caiman.de 03/2006

[art_3] Guatemala: Allein gelassen mit dem Klimawandel

Monate nach Hurrikan Stan kämpfen die Menschen in Guatemala noch immer mit den Folgen der Katastrophe. Und der nächste verheerende Sturm kommt bestimmt.

"Gott gibt das Leben, und Gott nimmt es. Damit tröste ich mich und die Kinder, die mir noch geblieben sind." Leonardo Sotos Calante spricht mit einer Stimme, die jedes Gefühl verloren hat. Seine Augen blicken leer, er reißt sich zusammen, versucht stark zu sein, und bittet den Abgesandten der Diözese San Marcos den Besuchern zu zeigen, wo vor drei Monaten noch sein Laden stand und er mit seiner Familie lebte. Der 53-jährige schafft es nicht selber dorthin zu gehen, wo vormals das Zentrum des Dorfes gestanden hat.



"Das hier", sagt Enrique Gonzales, und zeigt mit einer weit ausholenden Bewegung auf ein Trümmerfeld, "war die Plaza. Zwei Kirchen, eine Schule und einige Geschäfte." Der Hurrikan Stan hatte tagelang starke Regenfälle verursacht. Am 7. Oktober rutschte der Hügel oberhalb des Dorfes Cuá im Norden Guatemalas unter der Last der Wassermassen ab. Die Schlammlawine begrub Leonardos Frau, drei seiner Kinder, seine Mutter und eine Schwester. Vernichtete seinen Laden und nahmen ihm sein Auskommen. Enrique stapft über Lehm und Mauerbrocken. Seine Stiefel sind weiß von dem Kalkstaub, der ausgestreut wurde um Seuchen zu verhindern. "Eine Stunde nach dem Erdrutsch war ich hier und habe mitgeholfen, Tote und Verletzte zu bergen. Die meisten Verletzten starben noch auf der Ladefläche des Pickups, mit dem wir sie ins Krankenhaus bringen wollten." Seine Stimme klingt plötzlich rau, verlegen wischt er sich über die Augen.

28 Menschen kamen hier ums Leben, das ist die offizielle Zahl. Es waren aber eher 40 Todesopfer. Zwölf der Leichen werden wohl nie geborgen werden. Eine von ihnen ist Leonardos 15-jährige Tochter.

Gut drei Monate ist es jetzt her, dass Stan über Mittelamerika hinweg tobte. Nach offiziellen Angaben kamen in Guatemala 669 Menschen ums Leben, 844 gelten als vermisst. Hilfsorganisationen sprechen jedoch von mindestens 6.000 Todesopfern. Laut der guatemaltekischen Regierung sind etwa eine halbe Million Menschen direkt von der Katastrophe betroffen, indirekt leiden 3,5 Millionen Menschen unter den Folgen des Hurrikans – das sind 30 Prozent der Gesamtbevölkerung. Überall in dem Entwicklungsland, in dem schon vor dem Hurrikan 80 Prozent der Menschen in Armut lebten, sind die Verwüstungen sichtbar. Bäche wurden zu wilden Strömen, die Straßen, Brücken und Häuser mitrissen. 900 Erdrutsche begruben Strom- und Telefonmasten, ja, ganze Dörfer unter sich.

Die Region San Marcos ist am schlimmsten betroffen und bislang beschränkt sich der Wiederaufbau im ohnehin rückständigen Norden des Landes zumeist darauf, mit Bulldozern die Hauptstraße notdürftig frei zu räumen. Im Süden greifen die reichen Zuckerrohrbarone zur Selbsthilfe und nehmen die Rekonstruktion der Brücken selber in die Hand.

Doch in der armen Bergregion sind die Menschen auf Hilfe von außen angewiesen. Es kommt nicht viel an, und wenn, dann zumeist von kirchlichen Organisationen.


Die Caritas lässt Mais und Bohnen verteilen, einige Hilfsorganisationen bauen neue Hütten für die Obdachlosen.

Ebenso schlimm trifft die Bauern der Verlust der Ernte. 60 Prozent sind verloren, und für eine Bevölkerung, die hauptsächlich von dem lebt, was sie anbaut, bedeutet das Hunger. Seit der Katastrophe klopfen jeden Tag 15 bis 20 Menschen an Enriques Tür und bitten um Lebensmittel.  "Die Leute hier wissen nicht mehr, was sie essen, und schon gar nicht, was sie für die kommende Ernte aussäen sollen." Überdies gilt ein Drittel der Ackerfläche des Landes nach dem Hurrikan als verloren.

Die Wirtschaftskommission für Lateinamerika (CEPAL) geht von rund einer Milliarden US$ Schäden aus, und hat errechnet, dass das Bruttosozialprodukt Guatemalas – ohnehin eines der ärmsten Länder der Region - 2005 durch den Hurrikan um 3,4 Prozent zurück gegangen ist.

Laut CEPAL ein relativ geringer Verlust, angesichts der Tatsache, dass Millionen Menschen von dem Unglück betroffen sind. Dieses Missverhältnis komme daher, dass die betroffenen Menschen zu der verarmten Landbevölkerung gehörten und daher wenig zur Wirtschaft des Landes beitrügen.

"Während die Makroökonomie durch den Hurrikan keine Probleme hat, drohen in einigen Regionen des Landes Hungerepidemien. Das bestätigt, dass in unserem Land der Reichtum nicht gerecht verteilt ist", kommentiert Eduardo de León von der guatemaltekischen Stiftung Rigoberta Menchú die Studie. "Die Katastrophe trifft die Armen."

Mittelamerika hatte doppelt Pech. Während hier die Regenmassen das Land verwüsteten, verwandelte ein Erdbeben den Norden Pakistans in einen Trümmerhaufen. Die Katastrophe in Guatemala blieb von der Weltöffentlichkeit fast unbemerkt, und die Spenden blieben aus. "1998, als Hurrikan Mitch hereinbrach, da bekamen wir viele Spenden. Dabei war Mitch im Vergleich zu Stan gar nichts", erinnert sich Enrique. 1989 Mitch, 1999 George, 2005 Stan. Und die Kette der verheerenden Stürme wird wohl auch in Zukunft nicht abreißen. "Seit etwa zehn Jahren verändert sich hier das Klima rasant", beobachtet Marco Lopez Maldonado vom technischen Team für Bauern der Diözese San Marcos. "Es sind nicht nur die Stürme, die wir jetzt viel heftiger und häufiger erleben als früher. In der Regenzeit regnet es nicht mehr kontinuierlich, sondern nur noch ab und zu, dann aber so heftig, dass der fruchtbare Boden weggeschwemmt wird. Dann kommt eine Trockenperiode, es wird wärmer und die Sonne brennt heftiger als noch vor ein paar Jahren."



Den Klimakatastrophen zu entkommen, das ist unmöglich. Viele verlassen zwar ihre Häuser in den Tälern, um den bei Regen heftig anschwellenden Bächen zu entkommen. Doch an den Hängen drohen Bergrutsche. Die Topografie in der von Bergen zerklüfteten Region bietet kaum Schutz. "Was wir brauchen, ist ein massives Aufforstungsprogramm, eine nachhaltige Agrarreform. Aber das muss von der Regierung kommen. Man kann von Bauern, die täglich um ihr Überleben kämpfen, nicht verlangen, dass sie Bäume statt Mais pflanzen", erklärt der Leiter des Katastropheneinsatzes. Doch stattdessen, so Maldonado, erlaube die Regierung, dass immer weiter Bäume gefällt werden. Aber das eigentliche Problem, so sagt er "seid Ihr in den reichen Ländern. Ihr verbraucht wie verrückt die Energie und heizt das Klima an. Und uns lasst Ihr dann hier mit den Problemen alleine."

Die Menschen helfen sich gegenseitig, so gut sie können. "Die Solidarität zwischen den Bauern ist beeindruckend", hat Enrique beobachtet. "Wer etwas hat, der teilt es mit den Nachbarn, die alles verloren haben." Die Diözese San Marcos schickt ein paar Therapeuten, die versuchen, den Kindern über das Trauma hinweg zu helfen. Traumatherapie auf guatemaltekisch bedeutet, die Kleinen mit Stöcken auf eine Piñata einschlagen zu lassen, bis diese platzt und die Süßigkeiten herausfallen.
"Damit sie wenigstens ein paar schöne Erinnerungen haben, die das Grauen verdrängen", erklärt die Psychologin Marisol.

Eines von den Kindern ist Leonardos Sohn. Fröhlich stürzt er sich auf die Süßigkeiten, die aus dem Weihnachtsmann aus Pappmaché fallen. Sein Vater schaut zu.

Und tatsächlich kann er für einen Moment lächeln. "Wir müssen nach vorne sehen und unser Leben weiter leben, das Beste aus dem machen, was uns geblieben ist. Es hat keinen Sinn, zurückzuschauen."


Text: Katharina Nickoleit
Fotos:
Christian Nusch

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