt, eine Flötenspielerin, ein Herr mit Zopf, Bart und Triangel, einer mit einer Rassel, die er sich aus einer Konservendose gebastelt hat, ein weiterer mit einer großen Trommel. Hinterdrein und rundherum folgen die anderen. Alle kennen die Worte der schönen, melancholischen Lieder, die meisten singen mit, die übrigen schlendern mit zufriedenem Lächeln nebenher.



Die Nachbarn haben es auch bemerkt, wahrscheinlich haben sie schon, wie jeden Freitag, darauf gewartet: Türen öffnen sich, ganze Familien lehnen sich aus den Fenstern, plötzlich laufen Kinder auf der Straße herum. Die Prozession nähert sich nur bedächtig, gerne machen die Sänger unter einem Fenster halt und bringen einer Dame ein Ständchen, und die Dame muss nicht einmal eine besonders schöne sein, um sich diese Ehre zu verdienen. Dann sind sie ganz nah, erst jetzt kann man den Klang der einzelnen Instrumente genau voneinander unterscheiden. Man versucht, sich die Melodie zu merken, versteht ein paar Brocken des Refrains - und dann sind sie auch schon vorbeigezogen, verschwinden hinter einer Biegung. Die Kinder der Nachbarn werden hereingerufen, die Häuschen schließen ihre Fenster, als wären es müde Augen. Nur Minuten später ist alles wieder so still, wie es vorher war. Es bleibt nur eine Ahnung von Musik im Wind, und man kann fast nicht anders, als sich zu fragen, ob man sich das Gesehene vielleicht doch nur eingebildet hat, denn ein bisschen surreal und gespenstisch war es schon.

Aber andererseits hätte in einer eingebildeten Prozession wahrscheinlich der Mann gefehlt, der zwischen den Sängern eine Schubkarre mit einer großen, mit Eis gefüllten Styroporkiste herum schob, aus der er kaltes Bier verkaufte und so mit seinem Geschäftssinn dem Ereignis den notwendigen Schuss bodenständigen Realismus verschaffte.

Text + Foto: Nico Czaja





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