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[kol_1] Grenzfall: Ordnung und Graffiti - Die Kunst wird zivilisiert

Die wundervolle Stadt São Paulo, Wiege der triumphalen brasilianischen Industrie und der Avantgarde des Brasilholzlandes, ist mal wieder mit Riesenschritten vorgeprescht. Dieses Mal hat man sich dabei sogar gleich selbst überholt.

Nachdem man erst einmal erfolgreich mit Outdoors und sonstiger Außenreklame aufgeräumt hat, hat die Stadt jetzt Kurs auf die Zivilisierung der letzten subversiv-künstlerischen Widerstandsnester genommen.

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Ein Jahr lang, um genau zu sein das Jahr 2007, war die Stadt aufgrund des Verbotes jeglicher kommerzieller Außenwerbung ziemlich farblos. Doch dann tauchten sie auf, die neuen Farben: Graffitis, eine ganze Menge sogar. Man beeilte sich, sie als Schmierereien zu denunzieren, um ein Motiv zu haben, sie umgehend zu übertünchen.

Für die Graffitikünstler boten die von Reklame befreiten Wände der mit Millionen Häusern überladenen Stadt gigantische Leinwände, die es zu füllen galt. Und genau das taten sie auch. Outlaw-Maler, außerhalb des Gesetzes und außer Kontrolle. Als Schocktherapie für sie wurde gleich einmal ein Exempel statuiert und eine minderjährige Sprüherin für 55 Tage in Haft gehalten, nachdem sie das "leere Stockwerk" der Biennale mit Graffitis besprüht hatte.

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Obwohl einige der Sprüher berühmt und mit Ausstellungen im Ausland gefeiert wurden, was also für die Galeristen in New York und Paris wie Kunst aussah, war für die örtliche Stadtverwaltung nichts als Schmiererei. So wurden Werke des gefeierten Sprüher-Bruderpaares Otavio und Gustavo Pandolfo, kurz "Osgemeos", die "Zwillinge", entlang der Schnellstraße Avenida Radial Leste kurzerhand getilgt. Was folgte, war ein Aufschrei der Verteidiger der Kunst.

Ein Irrtum sei es gewesen, entschuldigte sich die Stadtverwaltung kleinlaut. Das dürfe nicht mehr passieren, schwor man. Und fand die perfekte Lösung für das Dilemma: man wolle nun alle Meisterwerke katalogisieren und in einer Art Kunstführer vereinigt publizieren, der allen, die die zementgraue Stadt nach Farbe und Leben durchsuchten, als Reiseführer dienen solle.

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Und für die Angestellten der für die Sauberkeit der "sauberen Stadt" verantwortlichen Dienstleistungsbetriebe werde er als Handbuch dienen, damit man wisse, was als Kunstwerk überleben dürfe und welche Schmierereien zu übermalen seien. Doch damit nicht genug: man wolle die Überführung Elevado Costa e Silva, bekannt als Minhocão, in eine Art Open-Air-Galerie verwandeln, abgesegnet und autorisiert durch den Kunstgeschmack der Stadtverwaltung.

Die Kunst zivilisieren sei das Ziel, so wie man ja schon nahezu alle Manifestationen von Leben in dieser ach so organisierten Stadt zivilisiert habe. Die Autofahrer, die sich jeden Tag durch die gigantischen Staus kämpfen, werden dankbar sein. Für sie wird es keine im Stau verlorene Zeit mehr geben; sie werden ihre Aufmerksamkeit der Kunst widmen können.



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