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[art_1] Brasilien: Die guten alten Zeiten - Der ewig alte-neue Carnaval in Rio

In Rio de Janeiro scheinen die Uhren seit Jahren still zu stehen. Die Kellner der in die Jahre gekommenen Restaurants der Copacabana tragen noch immer ihre 70er Jahre Uniformen, die so sehr nach Fußballweltmeisterschaft 1974 aussehen, und der gute alte Bossa Nova, der gerne aus den Lautsprechern diverser Bars dringt, schlägt die Brücke zurück in die goldenen 50er und beginnenden 60er Jahre, als die Welt noch in Ordnung, Brasilien eine aufstrebende Nation war und von einem anderen Weg in die Zukunft träumte. Dann kam die Militärdiktatur, danach die verlorenen 80er und dann die neoliberalen 90er Jahre mit ihren Privatisierungen all der staatlichen Gesellschaften, die man so zukunftsfroh in den 50ern gegründet hatte.


Rio hat immer noch diesen Vergangenheitsswing, durchbrochen nur durch die grauen Betonpfeiler der sich durch die Stadt schneidenden Hochautobahnen. Und genau an diesen Pfeilern sind jetzt zahlreiche Prunkwagen der Carnavalsgesellschaften auf ihrem Weg zum Sambódromo hängen geblieben. Auf der zum Busterminal Rio Novo führenden Avenia Brasil reihen sich Hunderte von Autobussen auf, die Fahrgäste recken ihre neugierigen Köpfe aus den Fenstern, um besser sehen zu können, warum es nicht weiter geht. Viele steigen aus und marschieren in einer endlosen Schlange im goldgleissenden Abendlicht der untergehenden Sonne ihrem Ziel entgegen.

Es ist Sonntag abend, kurz vor dem Beginn des ersten Tages des großen Aufmarsches der 14 besten Sambaschulen Rio de Janeiros. Schaulustige Touristen umringen die eingekeilten Prunkwagen, während kleine Jungs versuchen, ihnen die Kameras aus den Taschen zu stibitzen. Mitten auf einer breiten Avenida steht ein verlassener Wagen, gezogen von riesigen Pferden aus Pappmaché. Die lautlos in der Luft wirbelnden Hufe dem blauen Himmel entgegen gestreckt. Vielleicht wäre das das beste Bild des diesjährigen Carnavals geworden, doch wir sind in einem Bus eingeklemmt, der in unglaublicher Geschwindigkeit über die durchlöcherten Straßen dahinfliegt.


"Ich weiss, dass die Preise hoch sind, aber Carnaval ist die einzige Zeit des Jahres, in der wir wirklich ein bisschen Vorteil rausziehen können." Der portugiesische Hotelbesitzer guckt uns durch seine dicken Brillengläser an. Er versteht nicht, wieso zwei Leute zusammen in einem Einzelzimmer übernachten möchten. Und dafür natürlich nur den Preis für eine Person bezahlen wollen. "Ich bin der Hotelbesitzer, und ich dulde keinerlei Schweinereien in meinem Hotel!"

Noch einmal versuchen wir zu erklären, dass ich die Nacht im Sambódromo damit verbringen werde, hübsche Fotos zu schießen, während mein argentinischer Journalistenkollege in aller Ruhe schlafen wird. Morgens wechseln wir dann einfach - wozu also ein Doppelzimmer. "Hm hm…", raunt der potugiesische Hotelbesitzer hinter seiner dicken Brille in unsere Richtung.

Das Sambódromo vibriert bereits als ich um kurz nach 21 Uhr eintreffe. Der Kollege aus Argentinien hat sich mit seinem Journalistenausweis kostenlosen Zugang zur Haupttribüne verschafft, wo Hausfrauen mittleren Alters sich nach jeder Sambaschule die Abzeichen und Fähnchen der nächsten Gruppe anheften und wild zu den Klängen der bateria, der Rhythmusgruppe der Sambaschule, herumwippen.

Währenddessen treffe ich auf die gleichen Figuren, die schon letztes Jahr im Sambódromo anwesend waren. Nur die Kostüme unterscheiden sich, und der eine oder die andere ist vielleicht etwas dicker oder dünner als letztes Jahr, aber ansonsten scheint alles gleich. Auch der letztjährige Regen setzt wieder ein und durchnässt alle bis auf die Haut.

Ich sehe TV Globo Star Juliana Paes durch die hinteren Bereiche des Sambódromo hetzen, und mache mich mit meiner Kamera auf in ihre Richtung. Eine wilde Horde nationaler und internationaler Medienberichterstatter setzt mir nach, doch ich bin schneller und habe schon die ersten guten Bilder geschossen, bevor sich der Kreis verrückter Kameraleute und wild drängelnder TV Globo Kabelträger um mich schließt, um mich 20 Minuten später wieder auszuspucken. Die ganze Zeit liege ich unfreiwilliger aber nicht unangenehmer Weise Juliana zu Füßen, während alle anderen in meinem Rücken versuchen, mich beiseite zu schieben. Die ganze Zeit steht Juliana mit geschlossenen Augen da, geht noch einmal in sich, bevor sie die mit 120.000 Menschen gefüllte Arena betritt.


Ähnlich ergeht es mir bei Naomi Campbells Auftritt, und wieder bin ich der erste, der sie sieht und genug Zeit hat, sie zu fotografieren. In dem allgemeinen Trubel um Naomi verstrickt sich die traditionsreiche Portela-Sambaschule in so ein Chaos, dass es schließlich unmöglich wird, das Ganze in ein geordnetes Desfile zu retten. So fährt irrtümlicher Weise Wagen Nummer drei als erster in die Arena ein und muss an der Seite geparkt werden, von wo man ihn dann später kaum mehr weg bekommt. Ungünstig wirkt sich auch die Entscheidung der gerade erst neu ins Amt berufenen Direktion der Portela aus, dieses mal mit doppelt so vielen Desfilanten ins Sambódromo einzuziehen wie sonst. Als dann auch noch drei Wagen hintereinander den Geist aufgeben und die 80 Minuten Zeitlimit für die ganze Veranstaltung nahezu abgelaufen sind, beschließt man, einfach die Tore des Sambódromo zu schließen und den Rest der Schule draußen stehen zu lassen.

So geschieht es zum ersten mal in der Geschichte des Carnavals von Rio, dass die Velha Guarda, die Riege der großen alten Veteranen der Schule, nicht in die Avenida gelassen wird. Unter Tränen geben sie verzweifelte Interviews, während Feuerwehrleue versuchen, die gebrechlichen Veteranen von dem liegen gebliebenen Prunkwagen herunter zu hieven. "Selbst als meine Eltern gestorben sind, habe ich es nicht versäumt, für meine Sambaschule in die Avenida zu gehen. Und jetzt das…."

"Das Problem war wohl, dass die Portela bei ihrem Auftritt von den Vereinten Nationen unterstützt wurde - wir wissen ja, dass alles, was die UNO anfasst, in die Hose geht", spottet der Kollege aus Argentinien später, bevor ihm am zweiten Abend das Lachen vergeht. Nach 15 Minuten auf der Haupttribüne muss er feststellen, dass man seine Digitalkamera gestohlen hat. "Die habe ich mir gerade erst neu gekauft, da mir meine alte in Berlin geklaut wurde…".

Dafür empfängt uns unser Hotelwirt überaus freundlich und teilt uns ein gerade frei gewordenes Doppelzimmer zu, "natürlich zum Preis eines Einzelzimmers, versteht sich…" Wir verstehen es zwar nicht wirklich, nehmen das Angebot aber dankend an und beziehen das mit rotem Kunstleder aus den frühen 80er Jahren ausgestattete Zimmer. Auf Rios Straßen ist derweil kaum etwas von Carnaval zu sehen, bis auf die bunt geschmückten Gestalten, die die ganze Nacht hindurch mit der U-Bahn zum Sambódromo fahren, um dort ihre 80 Minuten puren Glücks zu erleben.


Trotz ihres vollkommen misslungenen Auftritts muss die Portela nicht wie befürchtet in die zweite Liga von Rios Sambaschulen absteigen. Erstaunlicher Weise bekommt die "Tradição" noch weniger Punkte und verabschiedet sich mit ihrem wenig ergreifenden Samba über chinesische Sojafelder von der Bühne. Die Velha Guarda der Portela hat dann auch noch ihren Auftritt und darf beim Desfile der sechs besten Sambaschulen beim diesjährigen Sieger Beija-Flor mitfahren. Es gibt also doch noch Happy Ends auf dieser Welt.

Wir lassen uns noch eine morgendliche Kokosnuss von einem in 70er Jahre-Leinen gewandeten Kellner servieren. Die Sonne hüllt die 50er Jahre Schuhkartonhäuser der Copacabana in wohlwollendes Licht, und irgendwie fehlt jetzt nur noch Chico Buarque, der mit seinem jugendlich-verschmitzten Lächeln und schwarzem Rollkragenpulli mit seiner Gitarre unterm Arm um die Ecke biegt. Vielleicht kuschelt er aber gerade ganz ausgelassen mit der Garota de Ipanema. Etwa so wie die blonden Touristen am Nachbartisch, die vielsagende Blicke mit den braungebrannten Schönheiten Rio de Janeiros austauschen.

Manche Dinge ändern sich nie. Zum Glück!

Text + Fotos: Thomas Milz

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