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[art_1] Spanien: Nazarenos - die Nebendarsteller der Semana Santa
 
Nie werde ich vergessen, wie einer meiner besten Freunde in Sevilla Anfang der 90er Jahre auf die Prozession der Macarena-Madonna wartend erklärte, er hätte keine Geduld, über tausend Nazarenos (mit langen Gewändern und Kapuzenmasken verkleidete Büßer) an sich vorbei ziehen zu lassen. Deshalb sei es besser, der Madonna entgegen zu gehen - ein wenig respektlos zwischen den dicht gedrängten Reihen der Zuschauer und Nazarenos hindurch.

San Esteban [zoom]
La Paz [zoom]

Die meisten Zuschauer warten in der Tat nur auf die prunkvollen Altarbühnen ("Pasos") und schenken den zu Hunderten vorbei schreitenden Nazarenos kaum Aufmerksamkeit, sondern unterhalten sich lieber angeregt, bis der nächste Paso am Ende der Gasse erscheint. Soviel Missachtung haben die unheimlich verkleideten Büßer jedoch nicht verdient. Denn was wäre eine Semana Santa Prozession ohne Nazarenos?  Sie sind zwar nur die "Nebendarsteller" und geben den Rahmen für die dramatischen Szenen um Christus und Maria, aber sie tragen entscheidend zur Atmosphäre dieses lebendigen Gesamtkunstwerks bei.

Im Dunkel der Nacht wirken die völlig schwarz gekleideten Nazarenos von Schweigebruderschaften wie El Silencio, El Gran Poder, Vera Cruz oder El Amor besonders unheimlich, während die vom Licht der aufgehenden Sonne angestrahlten "weißen" Nazarenos der Bruderschaft La Resurrección am frühen Morgen des Ostersonntags als Herolde der Auferstehung die Bühne betreten.

El Amor [zoom]
La Resurrección [zoom]

Besonders während des Höhepunkts der Sevillaner Semana Santa, der "Madrugá" (Karfreitagnacht) trägt der Kontrast zwischen den drei nächtlichen Schweigeprozessionen (El Silencio, Gran Poder, El Calvario), deren Nazarenos sich in strengem Schwarz präsentieren, und den weiß-grün bzw. weiß-violett kostümierten Nazarenos der drei volkstümlichen Bruderschaften (Macarena, Esperanza de Triana, Los Gitanos) dazu bei, den widersprüchlichen Charakter dieser Nacht hervor zu heben.

Estudiantes [zoom]
La Exaltacion [zoom]

Neben dieser dramaturgischen Funktion der schwarzweißen Farbensymbolik gibt es auch Nazarenos, die durch besonders prächtige Farben ihrer Gewänder auffallen: die purpurfarbenen Tunikas der Bruderschaften La O und Las Cigarreras, die in feierlichem Violett auftretenden Nazarenos von El Valle oder La Quinta Angustia, die glänzend scharlachroten Kapuzen von La Lanzada oder die bordeauxroten von El Cerro, die leuchtend blauen von San Esteban oder El Baratillo, das dunkelblaue Samt von La Carretería.

El Baratillo [zoom]
El Cerro [zoom]

Und es ist keineswegs so, dass alle 61 Semana Santa Prozessionen in Sevilla sich in ihrem Erscheinungsbild gleichen würden. Es gibt Bruderschaften, die besonders auf synchrone Bewegungen und harmonische Ordnung ihrer Nazarenos achten. Es ist ein ästhetischer Genuss, die disziplinierten Doppelreihen der Prozessionen von El Silencio, Pasión, Vera Cruz, El Amor oder La Amargura zu beobachten. Sie schreiten in exakt gleichem Rhythmus vorwärts, bewahren stets eine würdevolle Haltung und tragen die großen Altarkerzen oft "über Kreuz", so dass sie eine Art Tunnel aus Licht formen.

La Amargura [zoom]
La Lanzada [zoom]

Und auch innerhalb einer Prozession gibt es oft einzelne Nazarenos, die heraus ragen. Manche tragen Insignien (Standarten, Banner) an Stelle von Kerzen, andere können von Eingeweihten erkannt werden, weil sie verabredete "Erkennungszeichen" mit sich führen (z.B. Rosenkränze, profane Armbänder bzw. Armbanduhren oder markante Ringe) - obwohl dies gemäß der Regeln der meisten Bruderschaften ausdrücklich verboten ist. Zu traurigem Ruhm sind in diesem Zusammenhang zwei Nazarenos der Bruderschaft Cerro del Águila gelangt, die vor ein paar Jahren Spiegelreflex-Sonnenbrillen über ihrer bordeauxroten Kapuzenmaske trugen.

Da verzeiht man den zahlreichen als Nazareno-Zwerge verkleideten Kindern sehr viel eher disziplinarische Mängel oder Fehler in der Haltungsnote. Und natürlich sieht man viele Kinder, die während der stundenlangen Prozessionen die Maske hoch geklappt haben, weil es ihnen einfach zu dunkel wurde. Viele dieser Kapuzenzwerge werden noch von den Eltern getragen und haben Schnuller im Mund oder knabbern an Schokoriegeln.

El Baratillo [zoom]
La Exaltacion [zoom]

Bei den strengen schwarz verkleideten Bruderschaften gehen in der Regel nur Erwachsene mit und falls es sich um eine Schweige-Prozession handelt, kann man die interessante Zeichensprache beobachten, in der sich die Nazarenos verständigen. Jeder Abschnitt der Prozession hat einen "Diputado", der in seinem Bereich die Aufsicht führt und oft sieht man, wie er (oder sie) mit majestätischer Geste die Reihen ordnet. Oder man wird Zeuge von ganzen Dialogen in Zeichensprache, die von einem Nazareno-Paar geführt werden. Sind es Vater und Sohn oder Mutter und Tochter, die sich gegenseitig die Maske wieder zurecht rücken? Man weiß es nicht, aber manchmal kann man anhand der Bewegungen erahnen, ob ein Mann oder eine Frau sich unter der Maskierung verbirgt. Eines ist sicher: seit diesem Jahr (2011) dürfen in jeder der 61 Prozessionen in Sevilla auch Frauen mitgehen, denn nach einem erzbischöflichen Befehl mussten auch die letzten drei Bruderschaften, die bisher nur Männern die Teilnahme erlaubten (El Silencio, La Quinta Angustia, Santo Entierro), ihre konservativen Pforten für Frauen öffnen.

La Hiniesta [zoom]
La Hiniesta [zoom]

Eine sevillanische Freundin, die schon immer besonders rebellisch war, erzählte mir eine filmreife Geschichte. Vor einigen Jahren, als in ihrer Bruderschaft die Teilnahme von Frauen an der Prozession noch streng verboten war, nahm sie heimlich an Stelle ihres Bruders teil, indem sie sich mit seiner Tunika und Gesichtsmaske verkleidete - als einzige Frau unter über tausend Männern. Angeblich wurde dieser Schwindel nicht bemerkt. Und selten war eine "illegale" Handlung so Gott gefällig. Jedenfalls erzählt sie heute noch stolz von der spannenden Erfahrung, wie ein "trojanisches Pferd" die Reihen der Männer zu unterwandern. Dagegen wird sie ganz still, wenn man sie nach dem religiösen Gefühlserlebnis während der Prozession fragt.

San Esteban [zoom]
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Auch wenn es schwierig scheint, sich angesichts der touristischen Vermarktung und inmitten der Menschenmassen des Publikums in Sevilla auf Meditation zu konzentrieren, so erleichtert andererseits die Anonymität hinter der Kapuzenmaske vielleicht doch das Ausblenden der Umgebung und das Erlebnis tiefer Gefühle oder sogar einer religiösen Vision. Die Motivationen, als Nazareno in einer Prozession der Semana Santa teilzunehmen, sind sehr unterschiedlich. Einige folgen damit einer oft Jahrhunderte alten Familientradition, manchmal ohne allzu viel darüber nachzudenken. Andere erfüllen bewusst ein Gelübde und bitten oder danken für die Erfüllung eines Wunsches (z.B. Genesung eines kranken Freundes oder Familienangehörigen) oder sie suchen wie Pilger nach einer tiefen mystischen Erfahrung. Und ganz selten kann die Teilnahme an einer solchen Karwochen-Prozession in Sevilla sogar zu einem Pilgerweg zurück zum innersten Selbst werden und dort Türen öffnen, die manch einer schon für immer verschlossen glaubte.

Dulce Nombre [zoom]
La Amargura [zoom]

Doch eines haben alle Nazarenos in der andalusischen Hauptstadt unabhängig von ihrer Motivation gemeinsam: sie sind jedes Jahr bewusst oder unbewusst ein Teil des größten barocken Gesamtkunstwerks - der Semana Santa von Sevilla.

Text: Berthold Volberg
Fotos: Berthold Vorlberg / Vicente Camarasa

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