caiman.de 04/2007
[kol_1] Grenzfall: Economy Class Syndrom
Panikmache oder reale Gefahr? Ein Flug von Frankfurt nach Venezuela dauert 10,5 Stunden. In Zusammenhang mit solchen Langstreckenflügen berichteten spektakuläre Schlagzeilen in den Medien in den letzten Jahren regelmäßig über Todesfälle durch das sogenannte Economy Class Syndrom (auch Touristenklasse-Syndrom). Entsprechend verunsichert sind viele Reisende. Alles Panikmache, oder doch ein ernst zu nehmendes Problem? Dieser Artikel soll über den aktuellen Kenntnisstand zum Economy Class Syndrom aufklären und dabei insbesondere die folgenden Fragen beantworten:
Schließlich wäre es doch schade, wenn man sich die vielfältige Faszination Venezuelas entgehen ließe wegen ungerechtfertigter Angst vor dem langen Flug. Andererseits, was bringen Prophylaxen gegen Malaria, Gelbfieber oder Reisedurchfall, wenn man die vielleicht tatsächlich bestehende Gefahr eines Economy Class Syndroms ignoriert und schon auf dem Hinflug schwer erkrankt? 1. Was ist das Economy Class Syndrom? Beim Economy Class Syndrom kommt es zu einer Thrombose in den tiefen Beinvenen, verursacht durch das lange eingeengte Sitzen während eines Langsteckenfluges und/oder die besonderen Bedingungen innerhalb der Flugzeugkabine. Dabei ist der Ausdruck "Economy Class Syndrom" irreführend, denn Fliegen in der Business Class oder längere Fahrten in Bus, Bahn oder PKW können ebenfalls Thrombosen verursachen.
Die Thrombose ist eine Erkrankung der Gefäße, bei der sich ein Blutgerinnsel (Thrombus) im Gefäß festsetzt und den weiteren Blutfluss behindert. Dadurch kann das Gewebe nicht mehr mit Sauerstoff versorgt werden. Typische Symptome für tiefe Beinvenenthrombosen sind:
Allerdings verlaufen die meisten Thrombosen, ohne dass die Betroffenen etwas bemerken. Diagnostiziert werden kann eine Thrombose durch Doppler Sonographie (Ultraschall) oder den sogenannten D-Dimer-Test.
Dieser historische Bezug inspirierte 60 Jahre später die beiden israelischen Mediziner Galili und Bass zu der provokanten Folgerung, dass die Sitze in der Economy Class moderne Folterinstrumente seien und das Sitzen in der heutigen Economy Class sich praktisch nicht von dem Sitzen in Luftschutzbunkern während des 2. Weltkriegs unterscheide. Während bereits 1954 erstmals zwei Thrombosefälle beschrieben wurden, die nach einem 15-stündigen Flug auftraten, wurde der Begriff "Economy Class Syndrom" erst 1977 durch die britischen Ärzte Symington und Stack geprägt. Das wohl prominenteste Opfer einer Reisethrombose war der damalige US-Präsident Richard Nixon, der 1974 auf einem Flug in den Mittleren Osten eine Thrombose erlitt. Die anschließenden Komplikationen, einschließlich einer Lungenembolie, zwangen ihn zu mehreren Krankenhausaufenthalten und verhinderten damals seine Aussagen im Watergate-Skandal. 2. Wie gefährlich ist das Economy Class Syndrom? Trotz zahlreicher Indizien und wissenschaftlicher Daten gilt das Economy Class Syndrom bisher nicht als zweifelsfrei bewiesen. Zum Abschluss eines Expertentreffens der Weltgesundheitsbehörde WHO wurde 2001 ein als kleinster gemeinsamer Nenner anzusehendes Statement verfasst. Demnach wird ein kausaler Zusammenhang zwischen Flugreisen und thromboembolischen Ereignissen (tiefe Beinvenenthrombose und/oder Lungenembolie) vermutet. Die allgemeine Datenlage wurde als unzureichend eingestuft und es erfolgte keine Risikoeinschätzung. Seitdem sind zahlreiche weitere Studien durchgeführt worden, darunter das durch die Regierung Großbritanniens seit 2003 mit 1,8 Mio. € finanzierte WRIGHT-Projekt (WHO Research Into Global Hazards of Travel). Das entgültige Ergebnis dieser bisher größten Studie zur Reisethrombose war ursprünglich für Ende 2006 terminiert, steht jedoch noch immer aus. Die bereits veröffentlichen Zwischenergebnisse stehen im Einklang mit zahlreichen anderen Studien und bestätigen ein mäßig erhöhtes Thromboserisiko für alle Transportarten einschließlich Flugreisen. Demnach haben Langstreckenreisende (Flugdauer acht oder mehr Stunden) über alle Passagiere gemittelt ein zwei- bis vierfach erhöhtes Risiko, innerhalb von vier Wochen nach der Flugreise an einer Thrombose zu erkranken. Dabei muss jedoch stark differenziert werden, da verschiedene Personengruppen sehr unterschiedlich gefährdet sind (siehe unten).
Eine umstrittene Studie kam sogar auf durchschnittlich 10% asymtomatischer Thrombosen pro Langstreckenflug, entsprechend etwa 45-50 Passagieren. Die Anzahl symptomatischer Thrombosen (ca. 1:10.000 Passagieren) oder gar Lungenembolien ist deutlich geringer. Aber selbst bei einer geringen Gefahr durch das Economy Class Syndrom kann es angesichts 150 Millionen Flugreisender pro Jahr allein in Deutschland und zwei Milliarden weltweit zu einer nennenswerten Zahl an Todesfällen kommen. In Deutschland tritt jedes Jahr bei einem von Tausend Menschen eine Thrombose auf. 8.000 bis 10.000 Deutsche sterben laut statistischem Bundesamt jährlich an einer Lungenembolie. Wie viele dieser Todesfälle in direktem Zusammenhang mit dem Economy Class Syndrom stehen, ist umstritten. Schätzungen reichen von 0 bis 1.000. Aber auch wenn die Anzahl der Todesfälle nicht exakt beziffert werden kann, so dürfte es doch als praktisch gesichert angesehen werden, dass in Deutschland mehr Menschen durch das Economy Class Syndrom sterben als durch Flugzeugabstürze oder durch Malaria (drei Todesfälle in Deutschland in 2005). Geschätzte Anzahl thromboembolischer Ereignisse pro Jahr durch Flugreisen bezogen auf deutsche Flugreisende (150 Mio. Flugreisen pro Jahr)
3. Wer ist gefährdet? Wie bereits erwähnt ist die Gefährdung durch das Economy Class Syndrom nicht für alle Menschen gleich. So sind sich die meisten Experten heute einig, dass ein Langstreckenflug das Thromboserisiko für gesunde Menschen, auf die ansonsten keine weiteren Risikofaktoren zutreffen, nicht bzw. nur unwesentlich erhöht. Liegen jedoch weitere Risikofaktoren vor, so kann es zu einem erheblich erhöhten Risiko kommen. Es scheint so, als ob Langstreckenflüge die persönlichen Risikofaktoren noch verstärken. Die Aerospace Medical Association hat die Risikofaktoren je nach Ihrer Relevanz in drei Gruppen unterteilt: Geringes Risiko
Mittleres Risiko
Hohes Risko
Andere Expertengremien nehmen geringfügig andere Unterteilungen vor. Zum Beispiel wertet die WHO Übergewicht mit einem BMI > 30 als Faktor mit mittlerem Risiko. Im Rahmen des WRIGHT-Projektes wurden außerdem Körpergrößen kleiner als 1,60 m und größer als 1,90 m als mittlere Risikofaktoren auf Langstreckenflügen identifiziert.
Bei mittlerem oder hohem Risiko sollte vor einem Langstreckenflug unbedingt ein Arzt konsultiert werden. Dieser kann auf der Basis des individuellen Thromboserisikos gegebenenfalls weitere Prophylaxe-Maßnahmen empfehlen. Zum Beispiel haben sich verschiedene Kompressionsstrümpfe bewährt, die auch unabhängig vom Arzt in Apotheken erhältlich sind. Bei hohem Risiko sind zusätzlich blutverdünnende Medikamente in Betracht zu ziehen. Heutzutage werden meist Injektionen mit niedermolekularem Heparin empfohlen. Der konsultierte Arzt ist am besten in der Lage, Nutzen und Nebenwirkungen (z.B. erhöhte Blutungsneigung, Abfall der Blutplättchenzahl und bei längerfristiger Anwendung Osteoporose) von Heparin abzuwägen und ggf. die Dosis festzulegen. Nach Erklärung durch den Arzt kann sich der Reisende eine solche prophylaktische Injektion unmittelbar vor dem Flug selbst verabreichen. |