caiman.de 06/2005
[art_1] Brasilien: Paule und Paulo an der weißblauen Torwand
Breitner und Sérgio am Rio Pinheiros So zahlreich waren die Vertreter der deutschen und brasilianischen Wirtschaftsgemeinde erschienen, dass die mit weißer Fliege ausstaffierten Kellner Schwierigkeiten hatten, ihre vor Weißbiergläsern überquellenden Tabletts sicher durch die Räume des deutschen Clubs im Süden São Paulos zu manövrieren. Schon zu früher Mittagsstund genoss man das hefige Gebräu an den Ufern des träge vor sich hintrübenden Rio Pinheiros aus vollen Gläsern. Dazu erfreute ein reichhaltiges Buffet die Herzen der Anwesenden.
"Der Fußballsport hat sich enorm verändert, und eben nicht zu seinem Vorteil. Und dazu haben vor allen Dingen wir in Deutschland und die Aktiven in den umliegenden Fußballländern beigetragen, weil wir das Verhältnis von Technik und Kraft immer mehr zu Gunsten der Kraft und zu Ungunsten der Technik verschoben haben. Es heißt nicht umsonst, dass wir Deutschen in den letzten 10, 15 oder sogar 20 Jahren den Fußball zuviel gearbeitet und zu wenig gespielt haben." Breitner schaut kurz auf, nimmt Maß und versenkt die Kugel oben links - 2:0.
Knallhart semmelt Paulo Sérgio den Ball unten links in das kleine Torloch - 1:2. Er zupft sich noch einmal die Hose zurecht, dann nimmt er wieder Anlauf. "Für mich ist Brasilien der absolute WM Favorit. Bisher hat man immer gesagt, eine brasilianische Mannschaft kann keine WM in Europa gewinnen, aus welchen Gründen auch immer. Dafür gibt es jetzt, da viele der Nationalspieler in Europa spielen, überhaupt keinen Grund mehr. Ob Ronaldo, Ronaldinho oder Lúcio, alle wissen wie und wohin der Fußball in Europa läuft." Während Breitner noch über die deutschen Chancen sinniert, versenkt Paulo Sérgio seinen zweiten Ball - 2:2.
Stattdessen lupft er den Ball hoch über die Torwand hinweg und mitten hinein in die Sponsorenbanner. "Ich schlage vor, wir holen noch jemand aus dem Publikum dazu." "Es ist ja sehr einfach zu sagen, die Brasilianer hätten den Fußball im Blut." Breitners Blick gleitet geduldig durch die Zuschauerreihen. "Aber was einen großen Unterschied ausmacht, ist die etwas andere Motorik der Brasilianer. Der Brasilianer bewegt sich mit dem Ball, der Ball ist Teil seines Körpers, während bei uns der Ball meist unser größter Feind ist. Dazu kommt aber noch, dass wir seit einiger Zeit in Deutschland einen Wohlstand erreicht haben, der es unseren Kindern nicht mehr abverlangt, zu beißen, zu kämpfen, zu rennen und zu hoffen, dass sie über den Fußball wirtschaftlich und sozial nach oben kommen, so wie das bei meiner Generation noch der Fall war." "Ich heiße Kerstin und arbeite im deutschen Konsulat", sagt die Frau aus dem Publikum mit den roten Haaren und tritt in den Kreis der Torwandschützen. "Wenn man hier durch São Paulo oder Rio fährt und sieht, wie jeder noch so kleine Flecken, ob Wiese, Parkplatz oder sonst was, zum Fußballspielen benutzt wird, ob 2 gegen 2, 5 gegen 5 oder 11 gegen 11, dann wird einem klar, dass dies die Quelle für die nächsten Jahre und Jahrzehnte ist. Hier werden immer und immer wieder neue Ronaldos im Dutzend herausgebracht." Breitner schießt daneben. Jetzt ist Paulo Sérgio dran. Er könnte alles klar machen, doch auch er scheitert an der Torwand.
Text + Fotos: Thomas Milz Und hier noch ein Zugaben-Zuckerl für alle Fußballfans. Wofür Paule ne halbe Stunde braucht, das sagt der Paulo in drei Sätzen: Kann überhaupt irgendeine Mannschaft Brasilien bei der WM 2006 schlagen? Paulo Sérgio: Ich hoffe nicht. Ich hoffe, dass Brasilien mal wieder der Gewinner sein wird. Das Team dazu haben wir, großartige Spieler haben wir auch, und wenn man sich gut vorbereitet und sich alle darauf konzentrieren, dann haben wir auch gute Chancen, zu gewinnen. Und was ist mit Argentinien? Paulo Sérgio: Argentinien zählt immer zu den Favoriten. Es gibt schon einige gute Teams, die auch Favoriten sind, aber wenn wir Brasilianer uns konzentrieren und unsere Spieler ihr Potential abrufen, haben wir gute Chancen zu gewinnen.
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