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[art_2] Brasil: Maracanã reloaded – der Gigant lebt (wieder)
 
Mit viermonatiger Verspätung eröffnete Rios Fußballtempel Maracanã Ende April 2013 endlich seine Tore. Zumindest für einige geladene Gäste. Das Chaos, das bereits die sich seit 2010 hinschleppende Renovierung begleitete, herrschte auch bei der Neueröffnung. Immerhin, jetzt hat Rio einen ultramodernen Fußballtempel, in dem Deutschland 2014 in würdigem Umfeld die WM gewinnen kann.



Ein Event als Dankeschön für die Tausenden Arbeiter, die den 1950 eröffneten Tempel der Ballspielkunst wieder auf Vordermann gebracht haben. Zum wievielten Mal eigentlich? Waren es vier Umbauten seit 1999? Man verliert leicht den Überblick, wird doch jetzt bereits gemurmelt, dass man zu Olympia 2016 gleich noch einmal umbauen müsse. Erst recht wenn das seit einigen Wochen wegen rostigen Daches gesperrte Olympiastadion für Olympia 16 definitiv ausfallen sollte.

Hoffentlich droht dem neuen Maracanã nicht das gleiche Schicksal, denkt man so in Anbetracht der über einem schwebenden Dachkonstruktion. Das Maracanã ist übrigens zehnmal so alt wie das erst 2007 eröffnete Olympiastadion. Kann man Brasiliens Baufirmen trauen? Rund um den Tempel baut man noch kräftig weiter und bis Ende Mai soll alles endgültig fertig sein. "Klappt schon", meint ein FIFA-Beobachter. Die FIFA traut also den Baufirmen.

Trauen darf man anscheinend auf keinem Fall der (noch) für das Maracanã verantwortlichen Landesregierung. Die Verteilung der Akkreditierungen für das Eröffnungsspiel zwischen den “Freunden von Ronaldo” gegen die “Freunde von Bebeto” geriet zur Hängepartie. “Wir können nichts dafür, die mit dem Ausdrucken beauftragte Drittfirma kommt mit dem Drucken nicht nach.” Besagte Drittfirma bestand aus einem Computer und einem Drucker, der in einem Hinterzimmer angesichts des Andrangs der Weltpresse heiß lief. Aber was sind drei oder vier Stunden Wartezeit, wenn es um die Ewigkeit geht? Demnächst soll alles besser werden, wenn erst einmal die Privatisierung des Stadions spruchreif ist. Favorit ist übrigens der Unternehmer Eike Batista, der letztes Jahr 25 Milliarden Dollar an Privatvermögen verloren hat. Das schafft Vertrauen.



Aber noch herrscht die Landesregierung. In der Nacht vor dem Showdown jagten sich dann noch die von den Organisatoren eiligst verschickten E-Mails mit neuesten Infos zur “Anreise”. “Abfahrt Sambódromo”, da rund um das Maracanã alle Straßen gesperrt seien. Dilma komme höchstpersönlich, Lula auch. Sicherheitsstufe Rot!

So musste man also erst zum Carnavalstempel, um von dort ins neue, alte Maracanã gefahren zu werden. Dabei verlor unser Fahrer komplett die Übersicht, strandete an Polizeisperren und Verkehrshütchen. Nach einer halben Stunde Irrfahrt waren wir endlich drinnen. Kein Kontakt mit den Menschen draußen, Arbeiter mit ihren Familien und eine Hand voll Demonstranten.

Im Pressebereich Schnittchen und Cola, auf der improvisierten Pressetribüne keinerlei Infra. “Bitte ausreichend Batterien mitbringen”, hatte es in einer der nächtlichen E-Mails geheißen, weder Internet noch Stromanschlüsse stünden zur Verfügung. Auch an einer Herrentoilette mangelte es, was den Autor in arge Bedrängnis brachte. “Die Toilette draußen kannst Du gerade nicht benutzen, da der Korridor gesperrt ist. Aber Du kannst das WC im VIP-Bereich benutzen.” Gesagt, getan, nur dass die Dame am VIP-Eingang was dagegen hatte. Diskussion hin, Diskussion her, ich tippte ihr an die Schulter und deutete auf den Sicherheitsmann der mich hierher geschickt hatte. “Du hast mich geschlagen”, schrie sie und rief Verstärkung. 10 Sekunden später begleiteten mich drei Bodyguards aus dem VIP-Bereich. Viva! Olé!


Das Spiel? Ronaldos Freunde gewannen 8 zu 5. Ein Altherrenkick, mehr nicht. Einige Arbeiter beklagten sich, man habe bei der Vergabe der Dankeschön-Tickets geschwindelt, die Familie hätte zuhause bleiben müssen. “Enttäuscht bin ich, hab ich doch mein Blut für das neue Maracanã gegeben.” Auf den Bildschirmen wurden knutschende Paare gezeigt. “Das erinnert alles doch sehr an amerikanischen Hollywood-Kitsch,” unkte ein norwegischer Journalist.

Plötzlich Aufregung im Pressebereich, Demonstranten hatten es irgendwie in den Innenbereich geschafft und entrollten ein Spruchband. “Nein zur Privatisierung und den Räumungen!” Das Schwimm- und Leichtathletikstadion neben dem Maracanã dürfe nicht abgerissen werden, genau wie die Schule daneben. “Keine Parkplätze für die FIFA und Batista,” rief eine der Demonstrantinnen. Und das Indio-Museum, das erst vor wenigen Wochen von der Polizei zwangsgeräumt wurde, solle man den Indigenen zurückgeben.



Draußen löste die Polizei den Protest von Schülern besagter dem Abriss geweihter Schule und von ehemaligen Bewohnern des Indio-Museums auf. Tränengas schwirrte durch die Luft, die Demonstranten flohen. Rund um das Stadion patrouillierten anschließend Hunderte Polizisten, es sah nach Ausnahmezustand aus. Ist dann aber doch nur Fußball. Oder etwa nicht?

Text + Fotos: Thomas Milz

PS: Ach ja, das Stadion! Es sehe wie eine Sporthalle aus, nicht mehr wie ein Tempel für Fußballgötter, meinte ein Sportjournalist später im TV. FIFA-Standard halt, man rieche nicht mehr den an den Stollen klebenden Rasen. Immerhin, die Sicht auf den Platz ist spektakulär. “Früher musste man ein Fernglas mitnehmen, jetzt denkt man, dass man mitten auf dem Rasen sitzt,” berichtete ein begeisterter Arbeiter. Die WM kann kommen. Endlich!

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