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[kol_4] Grenzfall: Weihnachten auf den Kanaren - moralisch verwerflich?

Als Europäer, der seit der Atomkatastrophe von Fukushima mehr Stein- und Braun-Kohle verbrennt als jemals zuvor, fühlen sich viele Menschen wohler mit Urlaubsreisen, die nicht noch mehr Umweltschäden anrichten, als man ohnehin bereits im deutschen Alltag fabriziert.

Gleichzeitig ist man als aufstrebender Akteur der Leistungsgesellschaft natürlich chronisch dem Burnout nahe. Das Wort "natürlich" klingt bagatellisierend, ist es aber nicht. Somit reichert man seine eigene Urlaubsplanung mit einer gesunden und wichtigen Portion Egoismus an: Das ganze Urlaubsprojekt soll einen runter fahren. Am besten nachhaltig: Wie traumatisch wäre es, Urlaub lediglich deshalb zu bestreiten, um danach wieder ein leistungsfähiger Volldepp zu sein. Nein! Der Urlaub soll dieses Mal dazu befähigen, das Hamster-Laufrad nach dem Urlaub langsamer drehen zu lassen und es in die Richtung zu steuern, die die seine ist.



Reiseplanung
Bei der Auswahl des Reiseziels sind die Kanaren sehr schnell im Spiel. Meine Frau, Künstlerin und seit einigen Wochen Mutter, beschließt: "Ich will meinen Körper spüren und nicht verschissene Windeln in einem unromantischen Winter wechseln, der sich durch spritzenden Matsch am Straßenrand auszeichnet.“ Dies sagt sie in aller Bescheidenheit. Als Künstlerin ist sie chronisch pleite.

Wir stellen uns moralische Fragen zur Rechtfertigung des Fluges, wo man doch mit dem Supersparpreis der Bahn auch die Winterferien in Bozen verbringen könnte: Schafft ausgerechnet unsere Reise auf die Kanaren persönliche Mehrwerte, mit der wir unseren Flug und damit den einhergehenden, miserablen CO2-Flugabdruck rechtfertigen können? Ist die Reise so geil, dass sie für unser Glück durch nichts zu ersetzen sein wird? Wäre ein Aufenthalt mit Pizza zu Hause auf dem Sofa nicht ähnlich sinnstiftend und erholsam für uns?



Wir schieben die Fragen erstmal beiseite und beruhigen uns mit dem Gedanken abgesehen vom Flug nachhaltig zu reisen. Aber was heißt "abgesehen von…“, wo der CO2-Schrott eines Fliegers durch keine Lebensführung der Welt zu kompensieren ist. Der Spruch "Das Flugzeug fliegt doch eh“ wirkt wie ein schlechter Scherz in Anbetracht der Erderwärmung und der damit verbundenen möglichen Katastrophen.

Die Ausgestaltung des Feigenblattes
1. Wir kaufen den Flug im lokalen Reisebüro. Langes Suchen im Internet, um den Flug günstiger zu bekommen, lassen wir entfallen. Uns ist einfach nur wichtig, dass der Flug direkt ab unserem Heimatort erfolgt. Das Reisebüro verdient an uns drei vermutlich nicht mehr als 20 Euro. Peinlich genug, dass wir uns für diese Summe hier rühmen, nachdem es immerhin um unseren Urlaub geht.
2. Wir kompensieren den Flug bei Atmosfair.
3. Wir informieren unsere Freunde, dass unsere Wohnung für zwei Wochen leer stehen wird und wer mag, sie nutzen kann.
3. Wir drehen die Heizung ab, leeren den Kühlschrank und ziehen alle Stecker. Für potentielle Gäste hinterlassen wir Anweisungen zur zwischenzeitlichen Inbetriebnahme.



Der Urlaub beginnt per Direktflug. Vor Ort eine Ferienwohnung im Fischerdorf. Diese im Internet gebucht. Ohne langes Suchen. Ankunft bei 22 Grad.

Wir wohnen also in einem Fischerdorf. Der Begriff wirkt abstrus, da keine 30 Kilometer entfernt von uns die Urlaubsbunker stehen, die die Welt nicht braucht. Nun grübeln wir, ob dieser diskriminierende Gedanke rechtens ist oder eher eine Frechheit im Zeichen von Toleranz und Völkerverständigung. Wir überlegen, ob wir wegen Pegida auch die pauschalsten Bettenburgen-Touristen mögen müssen?

Der Begriff "Fischerdorf" jedoch hält, was er verspricht. Trotz der vielen Speisekarten auf Deutsch. Oder gerade deswegen. Man darf ja auch den sich anbahnenden Burnout nicht vergessen, der nach Routinen und gewohnter Umgebung schreit.



Am zweiten Tag unserer Reise treffen wir Sepp B. beim Espresso an der Plaza. Ich stelle mir die Frage, warum so ein gottverdammter Lebenskünstler, um die Uhrzeit keinen Weißwein trinkt, nach dem mir gerade ist – und beschließe, in Zukunft nur noch eine bestimmte Dosis Entspannungsgetränke zu mir zu nehmen.

Am vierten Tag treffen wir Mirco. Er leiht uns sein Surfboard. Ein Auswanderer in der zweiten Generation mit dem Ziel, Touristen eine tolle Zeit zu bescheren. Er sagt, weil "ihm das was bringe". Wir fühlen uns zunächst wie bei einem von uns vor Jahrzehnten geführten Verkaufsgespräch über eine handgeschnitzte Figur am Strand in Senegal. Es geht nicht um Aufdringlichkeit, sondern das Gefühl, dass man sich als Tourist auch immer ein wenig als Opfer fühlt.

Wir rufen Mirco an: Gib uns den Wellenreitkurs! Keine Stunde später ist er da, mit seiner Frau, die während des Wassersports auf unseren Nachwuchs aufpasst. Wir lernen, dass man die Welle dann verlässt, wenn Sie am höchsten ist.

Nachdem Mirco uns für viel zu wenig Geld in die Wellen entführt hat, erzählt er uns beim anschließenden Abendessen, dass er ausschließlich von eigenem Photovoltaik-Strom lebt. Verdammt! Schon wieder Impulse! Und auch noch so politisch Korrekte! Aber das Burnout wird auf einmal von der Inspiration überwältigt, unterstützt von Calamares und Boquerones.



Nach der Urlaubsreise am zweiten Weihnachtsfeiertag liegen wir, zurück in der Heimat, auf dem Sofa und sehen eine Sendung über Dankbarkeit im Sonntags-TV. Uns wird erklärt, dass Dankbarsein nicht nur per se gut sei, sondern vor allem der eigenen Psyche gut tue. Erst jetzt wird der tiefere Sinn unserer Reise greifbar. Wir sind dankbar, zwei Menschen getroffen haben, die uns nicht nur das Surfen beigebracht haben, sondern auch die Gewissheit, dass sie sich bemühen ein menschenfreundliches Klima zu erhalten. Zuhause hätte ich mir diese Gedanken nie angehört und bin neidisch auf alle, die diese Erkenntnis ohne Kerosin erlangen: Ich hätte es nicht geschafft.

Nachhaltige Entwicklung ist vor allem eine Kunst der Reduktion. Die Königsklasse. Die Reise hat uns die Impulse gegeben, zu reduzieren. Das nächste Mal fahren wir nach Lanzarote, mindestens für zwei Monate, und überdenken das Transportmittel.

Text + Fotos: Boquer Ones

Julia und Mirco:
www.lanzarote-individual.com
Lanzarote ist ein Traum für kleinere Wanderungen, Wellenreiten, Baden, Tauchen und Klettern. Und das alles in gemütlichen Tempo bei Vino Tinto und frischen Meeresfrüchten. Der Aufenthalt wird um so entspannter, je mehr Vertrauen man in die Menschen vor Ort setzt.

Schönste Anreise nach Lanzarote:
Mit dem Zug nach Portimão (Portugal). Mit der Fährlinie Armas kann man in bequemen Kabinen oder auf schlichtem Sitzplatz übersetzen. Anfahrten mit der Fähre sind auch von Cádiz (Transmediteranea) und Huelva (Armas) in Spanien möglich.

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