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[art_4] Spanien: Cadaqués (Romanauszug)
Wenn Dalí noch leben würde

Vor dem Zeitalter der Dampfschiffahrt konnte man sich von Cadaqués aus mit einem Segler nach Amerika einschiffen. Die Umsegelung des nahe bei Cadaqués liegenden Cap de Creus war aufgrund der Strömungen sehr gefährlich. Unterhalb der bizarren Felsformationen lagen unzählige Schiffswracks auf einem der berüchtigsten Felsenfriedhöfe der Costa Brava, der Wilden Küste.

Noch bis vor zehn Jahren waren die bergigen Hügel um Cadaqués herum ein bekanntes Weinanbaugebiet. Dann kam die Reblaus und vernichtete alles. Nach und nach verwandelten sich die bergigen Hügel in Olivenhaine, die durch sommerliche Feuersbrünste immer wieder großflächig dezimiert wurden. Helena hatte schon manchmal den Eindruck gehabt, dass das Olivenöl aus dieser Gegend auf den hinteren Zungenpartien einen typischen Weißweinabgang entwickelte.



Jeden Sommer zogen täglich zwanzigtausend Menschen durch Cadaqués, doch nur jeder Zehnte wohnte dort auch im Winter. Um, so wie Helena vor ein paar Stunden, von der Ampurdánebene heraus nach Cadaqués zu kommen, musste man über den Pass von Peni. Vor der Erfindung des Automobils durfte man für diese Strecke fast einen ganzen Tag in staubverhüllten Kutschen absitzen. Heute ging das ganz schnell, nicht wahr Helena? Es sei denn, man kam in der Hochsaison, in der sich um den Berg herum tag-täglich liebend gern ein Stauzentrum für ballungsfreundliche Touristenautos bildete. Dem hitzewallenden Aggressionspegel nach handelte es sich hierbei stets um stark strahlende Wespennester kurz vor dem Gau. Helena hatte das einmal miterlebt. Da mit dem Fahren ohnehin nichts ging, musste sie sich plötzlich in Schlangenlinien durch noch verbale Schlägereien manövrieren.

Ampurdán. Cadaqués. Cap de Creus. Umschlossen von nacktem, Salzwasser fressendem Fels und dem permanent daran nagenden Meer. Umschlossen von tausendarmigen Tentakeln zweierzeitlos um sich selbst werbender Heiratskandidaten.



Abgesehen von den Sommermonaten lag Cadaqués zumeist in der halbgefrorenen Wiege des Tramontana, der von Nordwesten her die Seele unnachgiebig einschwärzte. Launisch. Unangenehm. Eisig. Sich unbarmherzig durch Landschaft und den darin wohnenden Puls fräsend. Unter dem Strich ergab das auf Dauer eine überdurchschnittlich hohe Selbstmordrate. Wer sich nicht umbrachte, verfiel einer distanzlosen Abenteuerlust oder verwilderten Ausbruchsorgien. Lebensläufe ähnelten einem Flipperautomaten, der sich auf Teufel komm raus mit exzentrischen Dauerverwucherungen und unmenschlichen Formen von nicht anfassbarem Wahnsinn paarte.

Unter den berühmten Malern der letzten Jahrhunderte gab es keinen, der so sehr in EINER Landschaft verhaftet blieb wie Salvador Dali. Die Landschaft seiner Kindheit und Jugend. Die Landschaft, die bis in seine weit ausgedehnte Sterbesequenz hinein seine einzigste Rückzugsmöglichkeit blieb. Ein kleiner Ausschnitt von Catalunya, von Katalonien, gerade einmal fünf auf fünf Kilometer groß. Vom Cap de Creus nach Port Lligat, von Port Lligat nach Cadaqués, von Cadaqués bis zum Cap de Creus. Das magische, surrealistische Dreieck eines Jahrtausends. Dali war nie ein Stück Treibholz gewesen. Die Ampurdánebene inklusive Berg und fünfundzwanzig cadaquéske Quadratkilometer waren sein nicht zu lösender Anker. An ihm rüttelten auch nicht acht Jahre amerikanisches Exil um den Zweiten Weltkrieg herum. Ihn hebelten auch nicht lange Aufenthalte in Paris, London und Florenz aus. Selbst inländische Bürgerkriege konnten ihn nicht lichten. Mit ihm blieb Dali lange Zeit Dali.



Wie oft ruderte er von Port Lligat aus zu den Basaltfelsen des Cap de Creus? Wie oft betrachtete er den Kontrast zwischen silberglänzenden Olivenblättern und rotbrauner Erde, auf der fast teerfarbene Seeigel getrocknet wurden? Wie oft versank er in den graurot bis gelbbraun gefärbten Gesichtern, welche in bestimmten Lichteinfallswinkeln von den scharf geschliffenen Felsenreliefs freigegeben wurden?

Dort waren die geologischen Ruinen seiner künstlerischen Auferstehung. Dort lag die magisch gesteinigte Felsenwelt einer morbid statischen Schwermütigkeit, an der die wildherbe Fröhlichkeit einer nicht ruhig zu stellenden Meeresströmung nagte.

Dort manifestierten sich allmählich die unumstößlichen Wurzeln eines Manipulationsgenies, eines Besessenen der Extravaganz, eines Maestros des vorbehaltlosen Vertuschens. Dort wuchs ein hemmungsloser Figurenkünstler heran, der einen lebenslangen  Pachtvertrag über jede Farbnuance bekommen zu haben schien.

Die Familie Dali wohnte zwar in Figueras, es war jedoch eher ihre Sommerresidenz im westlichen Teil von Cadaqués, die den Jugendgelüsten des Künstlers ein Dach über dem Kopf anbot.



Der schüchterne Jugendliche Salvador Dali mit den großen, dunklen Augen, aus denen zutiefste Selbstverunsicherung das Gegenüber in Bilder ohne Rahmen hineiniixierte. Ein Einzelgänger, der nicht die Rambla in Barcelona erobern wollte, sondern sich lieber stundenlang der Selbstbefriedigung hingab. Ein Autoerotiker, der seine hyperaktive, fast hysterische Überspannung selbst regulierte. Natürlich mit einer Überlatte an Schuldgefühlen, hatte doch sein Vater ein äußerst geschlechtstriebiges Mahnmal offen auf dem Klavier ausgestellt. Jeden Tag starrte der junge Dali auf das aufgeklappte Medizinbuch über Geschlechtskrankheiten. Natürlich betrachtete er die detailverliebten, gestochen scharfen Bilder und las die erzieherischen Texte zur Ursachenforschung. Um 1900 war Selbstbefriedigung so etwas wie die häufigste Ursache für jede nur erdenkliche Gattung von Geschlechtskrankheiten. Mit nicht wiedergutzumachenden Nebenwirkungen wie Rückenmarksschwund, Verblödung und Krampfadern im Genitalbereich. Keine leichte Kost fur einen egozentrischen Autoerotiker, der auf der Suche nach sich selbst mehrmals täglich am Klavier vorbeilaufen musste.


Text + Fotos: Markus Fritsche

Lesetipp:
Granada ist ein Auszug aus: Markus Fritsche: Für immer und nie wieder
Schardt Verlag in Oldenburg, 1999, ISBN 3-933584-19-1

Markus Fritsche: Wenn Dali noch leben würde. Streifschüsse in Cadaqués
Schardt Verlag in Oldenburg, 2005, ISBN 3-89841-165-6

Bestellen könnt ihr beide Romane bei: Schardt Verlag in Oldenburg, Tel.: 0441-21779287,
E-Mail: schardtverlag@t-online.de, www.schardtverlag.de

oder direkt beim Autor:
Markus Fritsche, E-Mail: altmar.fritsche@t-online.de

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