caiman.de 06/2006

[kol_1] Grenzfall: Visa wie

Routine, meine lieben. Schon x-mal gemacht. Kein Grund zur Sorge. "Einmal Touristenvisum verlängern, bitte!" Die Beamtin sieht mich an. "Was tun Sie in Brasilien?" Das diabolische Glimmen in ihren Augen, das ich zwar bemerkte, dem ich aber an diesem sonnigen Tag keine weitere Beachtung schenkte, hätte mir zu denken geben müssen. Hat es aber nicht. "Ein Praktikum!", antworte ich in blöder Freude, sicher, dass die Dame mir, dem ausländischen freiwilligen Helfer, von nun an den größten Respekt entgegenbringen wird, denn ich setze meine beachtlichen Qualifikationen ehrenhaft ehrenamtlich zur Verbesserung ihres merkwürdigen kleinen Tropenlandes ein.

"Das geht nicht", sagt sie, "Sie kriegen keine Verlängerung." Mein Idiotenlächeln schmilzt von meinem Gesicht wie Eisbein in der merkwürdigen kleinen Tropensonne. "Sie haben", ein kurzer Blick auf meinen Pass, "vier Tage Zeit, das Land zu verlassen. Falsches Visum." Ich diskutiere, höflich: "Aber..." "Da gibt es nichts zu diskutieren." Dann versuche ich es unterwürfig: "Aber..." "Diskutieren sie nicht mit mir." Dann werde ich aufmüpfig: "Aber..." "Sie können jetzt gehen." Inzwischen ist ein muskulöser uniformierter Kollege hinzugetreten und verschränkt hinter ihr strengen Blickes die Arme vor der Brust. Ich diskutiere nicht länger, obwohl ich noch einige Argumente und Tonfälle zu bieten gehabt hätte, und verlasse die Polizeiwache, das Herz aufgewühlt und voller Haie wie das Meer vor Brasília. Weit vor Brasília.

Die nächsten Tage verbringe ich mit dem Aktivieren mächtiger Freunde. Alle mächtigen Freunde sind in Urlaub oder können leider gerade nichts machen. Ich gebe auf und telefoniere mit meiner Fluggesellschaft. "Ihren Flug auf vor Juni verschieben, Herr Czaja? Tut mir leid, aber das ist eine Mission Impossible, hihi, Entschuldigung." Das hat die Dame am Telefon zu mir gesagt. Wirklich. Wörtlich. Es ist April. Alle Flüge dieser Gesellschaft vor Juni – vor Juni! – sind belegt, wegen der Weltmeisterschaft. Also kaufe ich mir einen neuen und lasse meinen alten Rückflug verfallen. Was sonst kann ich tun?

Am Tag vor dem Abflug, einige Tage nach Ablauf meines Visums, statte ich erneut meiner Nemesis, der Bundespolizei, einen Besuch ab. Am Platz der Dame vom letzten Mal sitzt jemand anders, ein stiller, freundlicher, irgendwie trauriger Herr. Nach einer mehrstündigen Wartezeit zwischen Klappstühlen erkläre ich ihm, dass ich die Strafe für Aufenthaltserlaubnisüberzug zahlen möchte, um nicht morgen am Flughafen irgendwelchen Ärger zu bekommen.

Er gibt mir ein Formular. Auf dem Formular steht "Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis". Nicht etwa "Strafe wg. Zu-lang-im-Land-gebliebensein" oder Ähnliches. Ich sehe ihn an. Studiere genau seine Gesichtszüge. Ist da irgendein Hinweis, ein verschwörerisches, kaum merkliches Zucken im Augenwinkel dieses stillen, freundlichen, irgendwie traurigen Antlitzes? Will er mir einen Gefallen tun und nicht viel Aufhebens darum machen? Ich sehe nichts dergleichen, aber entscheide dass ja und fülle das Formular aus, als wäre es die normalste Sache der Welt. Mit dem ausgefüllten Formular stelle ich mich in eine andere Schlange, Kleinigkeit, Dreiviertelstunde höchstens, und finde an ihrem Kopfende heraus, dass es sich nicht um die richtige Schlange gehandelt hat. Der Mann am Schalter deutet auf eine andere, sehr ähnlich aussehende und vergleichbar lange Schlange, von der ich mich mit der gleichen Engelsgeduld rückwärts verdauen lasse wie von der ersten. Für mein ausgefülltes Formular bekomme ich ein bedrucktes Formular, mit dem ich mich wieder in der ersten Schlange anstellen darf, an deren Kopf ich einen Geldbetrag bezahle und mein bedrucktes Formular stempeln lasse. Mit dem zufriedenstellend bedruckten und gestempelten Formular setze ich mich erneut zwischen Klappstühle und warte, bis mich der Herr (still, traurig, etc.) wieder zu sich ruft. Er begutachtet die Unterlagen. Er öffnet meinen Reisepass. Er hebt den Stempel. Der Stempel erreicht den Zenit seiner Laufbahn.

Im Türrahmen hinter dem Herrn erscheint die Dame von letzter Woche. Es ist ein Funkeln in ihren Augen. Sie ruft den Herrn zu sich. Des Stempels Bewegung gefriert für einen Moment, als wäre die Zeit stehengeblieben. Der Herr sieht mich an, die Traurigkeit in seinen Augen eine Nuance tiefer als zuvor (glaube ich), versehen mit einem Hauch von Entschuldigung (glaube ich). Er legt den Stempel ab, unterredet sich mit der Dame, kommt zu mir zurück und teilt mir mit, dass er mein Visum leider nicht bis morgen verlängern kann, denn ich habe ja bereits meine Aufenthaltserlaubnis überzogen. Alles muss wieder rückgängig gemacht werden. Dafür diesen Absatz einfach sehr langsam rückwärts lesen, von hier bis "Mit dem ausgefüllten Formular".

Als ich danach zu ihm zurückkomme, bin ich ziemlich sicher, dass mein Bart inwzischen ein Stück gewachsen ist und ich spürbar ein wenig älter geworden bin. Er sagt mir, dass ich die Strafgebühr morgen vor Abflug direkt am Flughafen zahlen muss und jetzt gehen kann. Das heißt, nachdem man meine Fingerabdrücke genommen hat, denn ich habe mich ja eines Verbrechens schuldig gemacht. Und damit, finde ich schnell heraus, hat er Abdrücke von allen Fingern gemeint. Ich frage den Mann, der mir mit stoischer Miene die Tinte auf die Hände aufträgt, ob ich auch die Schuhe schonmal ausziehen soll, und er antwortet mit gleichbleibend stoischer Miene dass nein.

Ich verlasse die Polizeiwache nach einem halben Tag, ohne irgendetwas erreicht zu haben, mit schwarzen Fingerspitzen und sauberen Füßen.

Später rufe ich zur Sicherheit am Flughafen an. Dort sagt man mir, dass ich die Strafe auf jeden Fall in der örtlichen Polizeiwache zahlen muss und keinesfalls am Flughafen zahlen kann. Ich lache irre, aber erst, nachdem ich aufgelegt habe. Schließlich finde ich ein Formular, im Internet, es lebe der Fortschritt, mit dem ich meine Strafe in einer beliebigen Bank zahlen kann. Das bedeutet noch eine Schlange mehr, aber ich bringe das hinter mich und halte meine Chancen, morgen das Land verlassen zu können, danach für annehmbar.

Am Flughafen, am nächsten Tag, schließlich die Passkontrolle. Der Polizeibeamte ist gut. Verdammt gut. "Überzogen, hm?" Der Tonfall ist väterlich. "Was hast du denn so gemacht hier? Bisschen gearbeitet?" Die Frage kommt so beiläufig, so vollkommen ungefährlich daher, so als würde er fragen, "Wie geht’s?" oder "Na, du auch hier?", dass er mich fast gehabt hätte. Der Mann muss eine jahrelange Spezialausbildung in Verhörtechniken genossen haben. Aber nicht mit mir. Ich bin die Unschuld. Ein Lamm. "Ich?!" Ich bin hörbar verblüfft über die Frage. Sieht man das denn nicht? Ich trage eine Hose mit so Taschen auf den Schenkeln! Die Haut schält sich von meiner Nase! Ich habe Teva-Sandalen an, um Gottes Willen! "Ich?! Ich war hier nur am Strand und hab n’ paar Leute besucht."
Er nickt und lächelt verständnisvoll, die Güte in Person, und winkt mich durch.

Wieder mal habe ich es ihnen allen gezeigt.

Text + Fotos: Nico Czaja