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[art_4] Brasilien: Im Tal der Morgendämmerung

Der Reichtum eines Menschen liegt nicht in der Summe oder Verteilung seiner materiellen Güter, sondern in seiner Würde.
Vilela

Ich lese diese weisen Worte, die auf ein weißes Blatt Papier gedruckt an einer Säule hängen, und sehe hinüber zu Vilela, der umgeben von zahlreichen Souvenirs, Paraphernalien und Broschüren, die sein Konterfei tragen, hinter der Theke steht. Er sieht mir in die Augen, als erwarte er vielleicht, dass ich ihm ergriffen zunicke.

Der Mann, der seine eigenen Weisheiten weise genug findet, um sie an den Wänden seines Ladengeschäftes zu verteilen, ist eine prominente Persönlichkeit in einer kleinen Stadt nicht weit von Brasília, deren inzwischen 20.000 Bewohner sich seit fast vierzig Jahren auf eine neue Weltordnung vorbereiten.

Von der einen Wand blicken Bilder erleuchteter Geister auf uns herab - zum Beispiel Ayrton Senna. Und Juscelino Kubitschek, der Präsident Brasiliens, der Ende der 50er Jahre Brasília aus dem Boden stampfen ließ, die Hauptstadt des neuen Jahrtausends, in der heute esoterische Stadtführer verteilt werden, die den Besucher auf die unglaublich geheimen, geheimnisvollen und spirituell hochbedeutsamen Ähnlichkeiten der Stadt mit der ägyptischen Metropole Akhetaton von vor 3500 Jahren aufmerksam machen.

Die andere Wand ist mit Portraits einer imposanten, aufwendig frisierten Dame behängt, mit der die Geschichte des Vale do Amanhecer ihren Anfang nahm. 1957 begann die Lastwagenfahrerin Neiva Chaves Zelaya, Geister zu sehen. Der mächtigste unter ihnen war ein mit einem prächtigen Kopfschmuck aus weißen Federn behangener Indianerhäuptling, der spanisch sprach, sich als Vater Weißer Pfeil zu erkennen gab und fortan ihr spiritueller Mentor wurde.

Von Weißer Pfeil erhielt Neiva einiges Wissen, das allen anderen Menschen auf der Welt bisher vorenthalten worden war: Tatsächlich stammt die Menschheit von den Bewohnern des Planeten Capela ab, einer Rasse von physisch, wissenschaftlich und spirituell hoch entwickelten Wesen, die mit der Mission betraut wurden, die Erde zu besiedeln. Weil ihnen aber ihre physischen Körper nicht erlaubten, sich an den neuen Planeten anzupassen, mussten sie sich verwandeln. Sie wurden zu den halbgottartigen Equitumanern, die nicht nur geschlechtslos waren, sondern auch zwischen drei und vier Meter groß. Die Equitumaner kamen in Schiffen auf die Erde und ließen sich in der Andenregion nieder. Dort blieben sie 2000 Jahre, bis sie einer weltweiten Naturkatastrophe zum Opfer fielen, die ausgelöst wurde durch die Annäherung eines raumschiffartigen Objektes, genannt "Weißglühender Stern". Zu dieser Zeit war Weißer Pfeil der Kapitän des Weißglühenden Sterns und als solcher für den traurigen, aber spirituell-evolutionär nötigen Paradigmenwechsel auf der Erde verantwortlich; er sorgte für die Beerdigung der Equitumaner auf der heute bolivianisch-peruanischen Hochebene. Aus den Tränen des weißglühenden Sterns entstand dort der Titicaca-See.



Im Anschluss organisierte Weißer Pfeil die wenigen Überlebenden in Gruppen von jeweils sieben, die für die Neubesiedlung des Planeten sorgen sollten. Von nun an nannten sie sich Orixás - offenbar haben diejenigen, die die Orixás bloß für in Amerika und Afrika verehrte Götter afrikanischer Herkunft halten, das Gesamtbild aus den Augen verloren.

Aus den Gruppen der Orixás wiederum entstanden verschiedene Clans von Missionaren, die Tumuchis, großartige Künstler und Wissenschaftler, die den Krieg verachteten. Unter der Führung von Weißer Pfeil manipulierten sie planetarische Energien, bereisten die Welt in Schiffen und errichteten Monumente, deren Überreste noch heute zu besichtigen sind: Machu Picchu in Peru, die ägyptischen Pyramiden, die steinernen Köpfe auf der Osterinsel.

Die Tumichis wurden abgelöst von den kriegerischen Jaguaren, die, wiederum angeführt vom großen Krieger Weißer Pfeil, ebenfalls verschiedene Großartiges vollbrachten. So löste eine Zivilisation die andere ab, im Abstand von 2000 Jahren.

Nach der Geburt Jesu Christi entschied Weißer Pfeil, seine kriegerische Gestalt abzulegen und inkarnierte als Franz von Assisi, um in dieser Form nichts als Liebe und Willensfreiheit unter den Menschen zu verbreiten.

Im sechzehnten Jahrhundert war Weißer Pfeil Häuptling eines Indianervolkes in den Anden, und es gelang ihm nur durch die Weisheit der von göttlicher Liebe Erleuchteten, die er in den Augen trug, die spanischen Invasoren davon abzuhalten, auch die letzten Inka-Dörfer auszurotten.

Inzwischen ist die Anzahl der ihm gestatten Inkarnationen verbraucht, und so wählte er Neiva, um als sein Agent auf Erden zu wirken, und es war unter seiner Anleitung, dass sie 1968 mit dem Bau des Vale do Amanhecer begann, wo eine Elite von Wissenden den Anbruch des neuen Jahrtausends und der neuen Weltordnung erwarten sollte. Zuvor fand sie allerdings noch Zeit, Juscelino Kubitschek genaue Anweisungen für den Plan seiner Hauptstadt zu geben, deren Grundriss nicht etwa ein Flugzeug repräsentiert, das sich Ordnung und Fortschritt entgegen in die Lüfte schwingen soll, wie gemeinhin angenommen, sondern eine Allegorie des Heiligen Geistes.

Was hier eine Rolle spielt, ist Katholizismus, Protestantismus, Spiritismus, afro-brasilianische Einflüsse, Freimaurer- und/oder Rosenkreuzertum sowie weiteres Geheimbundwesen, Okkultismus theosophischer Prägung, UFO-Glauben, eine ganze Menge anderes Zeug - und die Kreativität einer offenbar sehr ausstrahlungsstarken Führergestalt, die all diese Dinge auf für nicht wenige Menschen überzeugende Weise zusammenbrachte. Tia Neiva, Tante Neiva, wie sie sich nach ihrem Erweckungserlebnis zu nennen begann, vollzog die Synthese aller ihr (in mehr oder weniger Tiefe) bekannten weltanschaulichen Strömungen, die Weltformel, die Widersprüche beseitigt und mit einem Mal alles erklärbar macht. Bestimmt nicht die einzige ihrer Art, umso weniger in Brasilien, aber doch die in ihrer äußeren Form beeindruckendste, die mir bisher unter die Augen gekommen ist.

Intoleranz kann man einem solchen Vorgehen auf den ersten Blick nicht vorwerfen. Wohl aber eine beträchtliche Rücksichtslosigkeit gegenüber den Feinheiten der einzelnen Glaubensrichtungen, deren Anhänger sich in Tia Neivas allumfassender Doktrin kaum wiederfinden werden.

Neiva starb 1985. Inzwischen besetzt eine Gruppe von ihr persönlich eingesetzter Medien die obere Spitze der sehr rigiden Hierarchie des Vale do Amanhecer - nicht ganz unangefochten, wenn man einem kritischen Kommentar glauben darf, den Vilela, Präsident des Vereins Arbeit und Licht (Associaçao Tralbalho e Luz - ASTRAL) im offiziellen Organ eben dieses Vereins veröffentlichte, dann fotokopierte und an der Wand seines Ladens aushing. Das ist nicht untypisch - viele solcher Bewegungen, die um charismatische Anführer wie Tia Neiva entstehen, leben nicht wesentlich länger als ihre Gründer und gehen an Nachfolgestreitigkeiten zugrunde. Wenn man bedenkt, dass sie schon über zwanzig Jahre tot ist, hält sich das Vale do Amanhecer sogar sehr gut und lebendig; es war ganz offenbar nicht allein die Figur Neivas, die die Anziehungskraft ihrer Doktrin ausmachte.

Wir stehen nicht lange in Vilelas Laden und betrachten Bilder, in denen Weißer Pfeil aussieht wie ein Häuptling bei Karl May, als sich uns einer der Adepten als Führer anbietet, ohne dass wir ihn darum gebeten hätten. Er trägt eine Schärpe in violett und gelb, ein schwarzes Hemd und darüber eine weiße Weste, auf der ein Kreuz prangt, ein Davidsstern und ein ganzes Sortiment weiterer Symbole, und das Braun seiner Hose ist eine Hommage an das Braun der Franziskanerkutten, im Anklang an Weißer Pfeils berühmteste fleischliche Form. Damit ist er nicht alleine: Nahezu die gesamte Bewohnerschaft des Vale do Amanhecer ist in Kleider gehüllt, die der Nichteingeweihte ignorant als naive, kindergeburtstagsartige Phantasieuniformen bezeichnen würde. Da sind ganze Massen flitterbunter Prinzessinnen mit wehenden Schleiern und Ritter mit Templerkreuzen auf Umhängen, mit hohen Stehkrägen, die mich unweigerlich an Graf Zahl denken lassen.



Gemeinsam vollführen sie auf einem weitläufigen Gelände komplizierte Rituale zwischen symbolüberladenen Monumenten aus bunt angemaltem Beton - Pyramiden, Elipsen, Wasser, Kreise, Pfeile, Kreuze, Sterne, Jaguare, Flammen, Pharaonen, Sonnen, Monde, Orixás - unter dem Kommando einer männlichen Stimme, die salbungsvoll und vollkommen unverständlich aus miserablen Lautsprechern tönt, unterbrochen von unsäglich schnulzigen Ave-Maria-Versionen. Oder sie trinken zwischendurch zur Entspannung eine Limonade und essen ein Eis.

"Ach, ihr seid Deutsche? Wir arbeiten hier auch mit zwei Deutschen, Dr. Fritz und Dr. Ralf. Große Heiler. Die behandeln hier alle möglichen Krankheiten. Beide im Ersten Weltkrieg gestorben", lässt uns unser Führer wissen. Mein Urteil ist schnell gefällt: Hier handelt es sich um die Art luftiger Patchwork-Spiritualität, zu der nicht wenige Menschen neigen, denen die materielle Behaglichkeit und Entzauberung das Leben sinnentleert hat - wenn auch mit einer Entschlossenheit durchgeführt, die ich so noch nirgends gesehen habe. Dann, als ich mit verschiedenen Leuten spreche, merke ich, dass es nicht ganz so einfach ist. Es sind nicht nur wohlstandsverwöhnte, gelangweilte Sinnsucher, die sich hier zusammenfinden.

"Ich kann dich reinlassen, wenn das Ritual zu Ende ist. Und frag mich nicht, was die Zeichen bedeuten! Da musst du jemand anderen fragen. Aber die Arbeit, die die Leute hier drin machen, mit den Geistern - kein Kinderspiel, dass sage ich dir. Schwere, gefährliche Arbeit."

Während ich warte und den rätselhaften Vorgängen auf der anderen Seite des Gittertores zuschaue, erzählt mir Maria, dass sie aus dem Nordosten kommt, aus einfachsten Verhältnissen. Seit 20 Jahren ist sie im Vale do Amanhecer, aber bald möchte sie zurück nach Paraíba.

Hier im Distrito Federal ist nämlich das Sterben zu teuer - da kann sich kein normaler Mensch ein ordentliches Grab leisten. Am Ende dauert mir das Ritual, das böse Geister auf den richtigen Weg bringen und neue Adepten initiieren soll, zu lange, und wir machen uns auf dem Rückweg.

In einer Pyramide, deren Inneres mit Abbildungen großer Pharaonen gepflastert ist, führe ich mir mit zwei Fingern eine Prise Salz aus einer Messingschale zwischen die Lippen, dann tauche ich den Zeigefinger in ein Becken mit parfümiertem Wasser und benetze mir die Schläfen. Einer, der auf einer Bank an der Wand in tiefe Meditation versunken schien, zischt mich an, wie man es in Brasilien tut, wenn man jemandes Aufmerksamkeit erregen will. Er gestikuliert: So musst du das machen, mit den Daumen. Eine prachtvoll gekleidete Frau reicht mir mit einem freundlichen Lächeln einen Becher Wasser, und ich sehe in ihren Augen, dass sie ganz sicher ist, etwas Gutes, Wichtiges für mich zu tun.

Es fällt mir sehr schwer, ernstzunehmen oder gar nachzuvollziehen, was so viele so verschiedene Menschen dazu treibt, sich einem offensichtlich so absurden Spektakel hinzugeben. Die Antwort kann jedenfalls nicht einfach sein, die Masse als dumm und die Anführer als Schwindler abzutun.



Ich kann mich nur unbeholfen daran erinnern, dass Absurdität relativ ist. Und wenn man wie ein guter Kulturforscher weiß, dass jede Tradition auch erfunden ist und die wenigsten Traditionen so alt und seit Generationen unverändert sind, wie sie sich ausgeben, gibt es wenig objektive Gründe, anderen Religionen mehr oder weniger Respekt entgegenzubringen als den Mystikern aus dem Tal der Morgendämmerung.

Ist aber schon lustig, wie albern die sich anziehen. Und Tia Neiva... diese Frisur.

Text + Fotos: Nico Czaja

Link:
Cavalcante, Carmen Luisa Chaves (2002): O Vale do Amanhecer e as Configurações de um Mito em Códigos Verbais, Cinéticos, Visuais e Sonoros: http://www.naya.org.ar/congreso2002/ponencias/carmen_luisa.htm