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[art_4] Brasilien: Adeus São Paulo
 
Fast auf den Tag genau vor 12 Jahren landete ich nach einer ausgiebigen Kreuz- und Querreise durch Brasilien auf dem Internationalen Airport von São Paulo und verabschiedete mich dort von meinem treuen Reisegefährten, der das nächste Flugzeug Richtung deutscher Heimat bestieg. Ich selber nahm einen Bus Richtung Stadtzentrum jenes Molochs, das ich bereits ein wenig von früheren Besuchen kannte. Dieses Mal wars jedoch ernst, dieses Mal gings darum zu bleiben, den Moloch in- und auswendig kennen zu lernen. Mir drehte sich der Magen um.

Die ersten Wochen schlief ich auf dem Sofa eines Kumpels, im Wohnzimmer eines zu engen Apartments an der Ecke Ipiranga und Rio Branco. Von dort nahm ich jeden Morgen erst einen Bus und dann den Vorortzug, der mich zu der endlos weit entfernten Arbeit in Santo Amaro brachte.

Stunde um Stunde inmitten des unerträglichen Verkehrs, der jeden Tag Millionen aus ihren Wohnungen zum Ort des Broterwerbs transportierte, mitten durch jene Welt, die sich verniedlichend Stadt nannte. Damals verdiente ich gerade einmal einen Mindestlohn, rund 200 R$.

Das Leben besserte sich als wir ein günstiges großes Apartment in der Vila Madalena fanden, jenem bohemen Stadtteil, in dem sich die Intellektuellen der durchgeknallten Stadt konzentrieren. Nächtelanges Geschwafel in den Bars, am liebsten bei einer Caipirinha gebraut aus allerlei roten Früchten. Ausgebildet in intelligentem Geschwafel, beschloss ich Journalist zu werden und hing mich direkt an die Fersen jenes Bärtigen, der so gerne Präsident werden wollte. Große Träume, null Kunden. Niemand kaufte mir meine Geschichten ab. Uum Glück hielten mich die Deutsch- und Englischstunden über Wasser.

Die ersten Liebschaften, noch ohne Hand und Fuß. Nach und nach kamen die ersten ernst zu nehmenden Jobs, wobei ich auf Englisch über Rohstoffe im Allgemeinen schrieb. Wer hätte das gedacht? Den Laptop auf den Knien, denn einen Tisch besaß man nicht, bastelte ich die kleinen Meldungen zusammen. Nachts noch mehr Gerede in den Bars, mit Freunden. In Rio sagt man, dass der Strand der demokratischste Ort sei. Ich sage, dass es die Bars in São Paulo sind. Dort nennt niemand den Gringo einen Gringo, stets ist man der Freund, der Kumpel. Amigo!

Amigos überall, und die meisten Ausländer wie man selber, damit man das täglich empfundene Heimweh teilen kann. Freunde, die einem erklärten, wo der Hase lang läuft, Freunde die einem den Weg aufzeigen und die mit einem ihre eigenen, über lange Jahre erkämpften Weisheiten teilten. Langsam eroberte man sich mit ihnen zusammen von São Paulo aus dieses Land, genau wie es die Bandeirantes-Eroberer Jahrhunderte zuvor getan hatten. Von besagtem Internationalen Airport aus reiste man in jeden Winkel des Riesenlandes, oder sogar darüber hinaus bis an den Rio de La Plata oder hoch in die Anden. São Paulo war das Basislager, und die Welt drum herum wuchs ständig an.

Während einem die ersten Jahre wie Jahrhunderte erschienen, flogen die letzten nur so dahin. Nach zwei Jahren im spektakulären Stadtteil Jardins ging es noch einmal für zwei Jahre zurück in die Vila. Aber vor lauter Reisen blieb keine Zeit mehr, den spirituellen Frieden jenes Dorfes inmitten der Verrücktheit der wildgewordenen Stadt zu genießen. In den letzten Jahren kam ich nur noch um den Koffer aus- und direkt wieder vollzupacken, stets auf dem Sprung in die Weite. Die Freunde mittlerweile in der Welt verstreut, die Arbeit zu riesigen Stapeln aufgetürmt. Und ein kleines Mädchen in weiter Ferne, das nach seinem Papa ruft. Es blieb einfach keine Zeit mehr, nur noch die um Bye-Bye zu sagen.

Du bist spießig, die größte Stadt des brasilianischen Interiors, ein Dorf voller unheilbarer Dorftrottel, ohne den gewissen Schwung, ohne Ahnung, ohne Traditionen, ohne Limits, frei von Schönheit, ohne Scham. Aber wie man so gerne auf Deutsch sagt: eine ehrliche Haut. Du hast all die Jahre gut auf mich aufgepasst, besten Dank dafür. Bye-bye São Paulo. Deine hübschere Schwester ruft mich.

Text + Fotos: Thomas Milz

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