ed 03/2008 : caiman.de

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[kol_2] Grenzfall: Lokalpatriot? Ich? Wie kommst Du bloß darauf...



Ein sehr guter Freund von mir sagt immer: - Du bist wirklich der allergrößte Lokalpatriot! Mir ist das egal, denn Freunde können ja alles über uns sagen, natürlich nur die wirklich guten Freunde. Das Problem ist nur dass dieser verfluchte Freund allen seinen Freunden dies über mich erzählt. Auch jenen, die ich gerade eben erst kennen gelernt habe. Guter Freund, was? Nun gut, damit hat er mir wirklich eine Ananas ins Nest gesetzt, aber ich werde einen leckeren Nachtisch draus machen...

An jenem Tag waren wir gerade am Flamengo-Strand – ich bin ein riesiger Fan vom BAMOR-Fussballklub, und ich schreie sogar Baêa so laut ich kann – genauer gesagt waren wir an der Strandhütte von Lôro. Du weißt ja, wie es ist, oder? Salvador hat Strände an allen Ecken, die meisten Quadratmeter Meer ganz Brasiliens! Bahia ist der Bundesstaat mit der längsten Küste, und wir armen Lokalpatrioten nutzen das natürlich aus... Nun, diese Strandhütte ist sogar von Bel Borba gestaltet, und es gibt eine Abteilung für Massage, hölzerne Strandliegen und bunte Baumwollkissen, Kokoswasser, einen Haufen Donuts, Krebse, Lambreta, mit Sirifleisch gefüllte Muscheln etc, etc, etc.

Aber den Orixás sei Dank, die Freunde meines Freundes waren zufrieden. Es war Aschermittwoch in Salvador und sie hatten, um es mal mit einer unserer Redensarten zu beschreiben, "die Sache auf den Kopf gestellt", oder während des Karnevals "alles gegeben".

Die Dinge beim Namen zu nennen, verbietet sich mir, die ich die letzte "Dame aus dem Recôncavo" bin. Da nutzt es auch nichts, mehrmals nachzufragen! Ich bin ein rechtschaffenes Mädchen aus gutem Hause.

Nun, diese Freunde beschwerten sich nicht. Sie lobten das reichhaltige Angebot des Strandes, verglichen es mit dem in Rio und bekleckerten sich mit einer mit Koriander bestreuten Lambreta, lächelten, aber ich dachte mir, dass immer noch was fehlt. Wie konnte es ihnen hier nur so gut gefallen haben und trotzdem wollten sie noch vor dem Wochenende wieder nach Hause fahren? Wie bloß? Bei diesen Leute kann es sich nicht um ernsthafte (im Baianischen Sinne von ernsthaft) Menschen handeln oder aber sie haben etwas Essentielles verpasst. Meine weibliche Intuition sagte mir, dass den Jungs eine Runde Arrocha-Tanz fehlte. Und so sagte ich: Und der Arrocha? Habt Ihr gelernt, den Arrocha zu tanzen? Es sollte meine totale Niederlage folgen ... aber ich überspringe diesen Teil besser, auch deshalb, weil ich selbst natürlich überhaupt nicht Arrocha tanzen kann, keine einzige CD von Silvano Sales habe, dem "verknallten Sänger".

Weder habe ich ein Konzert von Nara Costa gesehen, noch an den Tanzwettbewerben im Colégio São Lázaro teilgenommen. Alles Lüge! Aber ich negiere dies sogar unter Androhung des Todes.

Um mich aus dieser dummen Situation zu befreien, wollte ich meinen Freunden auflisten, was sie alles hier hätten machen können. Natürlich bevorzugt zu zweit. Aber da hatte mich mein ach so guter Freund schon mit seinem ewigen "Vorsicht, sie ist ein Lokalpatriot!" schon zum Schweigen gebracht. Und so behielt ich meine Gedanken für mich, um sie jetzt und hier zu Papier zu bringen ... und ich denke, dass es mehr oder weniger Folgendes zu sagen gibt.

In Salvador dauert der Sommer das ganze Jahr über an. Und so ist die Strandstimmung mit den gebräunten Körpern, dem eiskalten Bier und all der Laszivität das ganze Jahr über wie eine Tätowierung präsent. Die wenigen Male, die es regnet, zwischen Juni und August, passiert dies nur, weil sich nass zu machen auch etwas Wunderschönes ist und die Baianos das sehr gerne tun. Die Freude, die man aus den kleinen Dingen des Lebens zieht, ist das Markenzeichen der Menschen hier. Aber Bahia besitzt noch andere Vorteile, die es sonst nirgendwo gibt, das ist das Problem. Natürlich das Problem der anderen, versteht sich...

Zum Beispiel: Eis am Stiel von Capelinha. Das gibt es in Form von Kokosgeschmack, mit Erdnussstücken, um die Substanz zu garantieren, in der Erdbeervariante, die man in Stücken lutschen kann, und natürlich Siriguela und Umbu für die Augenblicke, in denen die Hitze einfach unerträglich wird. Für jeden Geschmack etwas. Probier es aus!

Falls Du kein Eis am Stiel magst, kannst Du einfach mal an der Ribeira entlang fahren und dort das Eis probieren. Oh Leute, eiskalt ist das ... und die Waffeln erst, und wer sich für einen Becher entscheidet, der kann selbst noch den letzten Schluck aus ihm trinken. Ich empfehle: grüne Kokos und Pflaume, aber ich warne vor den exotischen Geschmackssorten wie jenes Rambutan. Da seht Ihr, wie sehr ich Lokalpatriot bin!

Meine Freundin Gi hat es ausprobiert und kann es nicht empfehlen, also werde ich es auch nicht tun. Aber natürlich könnt Ihr Euch irgendwas Neues ausdenken, wofür der Begriff Rambutan stehen könnte, benutzt einfach mal Eure Vorstellungskraft! Die Baianos an sich sind ein sehr kreatives Volk, und nachdem ich Terminologie studiert habe, bin ich jetzt dabei, die Begriffe auch anzuwenden. Gebrauch und Missbrauch.

In Bahia gibt es auch leckeres Brot, das "Pão delícia". Das zergeht im Mund ... das gibt es sowohl mit Füllung als auch ausgehöhlt, damit Ihr Eure eigene Füllung hinein tun könnt.

Es lebe die Moderne aus Bahia! In diesem Fall empfehle ich einfach, alles einmal auszuprobieren und sich voll zu stopfen. "Pão delícia" ist eine Delikatesse! Eine Frau aus Bahia macht jeden verrückt, wenn sie sich mit "Pão delícia" vollkleckert. [Nach Angaben des Sängers der Band Psirico, Márcio Victor, war es genau solch eine Erfahrung die ihn zu dem Karnevalshit ‘Toda Boa’ inspirierte. Die Melodie des Liedes kann man überall hören, auf den Straßen des Pelourinho oder in der Unterstadt, gesummt zu Flirts, Eroberungen und ähnlichen Unternehmungen.]

Dass die Brasilianerinnen eine Köstlichkeit sind, das wissen wir ja. Personen mit wundervollen Beinen, Brüsten, eine kompakte Körpermasse, aber die "Frau Typ todo boa" ist noch eine ganz andere Geschichte. Jungs, aufgepasst! Wen man eine Frau als "toda boa" bezeichnet, ist das 1000 Mal besser als lediglich zu sagen, dass sie "hot" ist. Und wenn man dazu noch den richtigen Tonfall trifft, aiaiai.

In der Abteilung "Süß – Sauer" gibt es noch die Läden von Perini, und da empfehle ich die "Coxinhas" (kleine tropfenförmige Teigwaren mit Füllung). Am besten die mit Catupiryu-Käse-Füllung.

Um ehrlich zu sein, esse ich ja alles (was von Perini kommt, klar!) und empfehle, viel und oft bei Perini zu essen. Und die Leute aus Bahia bekleckern sich gerne von unten bis oben, wenn sie Köstlichkeiten verschlingen. Oder wie sagt eine Freundin von mir: uiiiih!

Natürlich muss Acarajé dabei sein, aber ich will nichts hören von diesem Gelaber über kalt oder warm. In Bahia muss Acarajé immer heiß serviert werden, was nichts damit zu tun hat, ob man Pfeffersoße drauf tut oder nicht. Wer so etwas behauptet, hat wohl nichts anderes zu tun. Kalt? In Bahia? Junge, Junge, wer hat Dir denn so etwas verklickert? Die Stadt ist heiß, die Menschen sind warmherzig und die feuchte Luft macht das Klima erträglich. Bestell Dir Deinen Acarajé wie Du willst, aber vergiss es nicht. Iss! Und denke daran, dass Acarajé ein Essen der Götter ist. Biete der Göttin Yansã einen an, sie wird begeistert sein!

Wir leben nicht nur von Acarajé, doch Acarajé ist so etwas wie der Hamburger der Leute aus Bahia. Das Dendê-Öl wird hier wie sonst nirgends verwendet, probier eine Moqueca oder Bobó de camarão oder das Hühnchengericht Galinha de xinxim und mach Dir dabei die Finger schmutzig, aber vergiss nicht einen Caranguejo (Krebs) oder Meeresfrüchte zu bestellen. Das "Corongondé" Gericht stelle ich Euch erst gar nicht vor – geht einfach ins Restaurant Vital am Pelourinho und probier es aus! Diese wunderbare Manie alles mit den Händen zu fassen ... nun gut, ich glaube fest daran, dass alles mit den Händen beginnt, aber natürlich nicht mit irgendwelchen...

Nun, Früchte? Habt Ihr schon einmal eine Mango gelutscht bis Euch der Saft über die Arme lief? Oder solange Umbu gegessen bis die Zähne taub wurden? Oder eine weiche Jaca verspeist und danach Wasser getrunken? Oder Cajá mit Siriguela verwechselt?

Und habt Ihr Zuckerrohr gekaut und versucht, gleichzeitig zu pfeifen ... die Leute hier können das. Und da wir gerade über das Früchte vernaschen sprechen – Mädels, mal unter uns: Sagt mir bitte, habt Ihr schon einmal einen Afro-Brasilianer vernascht? Also, eine Frau kann sich nicht als komplett bezeichnen, wenn sie noch nie etwas mit einem Afro-Brasilianer hatte. Und die hier aus Bahia sind von allerhöchster Qualität, feinste Exportware. Ist Euch noch nie aufgefallen, wie verrückt die "Gringas" nach ihnen sind? Und noch ein Tipp: die, die nach Kokos riechen sind die besten ... und achtet auf die mit den Halsbändern!!! Und da wir schon mal bei Halsbändern sind, da gibt es die von der "Ghandi" Gruppe. Tauscht die Bänder gegen einen Kuss und spürt den Lavendelgeruch. Geruch ist alles im Leben!

Und jetzt ein Tipp für die Jungs: ist Euch schon einmal eine dieser Piriguete-Mädels untergekommen? Sensationell! Echte Piriguetes gibt es nur in Bahia. Wir sind dabei, die Frau ganz neu zu erfinden!

Wenn Du also noch nie einer begegnet bist, lauf hinterher. Es wird im schlechtesten Fall lustig werden. Aber seid vorsichtig, denn mit den Piriguetes läuft es so ab: wer sie nicht ausreichend beschäftigt, öffnet der Konkurrenz Tor und Tür und der nächste aus der langen Schlange darf ran. Nun sag mir mal, wo auf der Welt außer in Bahia hört man von solchen Dingen? Ich warte auf Eure Antwort...

Und nur in Bahia bereitet man sich das ganze Jahr über derart auf den Karneval vor, in jener wunderbaren Stimmung, die bei den Proben herrscht. Da gibt es den Cortejo afro, Negra cor, Ylê, Gerônimo und all die anderen großartigen Künstler, die die Welt schon kennt. Axé. Wir hier haben das alles das ganze Jahr über, doch während der Sommerfestivals bieten wir es allen großzügig an. Also, kommt hierher, auf geht’s!

Und jetzt noch ein Tipp für die Freunde meines guten Freundes, die Jungs aus Rio. Wenn Ihr hier gewesen seid und all die Dinge, von denen ich gesprochen habe, nicht kennt, dann tut es mir Leid. Ihr müsst noch so viel kennenlernen in Eurem Leben.

Und wenn Ihr diese Dinge schon erlebt habt, aber niemals über die Stadtgrenzen von Salvador hinaus gekommen seid, dann tut es mir umso mehr Leid. Bahia zu kennen, heißt auf den Straßen zu flirten, Hand in Hand spazieren zu gehen, den Sonnenuntergang in Humaitá zu sehen und jemanden an seiner Seite zu haben, der einem die kleinen Dinge in Bahia zeigt.

Cachoeira und Santo Amaro kennen zu lernen, Maniçoba zu essen, zu zweit in der Hängematte zu liegen und zu dritt aufzuwachen, die Plätzchen aus dem "Recolhimento dos Humildes" Museum in Santo Amaro zu probieren, unter den Vitória und Urubu-Wasserfällen zu baden, still eine kleine Samba zu tanzen, über die Praça zu spazieren und das Leben anzulächeln – das ist das Mindeste, was man tun kann. Macht es! (Hier zweite Fußnote einfügen: [All die Köstlichkeiten des Recôncavo wurden von der Autorin ausprobiert. Nach Rocha ‘ist es Sinn und Zweck ihres Informationswissenschaftsstudiums, die Möglichkeit zu haben, Dinge zu belegen’. Ich bestätige hier aber bereits im Voraus die Richtigkeit aller gegebenen Informationen und weise darauf hin, dass ihre Interpretation unzweideutig ist. Bahia kennen zu lernen, ist wie nach Mekka zu gehen: mindestens einmal im Leben muss man es tun. Und wenn mal einmal in Bahia war, ist klar, dass man immer wieder zurückkommen muss.]

Und außer dem Recôncavo hat Bahia noch das Gebirge der Chapada Diamantina zu bieten. Eine Tour zur Lapa Doce Höhle oder zur Pratinha, durch die Gruta azul – überall gibt es Trampelpfade denen man folgen kann. In der feuchtkühlen Nachtluft zu schlafen ist das Mindeste was man hier tun sollte. Denkt doch mal, wie romantisch das wäre. Stellt Euch den Mond vor. Bastelt Euch eine Halskette aus all dem was Ihr im Contas-Fluss findet. Lest Eure Zukunft aus den Muscheln heraus. Sucht nach den Außerirdischen in Capão. Und seid dankbar.

Nun, ich liebe die Stadt Natal; und ich liebte es, Ouro Preto kennen gelernt zu haben und dort ein Pão de Queijo gegessen zu haben; und Rio de Janeiro verzaubert mich jedes Mal mit seinen Naturschönheiten und ich sage mir: Rio de Janeiro hab ich mir verdient!

Die Menge an Informationen und Daten, die jeden Tag in São Paulo verarbeitet wird, erstaunt mich, und ich mag den schnellen Rhythmus der Stadt; Recife andererseits mag ich nicht, und so gibt es meiner Ansicht nach nur drei gute Dinge, die Pernambuco jemals hervorgebracht hat: meine Tochter, die dort geboren wurde, den schönsten Strand, den ich bisher gesehen habe (Porto de Galinhas – und seid Euch sicher, dass ich etwas von Stränden verstehe), und die Inselgruppe Fernando de Noronha; Aracaju hat die beste Shrimpssauce des ganzen Nordostens. Aus all diesen Gründen halte ich mich für eine Person, die fair mit dem Rest Brasiliens umgeht.

Nun, ich werde unerträglich wenn ich über Bahia spreche. Das hat seinen Grund in dem Ausspruch eines Freundes von mir – demselben, der an jenem Tag am Strand mein demokratisches und partizipatives Image zerstört hat. Er sagte, nachdem ich mir meine Tätowierung hatte machen lassen (drei Sterne, die Yemanjá freundlicherweise von ihrem Kleid abnahm und mir gestattete, sie mir an jenem 2. Februar vor fünf Jahren einzutätowieren): „Meine Herren, jetzt bist Du also eine 5-Sterne-Frau!" Und ich entgegnete prompt: „Ganz genau, mein Freund! Drei habe ich hinter meinem Ohr tätowiert, eine sternförmige Wunde dazu an meiner linken Hand, und den fünften Stern kann ich auch noch zum Vorschein bringen." Nur in Bahia kann es eine 5-Sterne-Frau geben ... ich bin mir sicher, dass es in den anderen Ecken dieser Welt auch Dinge mit ungeraden Zahlen gibt, aber in Bahia ist alles im Plural!

So, ich habe meinen kleinen Bericht vollbracht. Wenn Du glaubst, dass es etwas Besseres auf der Welt gibt – schicke mir Deinen Bericht. Bahia wird Dich stets mit offenen Armen empfangen. Vorsicht lediglich mit dem Arm, der zu einer Schlinge wird...

Cheiro.

Text: Ana Karina Rocha de Oliveira
Fotos: Ana Karina Rocha de Oliveira + Thomas Milz

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