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[kol_2] Erlesen: Havanna und die Musikindustrie
2x Kuba im LIT-Verlag

Cornelius Schlicke
Tonträgerindustrie und Vermittlung von Livemusik in Kuba.
Populäre Musik im Kontext ökonomischer Organisationsformen und kulturpolitischer Ideologien


Die Länge des Titels von Cornelius Schlickes Studie über die kubanische Musikindustrie deutet schon darauf hin, dass es sich um eine Dissertationsschrift handelt. Aber das bedeutet nicht, dass sie trocken geschrieben wäre. Im Gegenteil, wer sich für das Thema interessiert, wird nicht nur mit einem detail- und kenntnisreichen Text belohnt, er erfährt auch Vieles über Kuba, dass auf den ersten Blick wenig mit Musik zu tun hat. Denn die Musikindustrie ist - wie vieles andere dort - wesentlich stärker in die staatliche (Kultur-)Politik einbezogen als in demokratischen Ländern. Hat doch die Regierung schon früh erkannt, wie wichtig eine Steuerung der kulturellen Inhalte ist, und heute außerdem, wie ertragreich Kultur/Musik sein kann. Deshalb regelt die Politik von der Ausbildung der Musiker über die Produktion und den Vertrieb von Tonträgern bis zum Konzert im Musikbereich alles. Wie und warum sich dieser Sektor entwickelt hat und auf welche Weise er funktioniert, schildert Schlicke ausführlich und unter Einbeziehung von Aussagen einer großen Anzahl Zeitzeugen.


Sehr interessant ist zum Beispiel das Kapitel über die Bedeutung des Buena Vista Social Club (BVSC) für die kubanische Musikindustrie generell, in dem der Autor detailliert die steigende Anzahl an Produktionen und internationalen Lizensierungen kubanischer Musik nach dem Erfolg des Projektes belegt. Oder auch die Passage über die Transformation der kubanischen Musikindustrie während der Krise zu Beginn der 90er Jahre, als es ausländischen Firmen gestattet wurde, dem Monopol des staatlichen Unternehmens EGREM Konkurrenz zu machen, mit schwerwiegenden Folgen für Letzteres. Die Kommerzialisierung führte nicht nur zu einer Abwanderung bekannter Interpreten zur internationalen Konkurrenz, sondern auch zu einer Verringerung von Projekten, die nur geringen ökonomischen Erfolg versprachen. Das Pendel schlug ins andere Extrem um: nun stand Kommerz zumeist vor künstlerischem Anspruch. In vielen Exkursen bringt der Autor uns aber auch Details aus dem Leben der Musiker näher - z.B. in der Darstellung eines Musikerwerdegangs (S. 374ff) -, beleuchtet das Publikum und seine Vorlieben oder die Rolle der (staatlichen) Medien für die Musik. Eine lesenswerte Arbeit, nicht nur für Musikinteressierte und Kubafans.


Gerhard Drekonja-Kornat (Hg.)
Havanna. Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft


Letztere können sich über ein zweites, im LIT-Verlag erschienenes Buch freuen. Der Wiener Historiker und Lateinamerika-Experte Gerhard Drekonja-Kornat hat einen Band über seine Lieblingsstadt Havanna herausgegeben. In der wunderbar zu lesenden Einführung schildert er mal ironisch, mal spannend die rund 40-jährige Entwicklung seiner Beziehung zur "Perle der Karibik", geprägt von Neugier, Freude und Hilfsbereitschaft, aber auch von Unverständnis und Ablehnung gegenüber vielen Ideen und Taten des Regimes. Er bindet weltgeschichtliche Ereignisse (Raketenkrise etc.) genauso in seine persönliche Geschichte ein wie Schicksale von Menschen, die er während seiner Besuche kennen gelernt hat.

Gerhard Drekonja-Kornat (Hg.)
Havanna. Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft
LIT-Verlag Wien, 2007, 176 S., 14,90 Euro

Doch natürlich bietet der Band über die trotz des Verfalls "vor Lebenslust, Talent, Kreativität und Schönheit" berstende Stadt noch mehr. Neun weitere Autoren widmen sich eng oder weit gefasst Themen wie der Architektur (3), Musik (3) oder dem Alltag der Bewohner, den Kurt Tschmelitsch in seinem Beitrag über das Barrio Colón eher literarisch verarbeitet. Sehr lesenswert: Adelheid Pichlers wissenschaftlicher Artikel über die Geschichte der (Alt)Stadt und ihren Verfall, Havannas Verhältnis zum Rest der Insel und die religiösen Praktiken seiner Bewohner, verknüpft mit persönlichen Erfahrungen und Zitaten aus der Literatur. Und auch Johanna Abels Beitrag über ein (inzwischen wieder geschlossenes) Kulturcafé eröffnet dem Besucher neue Perspektiven auf die Stadt und ihre Menschen. Christof Spörks Beitrag über das Verhältnis von Musik und Revolution gleicht einer Mini-Zusammenfassung der Dissertation von Schlicke, womit sich für den Rezensenten der Kreis schließt und er sich voller neuer Eindrücke, Fakten und Geschichten über Kuba zufrieden zurücklehnen kann.

Text: Torsten Eßer
Fotos: amazon

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