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[kol_3] Grenzfall: Santa Anna und das Schicksal Mexikos
 
Es begab sich im Jahre 1812, zu der Zeit als Mexiko noch "Neu-Spanien" hieß, dass der spanische Gesandte Luis de Onís seinem Vizekönig in der Hauptstadt über ein gar merkwürdiges Angebot berichtete. Die Regierung der USA habe ihn in Washington davon in Kenntnis gesetzt, dass sie alle Gebiete Neu-Spaniens (Mexikos) nördlich des Río Grande und vom Schnittpunkt desselben mit dem 31. Breitengrad ausgehend bis zum Pazifik "erwerben" wolle.

Um dieser Absicht Nachdruck zu verleihen, präsentierten verschiedene US-Regierungen zunächst Spanien und danach dem unabhängig gewordenen Mexiko Kaufangebote für seine "Nordgebiete": die heutigen US-Staaten Kalifornien, Arizona, Nevada, Utah, New Mexico, Texas sowie Teile von Colorado und Kansas. Alle Offerten der USA wurden entrüstet abgelehnt.

Doch nach seiner Unabhängigkeit wurde Mexiko zunächst noch nicht von den expansionslüsternen USA bedroht, sondern von einer europäischen Macht: Frankreich! Im "Kuchenkrieg" von 1838 spielten sich während einer kurzen französischen Invasion ein paar Scharmützel ab, aus denen der General Don Antonio López de Santa Anna (1794 – 1876) als "großer Held des Vaterlandes" hervorging. Santa Anna stellte einen Schusswechsel mit den schon fliehenden, im Rückzug befindlichen Franzosen als grandiosen Sieg dar.

In diesem militärischen Geplänkel traf ihn eine verirrte Kugel in den Unterschenkel, der darauf amputiert werden musste. Dies brachte den General auf die bizarre Idee, für das verlorene Beinsegment ein Grabmonument bauen zu lassen. Und so geschah es. Sein Unterschenkel wurde – begleitet von den Klängen einer Blaskapelle – mit militärischen Ehren bestattet und fortan als vaterländische "Reliquie" verehrt. Der Personenkult um Santa Anna und seine geopferte Beinhälfte trieb seltsame Blüten. Man verlieh ihm Beinamen wie "Salvador de la Patria" oder "Nuevo Mesías". Er selbst zog es vor, sich schlicht "Napoleón" zu nennen.

Santa Anna wurde insgesamt elf Mal Präsident von Mexiko, aber regierte fast nie eine ganze Amtszeit. Fünf Mal schickte man ihn ins "lebenslange" Exil.

Im Verlauf des Jahres 1845 hatte sich das Verhältnis zwischen Mexiko und den USA ständig verschlechtert und ein drohender Krieg lag in der Luft. Texas hatte seine Unabhängigkeit von Mexiko erklärt und votierte nun – nach massiver Einflussnahme der USA – für eine Annexion durch die USA. Dies konnte Mexiko unmöglich akzeptieren und der Kriegsausbruch stand unmittelbar bevor.

Währenddessen führte Santa Anna seit Anfang 1846 in seinem Exil in Havanna geheime Verhandlungen mit Abgesandten des US-Präsidenten Polk und schlug ihm einen dubiosen Deal vor: Wenn die USA ihm dazu verhelfen würden, in Mexiko wieder die Macht zu ergreifen, könnte er ihnen einen Schlachtplan zur Eroberung seines Landes liefern und würde als mexikanischer Oberbefehlshaber insgeheim mit den USA kooperieren und dafür sorgen, dass sie die in ihrer "Wunschliste" seit langem begehrten mexikanischen Nordgebiete erhalten würden. Für sein Entgegenkommen erwarte er einen kleinen Obulus von 30 Mio. US-$.

Mit der wohl abenteuerlichsten Legitimation, mit der je ein Krieg auf dem amerikanischen Kontinent eröffnet wurde, wurden die USA aktiv. Im April 1846 besetzte eine US-Armee mexikanisches Siedlungsgebiet nördlich des Río Grande, das ihrer Interpretation nach zu Texas gehörte, das inzwischen als US-Staat "aufgenommen" worden war. Der Fluss bestand aber nur in der Einbildungskraft der US-Regierung als Grenze, während die demografische Grenze zwischen angelsächsischen und mexikanischen Siedlern de facto deutlich weiter nördlich verlief. Und zwar dort, wo die Sprachgrenze heute noch verläuft: auf der Linie von San Antonio zum Río Pecos.

Die Absicht der USA war klar. Man wollte Mexiko durch die Okkupation solange provozieren, bis die Mexikaner angriffen, um dann den größten Eroberungskrieg im Amerika des 19. Jahrhunderts als "Verteidigungskrieg" darstellen zu können. Diese Rechnung ging (fast) auf, denn am 25. April 1846 fielen die ersten Schüsse gegen die US-Armee, woraufhin am 13. Mai die US-Regierung Mexiko den Krieg erklärte, mit den Worten: "Mexiko vergoss amerikanisches Blut auf amerikanischem Boden." (Amerikanisch mag dieser Boden gewesen sein, aber mit Sicherheit nicht US-amerikanisch). Aus dem Tagebuch des scheinheiligen US-Präsidenten Polk, das einen Quellentext von heute unschätzbarem Wert darstellt, geht hervor, dass er die Kriegserklärung schon Monate vorher geplant und schon Tage vor dem mexikanischen "Angriff" fertig formuliert in der Schublade liegen hatte. Er beklagte sich sogar, dass die Mexikaner trotz aller Provokationen "noch immer nicht schießen wollten." Es konnte also keinen Zweifel am enormen Kriegswillen der USA geben.

Santa Anna wurde – wie in den Geheimverhandlungen mit Polk vereinbart – durch die US-Seeblockade vor Veracruz geschleust und man verhalf ihm damit zu seiner Rückkehr. Am 15. September 1846 wurde er beim Einzug in die Hauptstadt wieder als "Salvador de la Patria" gefeiert. Derweil gingen die USA exakt nach dem von ihm empfohlenen Schlachtplan vor: vor den mexikanischen Häfen wurde eine Seeblockade errichtet und im Norden stieß man über Monterrey nach Saltillo vor. Präsident Santa Anna betrachtete Mexiko wieder als seine "finca privada" und als General führte er seine Truppen zu Niederlagen, während er gleichzeitig weiter geheime Verhandlungen mit dem Kriegsgegner unternahm. Ob Santa Anna die entscheidenden Schlachten des Krieges absichtlich verlor, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Es ist wahrscheinlich, dass er ein Doppelspiel betrieb. Durch seine Geheimverhandlungen wollte er die US-Regierung verwirren, er dachte nicht daran, sein Versprechen einer schnellen Niederlage Mexikos zu erfüllen, sondern versuchte, diese abzuwenden.

Aber nach der Landung von US-Truppen bei Veracruz war der Krieg eigentlich schon entschieden, Santa Anna kämpfte trotzdem weiter, um später als "Patriot" zu gelten. Als am 30. Mai 1848 der Friedensvertrag von Guadalupe-Hidalgo ratifiziert wird, durch den die USA als Siegermacht sich 60 % (!) des Staatsgebiets von Mexiko einverleiben, protestiert Santa Anna heftig gegen diese Friedensbedingungen, obwohl er sie doch selbst insgeheim vorgeschlagen hatte. Dies nennt man wohl kaum Patriotismus, sondern Perfidie.

Der Rest ist bekannt: die Machtverhältnisse auf dem amerikanischen Kontinent wurden entscheidend verschoben, die USA wurden zur Weltmacht zwischen zwei Weltmeeren und reklamierten die Begriffe "Amerika" und "amerikanisch" fortan für sich. Durch die Nordgebiete Mexikos vergrößerten sie ihr Staatsgebiet um 2 Mio. Quadratkilometer, wofür sie der mexikanischen Regierung die lächerliche Summe von 15 Mio. US-$ zahlten. Die Mexikaner, die in Santa Fe, San Francisco und Los Angeles leb(t)en, wurden zu Fremden im eigenen Land und damals wie heute diskriminiert, die Indianer des Südwestens nahezu ausgerottet.

Die Perfidie des korrupten Santa Anna, der Mexikos Schicksal im vergangenen Jahrhundert immer wieder verhängnisvoll mitbestimmte, wurde noch übertroffen von der unglaublichen Scheinheiligkeit des US-Präsidenten Polk. Dieser kommentierte den US-Sieg über Mexiko mit den Worten: "Die Grenzen der USA auszudehnen heißt die Grenzen der Herrschaft des Friedens auszudehnen."

Text: Berthold Volberg

Dieser Artikel stammt aus dem caiman-Archiv. Erstveröffentlichung: 3. ausgabe - köln, 01. märz. 2000

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