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[art_4] Argentinien: Der Traum

Vorbei! Der Mann ist aufgewacht und blinzelt mit kleinen Augen gegen die Sonne. Es ist ein lauer Tag in Buenos Aires und die Stadt atmet spürbar durch. Die letzten Wochen waren unerträglich. Überall Hitze, Schweiß, unangenehmer Geruch und man beklagte sogar ein paar Tote aufgrund des akuten Wassermangels. Dabei handelte es sich natürlich nicht um wichtige Leute. Laut landläufiger Meinung herrscht in Argentinien kein Wassermangel und das ist auch bis zu einem gewissen Grad richtig, denn der patagonische Süden besitzt eine Menge Wasser, nur funktioniert die Umverteilung - wie in so manch anderem lateinamerikanischen Land - schlichtweg nicht. Dies allerdings tut für die vorliegende Geschichte nichts zur Sache, auch wenn sie von Hitze handeln wird.

Der Mann also, ein wenig bleich vielleicht, erhebt sich langsam und bahnt sich einen Weg durch die Menschenmenge, die ihn umgibt. Überall sind Menschen. Sie laufen, rufen, schreien und weinen. Auch Krankenwagen und Polizei sind vor Ort und ergänzen das Bild.

Santiago Bustos tritt nach etwa fünf ihm endlos erscheinenden Minuten durch die Menge an den Zaun. Gerade noch rechtzeitig, um niemanden in der Menge mit seinem Erbrochenen.... Aber es wird nur eine kurze Erleichterung sein und schließlich kommen all die Bilder in seinem Kopf wieder hoch und er übergibt sich ein weiteres Mal. Ihm ist so übel, wie nie zuvor in seinem Leben. Rauch war da, schreiende Menschen, Musik, Lärm, Angst und Zorn, das die Nacht durchdringende Heulen der Sirenen... Und immer wieder die verweinten Augen, die verrußten Gesichter. Es ging alles viel zu schnell.

"Plötzlich umgab uns dieser dunkle Vorhang, der uns das Atmen schwer machte und wie eine Horde Ratten versuchten wir ins Freie zu kommen." Santiago war dabei hingefallen und nun bemerkte er auch den Schmerz in seinem Rücken, weil viele, wenn nicht alle, die von hinten nachdrängten über ihn hinweg trampelten. Ohne Rücksicht, in panischer Angst. Nun ist es vorbei. Beinahe wenigstens, denn die Wunden klaffen auf, es schmerzt und es fehlen die Worte. Zumindest Santiago kann nichts mehr sagen. Hier und heute. Er hatte noch versucht, den jungen Mann zu finden, der ihm offensichtlich hochgeholfen hatte, als er wie von Kugeln niedergestreckt unter der Menschenmenge lag. Einen kurzen Augenblick nur konnte er sein Gesicht sehen. Wahrscheinlich, das wurde ihm jetzt mehr denn je bewusst, hatte er ihn nicht nur vor weiteren Fußtritten, sondern auch vor dem dichten, dunklen Rauch bewahrt. Ein schwarzer Tod. Alle hätten ihm entkommen können. Ja, können, wenn nicht müssen! Aber nichts dergleichen geschah! Santiago weint. Nie zuvor hatte er weinen müssen. Nicht einmal beim Tode seiner Großmutter. Heute ist einer dieser Tage, an denen sich Leben ändern, Werte sich zu verschieben beginnen, wo alles der Wirklichkeit weichen muss.

"Einer von ihnen hätte ich sein können. Einer von ihnen." Sekunden entscheiden über Liebe, über Leben, über Tod, über Endlichkeit. Verlust. Kann man würdig sterben? Oder: darf man unwürdig diese Welt verlassen? Diese Welt, in die wir alle geworfen werden, ohne dass wir jemals danach gefragt wurden. Mit der wir umgehen, in der wir uns bewegen. Wir finden nichts und suchen alles. Der Weg gabelt sich und dennoch ist es das Labyrinth, aus dem wir nicht herauskommen. Gestern Nacht war dieser Irrweg zum Greifen nahe und Minotaurus wartete auf viele von ihnen, um sie endlich, Opfern gleich, zu zerreißen.

"Die Körper säumen die Straße, es stinkt, es setzt mir zu. Ich übergebe mich, aber es ist nichts mehr in meinem Bauch. Ich bin leer. Der Kopf, der Körper, alles fällt von mir ab. Ein Gefühl der Taubheit macht sich breit."

Benommen wankt Santiago am Zaun entlang, aber findet keinen Ausweg. Heute nicht und morgen nicht.

Text: Andreas Dauerer

Die Nacht vom 29. auf den 30. Dezember vergangenen Jahres wird in der Hauptstadt Buenos Aires niemand so schnell vergessen. Im Barrio Once spielt die Rockband Callejeros. An sich nichts Ungewöhnliches, allerdings bricht während des Konzerts ein Feuer aus. Durch einen Feuerwerkskörper gerät die Decke in Brand und plötzlich finden sich alle inmitten dichten Rauches wieder. Panik bricht aus. Die Notausgänge sind verschlossen. Wohl aus Angst, dass jemand das Konzert besuchen könnte, ohne dafür zu bezahlen. 192 Menschenleben fordert diese Nacht im Boliche República Cromagnon. Bis zum heutigen Tage hat kein Nachtclub in Buenos Aires geöffnet. Die Verhandlungen, wer für das Blockieren der Notausgänge zuständig war, dauern noch immer an.

Text: Andreas Dauerer

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