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[art_2] Brasilien: "Projektionsraum unserer Sehnsüchte und Albträume"
Ein Interview mit dem Journalisten Jens Glüsing (Der Spiegel) über sein neues Buch "Brasilien – ein Länderporträt"

Frage: Ihr Buch mixt Anekdoten mit Analysen – wieso haben Sie sich nicht auf die Anekdoten beschränkt, so wie es viele Ihrer Kollegen mit ihren Brasilienbüchern gemacht haben?
Glüsing: Ich bin nun mal studierter Politikwissenschaftler und sehe Brasilien oft mit analytischen Augen. Man kann Brasilien nicht verstehen ohne in die Geschichte zurück zu gehen und ohne das politische System zu begreifen.

Und man muss die Bedeutung der Sklaverei für Brasiliens Geschichte erkennen – die ja die Gewalt erklärt. Man muss in Brasilien weit in die Geschichte zurückgehen, um die derzeitigen Probleme zu verstehen. Letztlich wie bei jedem Land.

Und Anekdoten sind auch vertreten, aber es gibt nun mal viele Bücher voll Anekdoten. Ich wollte da was Tiefgründigeres machen als ein reines Erlebnisbuch.



Frage: Sie gehen auch auf die Proteste ein – sind die schon Vergangenheit oder kommt da noch mal was?
Glüsing: Das ist die 1-Million-Dollar-Frage. Keiner weiß was während der WM geschehen wird. Besonders die brasilianische Mittelschicht hat ein großes Unbehagen gegenüber der politischen Klasse und dem politischen System ausgedrückt. Die Menschen fühlen sich weder durch die Politiker noch durch das politische System repräsentiert – was im Grunde sehr gefährlich ist, denn formell haben wir in Brasilien eine Demokratie.

Das Problem ist dass die Politiker die Demokratie pervertiert haben, und zwar zu ihren Gunsten. Und die Menschen sehe keine institutionellen Wege um dieses Problem lösen zu können, wie sie mit dem täglichen Betrug durch die Politiker umgehen sollen. Da hat sich sehr viel aufgestaut, und viele von uns haben das nicht gespürt, haben nicht damit gerechnet. Und durch den übertriebenen Polizeieinsatz in São Paulo wurde dann diese Explosion ausgelöst, nach dem die Leute zum ersten Mal gesagt haben: jetzt ist das Fass voll.

Aber ob sich das während der WM wiederholt ist schwierig zu sagen. Zumal die Weltmeisterschaft ja nicht der eigentliche Hauptgrund der Demos war. Es ging um bessere Krankenhäuser, ein besseres Bildungssystem und ein Ende der Privilegien der politischen Klasse.

Frage: Wir Europäer projizieren stets unsere Sehnsüchte auf Brasilien – lassen wir uns da gerne täuschen?
Glüsing: Brasilien war immer ein Projektionsraum unserer eigenen Sehnsüchte. Das beginnt mit Stefan Zweigs Buch vom "Land der Zukunft". Aber es war auch immer der Raum für unsere Albträume, von Gewalt, Armut und Elend. Darüber habe ich in den 90er Jahren stets geschrieben.

Selten haben wir in Europa einen ausgewogenen Blick auf das Land gehabt. Das liegt daran dass es ein Einwandererland ist, nicht wie China – was uns fern und fremd ist. Bei China haben wir nicht viel Herzblut...

Aber bei Brasilien kommen sofort die Bilder der schönen Frauen, der tolle Strand und die netten Leute. Und der Fußball. Und auf der anderen Seite die Straßenkinder, Gewalt und die Amazonasabholzung. Und zwischen diesen Extremen schwanken wir stets in unserer Wahrnehmung.

Frage: Unterschätzt man diesen schlafenden Riesen?
Glüsing: Wir unter- und überschätzen ihn zugleich. Wir überschätzen ihn wenn wir glauben dass Brasilien die Supermacht des 21. Jahrhunderts sein wird, gleichberechtigt neben China und Indien. Das ist Brasilien nicht, Brasilien ist eher ein Tanker der langsam seine Bahnen zieht. Das Wachstum ist weitaus geringer als in den Tigerstaaten Asiens, bildungsmäßig hinkt Brasilien ganz weit zurück – da sind die asiatischen Staaten ganz weit vorne.

Aber der Tanker zieht seine Bahnen. Und was seine riesigen Dimensionen angeht – da unterschätzen wir Brasilien manchmal. Wir leben in einer Welt die gezeichnet ist von Kriegen – das kennt Brasilien nicht. In diesem Sinne ist es als Modell für andere Länder unterschätzt worden. Ich sehe die positiven Seiten Brasiliens: das relativ friedliche Zusammenleben unterschiedlicher Rassen, die verschiedenen Religionen in ein und demselben Land.

Ob das nun immer Toleranz ist oder nicht einfach Gleichgültigkeit dem anderen gegenüber lassen wir mal dahin gestellt – aber die Folge ist, dass man sich nicht ständig aus rassistischen oder religiösen Gründen bekriegt. Die Gewalt in Brasilien hat andere Gründe, aber die Brasilianer sind kein kriegerisches Volk.

Frage: Wieso kommt das Buch jetzt – so kurz vor der WM?
Glüsing: ich wollte schon immer ein Brasilienbuch schreiben, dass kein reines Korrespondentenbuch sein sollte. Und da boten sich die Großereignisse an. Der Verlag sagte dass sie ein Brasilienbuch herausgeben wollten, und da ich in dem Verlag vorher schon ein Buch verlegt habe, stimmte ich zu.

Und unter dem Titel "Länderkunde" stand ich nicht im Zwang, eine These formulieren zu müssen. Ich konnte relativ gelassen über das Land schreiben. Und vor allem so zu schreiben, dass es auch nach der WM noch gültig ist.

Interview + Fotos: Thomas Milz
Buchcover: amazon.de

Brasilien: Ein Länderporträt
Jens Glüsing
Broschiert
208 Seiten
Ch. Links Verlag; Auflage: 1., Auflage 2013 (16. Oktober 2013)

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