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[art_1] Brasilien: Rio mauert seine Favelas ein
 
Michael Jackson hat hier einst einen Videoclip gedreht, doch das ist schon lange her. Normalerweise fristet die Favela Santa Marta ihr unaufgeregtes Dasein im Schatten der weltberühmten Christus-Erlöserstatue, die hoch über ihr auf dem Corcovado-Berg in Rio de Janeiro ihre Arme einladend über Arm und Reich ausbreitet. Seitdem jedoch blau gekleidete Bauarbeiter links und rechts der Tausenden sich den Berg hinaufziehenden Hütten eine drei Meter hohe und 634 Meter lange Betonmauer errichten, ist die Favela mit ihren 9.000 Bewohnern in den Fokus der brasilianischen und internationalen Berichterstattung zurück gekehrt.



Etwa 1.000 Favelas ziehen sich wie ein Flickenteppich über das Stadtgebiet Rio de Janeiros. Illegal errichtete Stadtviertel, in die sich die Staatsgewalt nur in Form von schwer bewaffneten Elitetruppen der Polizei hineinwagt. Um die Herrschaft in den Favelas tobt seit Jahrzehnten ein blutiger Kampf zwischen lokalen Drogenbanden und aus korrupten Polizisten gebildeten Milizen, die sich die besten Verkaufspunkte für Drogen sichern wollen. 

In Rios postkartengleicher Südzone rund um die weltberühmten Strände Copacabana, Ipanema und Leblon kleben die Favelas an den Berghängen oberhalb der sündhaft teuren Wohnviertel der Mittel- und Oberschicht. Zwar ist die Bevölkerungszahl der Stadt seit zwei Jahrzehnten stabil. Doch immer weiter fressen sich die Favelas in die dichte Vegetation des Atlantischen Urwalds hinein. Hier wohnen die Hausangestellten der wohlhabenden Familien, direkt oberhalb ihrer Arbeitsplätze. Zentrale Lage mit Traumblick zur Null-Miete. 

Santa Marta ist die erste von vorerst 12 Favelas der Südzone die mit Betonsperren umzogen werden sollen. Insgesamt 15 Kilometer, die den Steuerzahler gut 40 Millionen Reais (14 Millionen Euro) kosten werden. Man wolle die weitere Ausdehnung der Favelas in die noch intakten Waldgebiete verhindern, hat Rios Gouverneur Sergio Cabral jüngst als offiziellen Grund für die "Bauwerke" angeführt. "Das Ziel ist es, die städtische Ordnung wiederherzustellen und zu verhindern, dass der Wald weiter in Mitleidenschaft gezogen wird", so Cabral. 

Doch Zweifel machen sich breit. "Es gibt drei Argumente für die Errichtung der Mauern: ein ökologisches, ein stadtplanerisches und die Paranoia der Mittelschicht", meint Rubem Cesar Fernandes, Direktor der NGO Viva Rio, die sich gegen Gewalt in der Stadt und für die Integration der Favelas einsetzt. Für Fernandes ist das ökologische Argument durchaus stichhaltig. Doch er fürchtet die Symbolik, die von der Mauern ausgehen kann. "Es wird bereits darüber diskutiert, auch um Favelas im Norden von Rio Mauern zu ziehen – und dort gibt es keine Wälder, die es zu schützen gilt."

Für viele Cariocas, wie die Einwohner Rios heißen, bilden die Favelas einen Schandfleck im sonst so perfekten Stadtbild. Und die aus den Favelas hinaus in die Stadt übergreifende Gewalt raubt so manchem den Schlaf. Erst vor wenigen Tagen lieferten sich Drogenbanden mitten in Copacabana eine Schießerei mit der Polizei, bei der fünf Banditen ums Leben kamen. Eine hohe Mauer mit wenigen leicht zu kontrollierenden Ein- und Ausgängen scheint da für manche eine nahe liegende Lösung zu sein.

Internationale Aufmerksamkeit erlangte der Mauerbau, nachdem der Literaturnobelpreisträger Jose Saramago das Projekt scharf angegriffen hatte. "Wir hatten die Mauer in Berlin. Wir haben eine Mauer in Palästina. Und jetzt haben wir die Mauern in Rio", schrieb der Portugiese Ende März in seinem Internet-Blog. Schlagwörter wie "Isolierung", "Diskriminierung" und "Ghettobildung" machten daraufhin in der Presse die Runde.   

 
Doch ganz so dramatisch sehen es die direkt Betroffenen dabei nicht. "Es hat immer schon Begrenzungsmauern zu den Nachbargrundstücken gegeben", sagt Jose Mario Hilario, Präsident der Vereinigung der Bewohner der Santa Marta.

"Wäre unser Volk zivilisiert, dann würden sie erst gar nicht in die Wälder vordringen. Aber so wie es ist, muss man halt zu drastischeren Mitteln greifen."

Gespalten ist die Meinung hingegen in der Favela Rocinha, in der 260.000 Menschen unter prekären Umständen leben. Hier soll am Montag mit dem Bau der 2,5 Kilometer langen Mauer begonnen werden, die den auf den Bergkämmen vorhandenen Grüngürtel schützen soll. Einen Park für die Anwohner will die Regierung hier errichten. 

"Wir sprechen hier nicht von einer Mauer, die die Freiheit der Menschen beschränkt oder etwa die Favela von der restlichen Stadt trennen soll", meint William de Oliveira, Präsident der "Populärbewegung der Favelas" (Movimento Popular das Favelas) und Bewohner der Rocinha. Für ihn ist es unabdingbar, die an besonders steilen und von Erdrutschen bedrohten Stellen einzuschreiten. "Oft bauen die Leute in Gefahrengebieten und da ist eine Begrenzung nötig, damit dies gestoppt wird." 

Anders sieht es jedoch Antonio Ferreira de Melo, Präsident der Vereinigung der Bewohner der Rocinha, der sich für eine symbolische Begrenzung in Form einer Straße, eines Rad- oder Fußgängerweges ausspricht. "Die Symbolkraft (der Mauer) ist die einer geteilten Stadt, der Trennung, und das wird die Vorurteile gegen die Favelabewohner noch verstärken", so Melo.

Text + Fotos: Thomas Milz

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