caiman.de 04/2006
[kol_3] Grenzfall: Kakerlake impulsiv - #1 #2 #3 #4
# 1 Zweimal im Jahr kommt der Schädlingsbekämpfer und befreit das Haus von Ungeziefer, genauer von Kakerlaken, Küchenschaben, Cucarachas, den ungeliebten Krabbeltieren, denen man auf Schritt und Tritt innerhalb der eigenen vier Wände begegnet. Zunächst scheinen die chemischen Eingriffe Früchte zu tragen, eine Woche später jedoch ist das Ungeziefer zurück. So zahlreich wie zuvor. Unsere Kakerlaken sind daumengroß, haben zwei Fühler, die die Körperlänge um das Doppelte übertreffen. Der Panzer ist braun und obwohl er nicht flach wirkt, passt er in jede Ritze.
# 2 Es ist der unbedachte Schritt der Nacht, wenn Durst den Schlaf unterbricht und man barfuß die Küche betritt: Knack, Knack, Knack. Drei Schritte, drei Treffer. Finden sich die Schuhe obgleich schlaftrunken, dann spart man sich den Glibber unter dem nackten Fuß. Findest sich der Lichtschalter, dann gleicht die Küche dem konfusen Durcheinander einer Großstadt aus der Vogelperspektive im Zeitraffer: Unzählige Kakerlaken tummeln sich auf Boden, Tisch und Spüle, an den Schränken, auf, neben und im Kühlschrank und rund um den Hundenapf. Licht bringt die Menge in Aufruhr und sie huscht geschwind den Ritzen entgegen, wo sie im Nu unsichtbar wird und die Küche nur eine Sekunde nach Betätigung des Lichtschalters wieder unbewohnt erscheint. # 3 das meer gegenüber dem eingang wasserfarbe hinter glas zwei cucarachas darauf eine in der linken, eine in der rechten unteren ecke des bildes entgegengesetzt, symmetrisch, diagonal köpfe und fühler nach unten gerichtet davor vollrum konzentriert seit stunden im begriff die komposition aufzulösen vergeblich zur klärung der sinne stärkung im kühlschrank tortillas und schwarzes bohnenmus bevor er den ersten bissen setzen kann erscheinen erst die fühler und dann der kopf und heißen ihn herzlich willkommen in américa latina # 4 Das, was mein Körper in dieser Nacht mit mir veranstaltet, liegt jenseits jeglicher Definition des Begriffs kribbeln. Ich weiß wovon ich spreche, denn ich gehöre zu den Menschen, die immer heiße Hände und Füße haben und nachts niemals eine Decke über den Füßen ertragen. Außer diese sind extrem kalt, was leider selten vorkommt. Denn obwohl kalte Füße den Körper ebenfalls vom Schlafen abhalten, so kann man doch wenigstens im Bett liegen bleiben, ein wenig Strampeln und durch die Reibung einen Auftauungseffekt erzielen oder mit List und Tücke versuchen, dem Partner, sofern er anwesend ist, die kalten Füße unter zu mogeln. Leider aber sind meine Füße fast immer heiß und das bedeutet, Füßeln wird zur größten Folter, ruhiges Liegen bringt mich um den Verstand. Aufspringen und kalte Fliesen suchen, Füße unter den Wasserhahn oder ins Eisfach gehören zum Alltag. Heute Nacht aber scheint es als haben Abermillionen kleiner Kakerlaken von meinem ganzen Körper Besitz ergriffen und ihn in einen Aqua-Vergnügungspark umfunktioniert. Das Blut zirkuliert mit rasender Geschwindigkeit durch die Adern, wie durch eine riesige Wasserrutsche, aufbrausend und in den Kurven überschwappend. Plötzlich herrscht Stillstand und der Schlaf setzt ein. Doch unmittelbar nach dem finalen Zucken, das die Glieder von der letzten Anspannung befreit, setzt das vergnügungsgetränkte Treiben erneut ein, heftiger als zuvor. Wasserspeier zur Beschleunigung der rutschenden Kakerlaken werden zugeschaltet, Hubbelpisten eingerichtet und eine Meeresbrandung simuliert. Ein inneres Brodeln jagt durch den Körper unzählige Zuckungen auslösend, die die Gesichtszüge verzerren und den Oberkörper aufbäumen lassen. Duschen, Whiskey, Autogenes Training: nicht das geringste Anzeichen des Erfolges stellt sich ein. Auf Ohnmacht folgt Zorn und das Verlangen reale Kakerlaken aufzuspüren und sie an die Wand zu klatschen. In der Küche öffne ich den Kühlschrank und überlege, ob Wasser oder Bier, als aus dem Bohnenmus erneut die Fühler und dann der Kopf der allwissenden Kakerlake auftauchen und sie spricht: "Du findest den inneren Frieden, wenn du eine Scheibe Käse zerteilst und die Stücke im Halbkreis angeordnet auf dem Küchenboden ausbreitest."
Text + Fotos: Dirk Klaiber |