caiman.de 03/2005
[art_3] Brasilien: Geschichten eines brasilianischen Gringos
São Paulo Morry Kepp sprühte nicht gerade vor Begeisterung nachdem er St. Louis, Missouri, im US-amerikanischen Landesinnern verlassen hatte, um seinen Sohn in Rio de Janeiro zu besuchen. "Ich fand es aufregender durch ein Altenheim zu latschen", sagte er. Keine typische Reaktion für einen Gringo, der die Cidade Maravilhosa, die wunderschöne Stadt, besucht. Aber mit seinem nicht-existenten Portugiesisch und ohne auf eine Menge Englisch sprechender Menschen zu treffen, fühlte sich Morry seiner Lieblingsbeschäftigung beraubt: witzige Geschichten zu erzählen, die oftmals von seinen eigenen sexuellen Ausrutschern berichteten, und mit denen er besonders unter Frauen einen Chorgesang aus kollektivem Gelächter erntete.
Viele der Texte wurden bereits in der brasilianischen Presse veröffentlicht, beispielsweise in der Tageszeitung Folha de S. Paulo oder dem Magazin Exame. Andere dagegen sind bisher unveröffentlicht. Fast immer mit Humor und feiner Bobachtungsgabe beschreibt Michael Kepp die Details des brasilianischen Alltags, zeigt seine Kämpfe mit dem Land auf, in das er sich verliebt hat, die Schwierigkeiten sich mit ihm zu arrangieren und es zu verstehen. Ebenso wie Mikes Selbstcharakterisierung als "brasilianischer Gringo" bilden seine Texte eine Mischung aus zwei Traditionen. Auf der einen Seite erinnern sie an Selbstbeichten, wie sie in den 90er Jahren in den USA in Mode waren und oft den eigenen Kampf gegen Drogensucht und Krebsleiden beschrieben. Zum anderen nähern sie sich an die in Brasilien so populäre Form der Crônica an, die Gewohn- und Eigenheiten des Volkes auf die Schippe nimmt. So beschreibt Kepp in der Crônica "Was man mit dreckigen Tellern macht" ein brasilianisches Phänomen, das allen hier wohnenden Ausländern sofort ins Auge springt - die Unmöglichkeit brasilianische Jugendliche dazu zu bewegen, in irgendeiner Form im Haushalt Hand anzulegen. "Abwaschen hört sich eigentlich wie eine recht unschuldige Arbeit an", schreibt Kepp. "Aber von einem brasilianischen Jugendlichen aus der Mittelklasse zu verlangen, sich die Hände ausserhalb seiner Surfaktivitäten nass zu machen, gleicht eher einer Kriegserklärung." Kepp hat das am eigenen Leib mit seinen Stiefkindern erfahren müssen. Doch er hat diesen Kampf überlebt und kann uns so seine Erfahrungen weitergeben. Niemals "Nein" zu sagen ist eine weitere brasilianische Angewohnheit, die auf Kepp ebenso befremdlich wirkt wie auf die meisten Gringos.
"Da hat es wohl ein Nicht-Zusammenkommen gegeben", war die übliche Aussage der brasilianischen Gegenüber, wenn ich nach Genugtuung sinnte. "Die Idee des Nicht-Zusammenkommens ist für uns Amerikaner so abwegig, dass es noch nicht einmal ein passendes Wort für seine Übersetzung gibt", schreibt Kepp. Indem er solche Beobachtungen für das brasilianische Publikum produziert, tritt Kepp selber in eine andere Tradition ein - die der "Brasilianistas", der ausländischen Brasilienkenner, die immer wieder im nationalen Dialog auftauchen, um ihren Senf abzugeben. In "Sonhando" bearbeitet Kepp dieses Feld, analysiert die Effekte, die Äusserungen von Ökonomisten wie Paul Krugman von der Princeton University und Rudiger Dornbusch vom Massachussets Institute of Technology auf die brasilianischen Märkte haben. "Ich erwarte nicht, den brasilanischen Ökonomisten Roberto Campos auf der ersten Seite der New York Times zu sehen, wo er Ratschläge über die amerikanische Ökonomie gibt", schrieb Kepp 1999. Wenn wir Sokrates glauben können, dass das nicht analysierte Leben nicht lohnt, so lohnt sich Kepps Leben sehr. Er analysiert alles, was man sich vorstellen kann, sogar den eigenen Analysten, der ihn von seiner Schlaflosigkeit befreien sollte. Er findet sogar eine Möglichkeit, sich vor den Fragen von Freunden zu drücken, die wissen wollen, was seine Kinovorlieben seien.
Viele dieser Beobachtungen bringen einen zum Lachen. Manche zum Nachdenken. Manche auch zu beidem. Wenn Sie das Buch in einer Buchhandlung entdecken, dürfen Sie aber auf keinen Fall "Nein" sagen. |