caiman.de 04/2007


[kol_1] Grenzfall: Economy Class Syndrom
Panikmache oder reale Gefahr?

Ein Flug von Frankfurt nach Venezuela dauert 10,5 Stunden. In Zusammenhang mit solchen Langstreckenflügen berichteten spektakuläre Schlagzeilen in den Medien in den letzten Jahren regelmäßig über Todesfälle durch das sogenannte Economy Class Syndrom (auch Touristenklasse-Syndrom). Entsprechend verunsichert sind viele Reisende. Alles Panikmache, oder doch ein ernst zu nehmendes Problem? Dieser Artikel soll über den aktuellen Kenntnisstand zum Economy Class Syndrom aufklären und dabei insbesondere die folgenden Fragen beantworten:

  1. Was ist das Economy Class Syndrom?
  2. Wie gefährlich ist das Economy Class Syndrom wirklich?
  3. Wer ist gefährdet?
  4. Wie kann man sich schützen?

Schließlich wäre es doch schade, wenn man sich die vielfältige Faszination Venezuelas entgehen ließe wegen ungerechtfertigter Angst vor dem langen Flug. Andererseits, was bringen Prophylaxen gegen Malaria, Gelbfieber oder Reisedurchfall, wenn man die vielleicht tatsächlich bestehende Gefahr eines Economy Class Syndroms ignoriert und schon auf dem Hinflug schwer erkrankt?

1. Was ist das Economy Class Syndrom?
Beim Economy Class Syndrom kommt es zu einer Thrombose in den tiefen Beinvenen, verursacht durch das lange eingeengte Sitzen während eines Langsteckenfluges und/oder die besonderen Bedingungen innerhalb der Flugzeugkabine. Dabei ist der Ausdruck "Economy Class Syndrom" irreführend, denn Fliegen in der Business Class oder längere Fahrten in Bus, Bahn oder PKW können ebenfalls Thrombosen verursachen.

Experten bevorzugen daher den Ausdruck "Reisethrombose". Das Economy Class Syndrom ist demnach eine Untergruppe der Reisethrombose und die Business Class schützt nicht vor dem Economy Class Syndrom!

Die Thrombose ist eine Erkrankung der Gefäße, bei der sich ein Blutgerinnsel (Thrombus) im Gefäß festsetzt und den weiteren Blutfluss behindert. Dadurch kann das Gewebe nicht mehr mit Sauerstoff versorgt werden. Typische Symptome für tiefe Beinvenenthrombosen sind:
  • Schwellung und Wärmegefühl im betroffenen Körperteil
  • gerötete und gespannte Haut, eventuell Blaufärbung
  • Spannungsgefühl und Schmerzen in Fuß, Wade und Kniekehle (Linderung bei Hochlagerung)

Allerdings verlaufen die meisten Thrombosen, ohne dass die Betroffenen etwas bemerken. Diagnostiziert werden kann eine Thrombose durch Doppler Sonographie (Ultraschall) oder den sogenannten D-Dimer-Test.

Der Thrombus kann sich mit der Zeit von allein wieder auflösen, kann allerdings auch lebensbedrohlich werden, wenn er sich löst, bis in die kleineren Gefäße der Lunge wandert und diese verstopft. Diese sogenannte Lungenembolie verläuft häufig tödlich und kostet jährlich allein in Deutschland etwa 10.000 Menschen das Leben.

Während eines Fluges herrschen im Flugzeug verschiedene Bedingungen, die eine Thrombose begünstigen können:

  • Immobilisierung durch beengtes Sitzen: Durch die Sitzposition sind die Venen fortwährend in der Leiste und der Kniekehle abgeknickt, was zu einer Verringerung des Blutflusses und damit einer erhöhten Gerinnungsneigung des Blutes führt.
  • Niedriger Luftdruck: Während des Fluges ist der Luftdruck der Kabine auf einen niedrigen Wert eingestellt, der ansonsten einer Höhenlage von 2500 Metern entspricht. Der ungewohnt niedrige Luftdruck bewirkt eine Ausdehnung der Venen und folglich ebenfalls einen verlangsamten Blutfluss.
  • Dehydratation: Die Luftfeuchtigkeit in der Kabine beträgt lediglich 3%, ist also deutlich niedriger als die Luftfeuchtigkeit am Boden von normalerweise mindestens 20-30%. Das entspricht einem trockenen Wüstenklima. Als Folge verliert der Körper Flüssigkeit und das Blut wird dickflüssig. Einen ähnlichen Effekt hat die Dehydrierung des Körpers durch das Trinken von Alkohol und/oder Kaffee während des Fluges.
Von den angeführten Kriterien wird das eingeengte Sitzen gewöhnlich als der Hauptgrund für das erhöhte Thromboserisiko während und nach Langzeitflügen angesehen, auch wenn bei einer aktuellen Studie an der Universität Leiden, Belgien, keine erhöhte Thromboseneigung infolge eines 8-stündigen Kino-Marathons mit vergleichbaren Sitzbedingungen beobachtet wurde.


Ein Zusammenhang zwischen langem eingeengten Sitzen und thromboembolischen Ereignissen ist schon seit dem 2. Weltkrieg bekannt, als es in den Luftschutzbunkern in London während der deutschen Luftangriffe zu einer auffälligen Häufung von Lungenembolien kam.


Dieser historische Bezug inspirierte 60 Jahre später die beiden israelischen Mediziner Galili und Bass zu der provokanten Folgerung, dass die Sitze in der Economy Class moderne Folterinstrumente seien und das Sitzen in der heutigen Economy Class sich praktisch nicht von dem Sitzen in Luftschutzbunkern während des 2. Weltkriegs unterscheide.

Während bereits 1954 erstmals zwei Thrombosefälle beschrieben wurden, die nach einem 15-stündigen Flug auftraten, wurde der Begriff "Economy Class Syndrom" erst 1977 durch die britischen Ärzte Symington und Stack geprägt.

Das wohl prominenteste Opfer einer Reisethrombose war der damalige US-Präsident Richard Nixon, der 1974 auf einem Flug in den Mittleren Osten eine Thrombose erlitt. Die anschließenden Komplikationen, einschließlich einer Lungenembolie, zwangen ihn zu mehreren Krankenhausaufenthalten und verhinderten damals seine Aussagen im Watergate-Skandal.

2. Wie gefährlich ist das Economy Class Syndrom?
Trotz zahlreicher Indizien und wissenschaftlicher Daten gilt das Economy Class Syndrom bisher nicht als zweifelsfrei bewiesen. Zum Abschluss eines Expertentreffens der Weltgesundheitsbehörde WHO wurde 2001 ein als kleinster gemeinsamer Nenner anzusehendes Statement verfasst. Demnach wird ein kausaler Zusammenhang zwischen Flugreisen und thromboembolischen Ereignissen (tiefe Beinvenenthrombose und/oder Lungenembolie) vermutet. Die allgemeine Datenlage wurde als unzureichend eingestuft und es erfolgte keine Risikoeinschätzung. Seitdem sind zahlreiche weitere Studien durchgeführt worden, darunter das durch die Regierung Großbritanniens seit 2003 mit 1,8 Mio. € finanzierte WRIGHT-Projekt (WHO Research Into Global Hazards of Travel). Das entgültige Ergebnis dieser bisher größten Studie zur Reisethrombose war ursprünglich für Ende 2006 terminiert, steht jedoch noch immer aus. Die bereits veröffentlichen Zwischenergebnisse stehen im Einklang mit zahlreichen anderen Studien und bestätigen ein mäßig erhöhtes Thromboserisiko für alle Transportarten einschließlich Flugreisen. Demnach haben Langstreckenreisende (Flugdauer acht oder mehr Stunden) über alle Passagiere gemittelt ein zwei- bis vierfach erhöhtes Risiko, innerhalb von vier Wochen nach der Flugreise an einer Thrombose zu erkranken. Dabei muss jedoch stark differenziert werden, da verschiedene Personengruppen sehr unterschiedlich gefährdet sind (siehe unten).


Was bedeutet dieses erhöhte Thromboserisiko nun in absoluten Zahlen und im Zusammenhang mit der Hintergrundgefährdung ohne Reisen? Pro voll besetztem Jumbo-Jet ist davon auszugehen, dass 4 - 20 Passagiere eine (nicht symptomatische) Thrombose entwickeln.

Eine umstrittene Studie kam sogar auf durchschnittlich 10% asymtomatischer Thrombosen pro Langstreckenflug, entsprechend etwa 45-50 Passagieren. Die Anzahl symptomatischer Thrombosen (ca. 1:10.000 Passagieren) oder gar Lungenembolien ist deutlich geringer. Aber selbst bei einer geringen Gefahr durch das Economy Class Syndrom kann es angesichts 150 Millionen Flugreisender pro Jahr allein in Deutschland und zwei Milliarden weltweit zu einer nennenswerten Zahl an Todesfällen kommen. In Deutschland tritt jedes Jahr bei einem von Tausend Menschen eine Thrombose auf. 8.000 bis 10.000 Deutsche sterben laut statistischem Bundesamt jährlich an einer Lungenembolie. Wie viele dieser Todesfälle in direktem Zusammenhang mit dem Economy Class Syndrom stehen, ist umstritten. Schätzungen reichen von 0 bis 1.000. Aber auch wenn die Anzahl der Todesfälle nicht exakt beziffert werden kann, so dürfte es doch als praktisch gesichert angesehen werden, dass in Deutschland mehr Menschen durch das Economy Class Syndrom sterben als durch Flugzeugabstürze oder durch Malaria (drei Todesfälle in Deutschland in 2005).

Geschätzte Anzahl thromboembolischer Ereignisse pro Jahr durch Flugreisen bezogen auf deutsche Flugreisende (150 Mio. Flugreisen pro Jahr)
Ereignis Spanne aller Studien Wahscheinlichster Wert
Asymptomatische Thrombose 10.000 - 35.000 6 Mio.
Symptomatische Thrombose 75 - 1,5 Mio. 10.000 - 35.000
Todesfälle durch Lungenembolien 0 - 1000 50-200

3. Wer ist gefährdet?
Wie bereits erwähnt ist die Gefährdung durch das Economy Class Syndrom nicht für alle Menschen gleich. So sind sich die meisten Experten heute einig, dass ein Langstreckenflug das Thromboserisiko für gesunde Menschen, auf die ansonsten keine weiteren Risikofaktoren zutreffen, nicht bzw. nur unwesentlich erhöht. Liegen jedoch weitere Risikofaktoren vor, so kann es zu einem erheblich erhöhten Risiko kommen. Es scheint so, als ob Langstreckenflüge die persönlichen Risikofaktoren noch verstärken.

Die Aerospace Medical Association hat die Risikofaktoren je nach Ihrer Relevanz in drei Gruppen unterteilt:
Geringes Risiko
  • Jede Reise länger als acht Stunden, wenn keine weiteren Risikofaktoren vorliegen
  • Alter > 40 Jahre
  • Adipositas (Übergewicht)
  • Akute Entzündung

Mittleres Risiko

  • Varikosis (Krampfadern)
  • klinisch relevante Herzerkrankung
  • Hormontherapie (z.B. Anti-Baby-Pille oder postmenopausale Hormonersatztherapie)
  • Polyzythämie
  • Schwangerschaft und postpartale Phase
  • Verletzung oder gelenkübergreifende Ruhigstellung einer unteren Extremität
  • Dehydratation

Hohes Risko

  • Angeborene Thrombophilie
  • Tiefe Venenthrombose in der Vorgeschichte
  • Thrombosehäufung in der Familie
  • Große OP (< 6 Wochen)
  • Maligne oder sonstige schwere Erkrankung
  • Früherer ischämischer Zerebralinsult (CVA, Schlaganfall)

Andere Expertengremien nehmen geringfügig andere Unterteilungen vor. Zum Beispiel wertet die WHO Übergewicht mit einem BMI > 30 als Faktor mit mittlerem Risiko. Im Rahmen des WRIGHT-Projektes wurden außerdem Körpergrößen kleiner als 1,60 m und größer als 1,90 m als mittlere Risikofaktoren auf Langstreckenflügen identifiziert.

Während bei den meisten Risikofaktoren jeder selbst feststellen kann, ob sie auf ihn zutreffen, hilft bei der angeborenen Thrombophilie nur ein Gentest*. Der wichtigste erbliche Risikofaktor ist die sogenannte "Faktor V Leiden"-Mutation, die bei 7% der Bevölkerung vorkommt. Wurde dieser Gendefekt nur von einem Elternteil vererbt (heterozygot), so erhöht sich das Thromboserisiko um den Faktor 5-10. In Zusammenhang mit Langstreckenflügen wurde laut WRIGHT-Projekt sogar ein über 35-fach erhöhtes Thromboserisiko festgestellt. Wurde die "Faktor V Leiden"-Mutation von beiden Elternteilen (homozygot, 0,1% der Bevölkerung) vererbt, so erhöht sich das Thromboserisiko sogar um den Faktor 80-100, unabhängig von Reisen.

4. Wie kann man sich schützen?
Je nach persönlichem Thromboserisiko werden unterschiedliche prophylaktische Vorsichtsmaßnahmen empfohlen. Bei niedrigem Risiko sind in der Regel allgemeine Maßnahmen, die stets für alle Flugreisenden sinnvoll sind, ausreichend:

  • Bewegungsübungen am Platz (z.B. Fußwippen oder "Flyrobics"-Anregungen der Lufthansa)
  • Bequeme, nicht beengende Kleidung tragen
  • Zurückhaltung beim Gebrauch von Beruhigungs- und Schlafmitteln
  • Viel trinken, aber Alkohol und Kaffee meiden
  • Toilettengang zur Bewegung nutzen

Bei mittlerem oder hohem Risiko sollte vor einem Langstreckenflug unbedingt ein Arzt konsultiert werden. Dieser kann auf der Basis des individuellen Thromboserisikos gegebenenfalls weitere Prophylaxe-Maßnahmen empfehlen. Zum Beispiel haben sich verschiedene Kompressionsstrümpfe bewährt, die auch unabhängig vom Arzt in Apotheken erhältlich sind. Bei hohem Risiko sind zusätzlich blutverdünnende Medikamente in Betracht zu ziehen. Heutzutage werden meist Injektionen mit niedermolekularem Heparin empfohlen. Der konsultierte Arzt ist am besten in der Lage, Nutzen und Nebenwirkungen (z.B. erhöhte Blutungsneigung, Abfall der Blutplättchenzahl und bei längerfristiger Anwendung Osteoporose) von Heparin abzuwägen und ggf. die Dosis festzulegen. Nach Erklärung durch den Arzt kann sich der Reisende eine solche prophylaktische Injektion unmittelbar vor dem Flug selbst verabreichen.

Vom Gebrauch von Aspirin zur Thrombose-Prophylaxe auf Langstreckenflügen wird übrigens wegen unzureichender Wirkung abgeraten!

Fazit
Es besteht kein Grund zur Panik wegen des Economy Class Syndroms. Für die meisten Personen besteht ein nur geringes, wenn auch reales Thromboserisiko im Zusammenhang mit Langstreckenflügen. Jedoch sollte sich jeder vor einem längeren Flug sein persönliches Thromboserisiko bewusst machen, z. B. durch einen einmaligen Thromboserisiko-Gentest, um ggf. in Absprache mit einem Arzt prophylaktische Vorsichtsmaßnahmen treffen zu können. So brauchen auch Personen mit einem hohen Thromboserisiko nicht auf Urlaubsreisen in weit entfernte Länder wie Venezuela verzichten, sondern können beruhigt deren Faszination genießen.

Text: Bernd Giese
Fotos: Bernd Giese + Dirk Klaiber

Infos zum Gentest
Ein Gentest zur Bestimmung des angeborenen Thromboserisikos kann anhand eines Abstrichs der Mundschleimhaut durchgeführt werden. Kosten: 149 €
JenaGen GmbH, www.jenagen.de