caiman.de 01/2007

[kol_3] Grenzfall: Zurück zu den Wurzeln - Alternative Denkmodelle
Interview mit Reinhard Senkowski

Reinhard Senkowski lebt seit 1980 in Lateinamerika: zunächst in Peru, danach in Brasilien und seit 1999 in Mexiko. Zurzeit arbeitet er in Mexiko Stadt an seiner Doktorarbeit über Natur- und Kulturvielfalt.

1. WAS HAT DICH 1980 BEWEGT, NACH LATEINAMERIKA ZU GEHEN?

Ich engagierte mich damals in Deutschland stark im sozialen und politischen Bereich; auch in Richtung einer alternativen Kultur. In den 60ern und 70ern träumten wir von der Internationalen Solidarität, identifizierten uns mit so großen Denkern und Akteuren wie Che Guevara, Don Helder, Hotshiminh, Paulo Freire. Viele von uns schwelgten in revolutionären Träumen und Slogans wie "Nieder mit dem Imperialismus!. "Macht kaputt, was dich kaputt macht!" "Der Muff von tausend Jahren" steckt noch unter den Talaren!"

Reinhard Senkowski
Das war es, was in der Luft lag: der Traum vom anderen Menschen, dem von Fesseln befreiten, der sensibler, sozialer, der schlicht besser wäre, der freier leben könnte.

Der freier leben könnte, losgelöst vom  Muff unserer alten Herren, der Alt-Nazis und anderer Betonköpfe.

Das Ganze mündete in einer entfesselten, stark antiautoritären Stimmung; einer Bewegung und Lebensart mit antirassistischen, alternativen, ökologischen Tendenzen. Im Großen war es ein Aufbegehren gegen das herrschende, einengende System.

Als dann die Friedens- und ökologische Bewegung aufkamen, versuchte ich als Lehrer, innerhalb dieser Strukturen etwas zu bewegen. Es galt, gegen die Slogans der Wirtschaftswunderzeit vom Schlage Erhards anzugehen, andere als die herrschenden Werte zu kreieren, alternative Modelle zum vorherrschenden Konsumtraum und -rausch zu entwerfen.

Und plötzlich beschimpfte man mich in orthodoxen kommunistischen Kreisen als Sponti, als Chaoten und hinterging mich auf teilweise unfaire Weise (im Namen Lenins) - dabei wollte ich bloß eine gewisse Spontaneität retten, weg von der repressiven Masche, der leeren und lebensverachtenden Bürokratie, vom faschistischen und stalinistischen Trend, der so rigide in Deutschland jegliche Beziehungen beeinflusste.

Ich erkannte immer deutlicher, dass es in Deutschland nicht möglich war, effektive Basisarbeit zu leisten. Ab 1980 reiste ich  mehrmals nach Peru, blieb dort zuerst vier Wochen, dann später noch mal drei Monate, danach ein ganzes Jahr. In dieser Zeit reiste, schrieb und arbeitete ich. So engagierte ich mich u.a. in einem indianischen Dorf während des Bürgerkrieges des Sendero Luminoso und half mit, in einem pueblo campesino namens Jicamarca eine Gemeindetischlerei aufzubauen.

Ich verliebte mich in alles, was ich in Peru sah und erlebte, trotz vieler Widersprüche und persönlicher Härten. Es waren  Landschaften, Menschen, Mythen, Bräuche, die Herzlichkeit und Tiefe, der Schmerz und die Sehnsucht nach einem ebenbürtigen Leben der Völker am Rand einer Geschichte, die mich berührten, aufwühlten und letztendlich zu einem Lyrik-Fotoband animierten.

Danach habe ich mich in Deutschland nicht mehr einfügen können. So schrieb ich eine Bewerbung an den DED und bin 1986 als Entwicklungshelfer nach Minas Gerais (Brasilien) gegangen, um in einem Favela-Projekt zu arbeiten. Anschließend wechselte ich nach Pernambuco, wo ich über 15 Jahre vielerlei Erfahrungen mit der lateinamerikanischen Wirklichkeit sammeln konnte.

2. DU FORSCHST IN MEXIKO ZURZEIT ÜBER DIE BEGRIFFE NATUR- UND KULTURVIELFALT. WAS KANN MAN DARUNTER VERSTEHEN?

Meine These ist, dass die Artenvielfalt für das ökologische Gleichgewicht genauso wichtig ist wie die Kulturvielfalt für das Gleichgewicht zwischen den menschlichen Beziehungen und zur Natur schlechthin. Das soziale und ökologische System ergänzt sich dabei. Die Kulturen spiegeln die Horizonte und  Grenzen der Naturressourcen mit ihrer komplementären Funktion wider. Kultur bedeutet, mit und nicht gegen die Natur zu arbeiten, Kultur heißt, die natürlichen Ressourcen und ihre Begrenztheit zu respektieren. Ebenso gilt es die Naturgesetze und den Naturrhythmus zu beachten. Die Kraft der Natur muss adäquat genutzt und darf nicht blind im Rennen nach dem unbegrenzten "Fortschritt" geopfert werden.

3. HAST DU DAS GEFÜHL, DASS DIE MENSCHEN IN LATEINAMERIKA MYTHOLOGISCHER SIND ALS IM WESTEN?

Sicherlich verharren die Menschen hier (in Lateinamerika) immer noch in weiten Teilen in einem mythischen Verhältnis zur Natur. "Seit der Conquista erleben wir den sich ausgrenzenden Gegensatz des spirituellen und des rationalen Menschen", so der Interkulturwissenschaftler und buddhistische Mönch Raimundo Panikkar.

Wir Nordeuropäer leben oft im Verhältnis 90% Kopf zu 10% Körper, wie es zuweilen karikiert wird; der Logos, also die empirischen und okzidentalen Wissenschaften geben den Ton an. Aber Platos Höhlenbilder mit ihrem Ideal passen in Lateinamerika einfach nicht. Deswegen haben die Europäer nie wirklich die Lateinamerikaner mit ihrem mythologischen Weltbild verstanden, und die Lateinamerikaner haben so gut wie niemals den rationalen Europäer verstanden. Und es scheint nicht besser zu werden mit dem gegenseitigen Verständnis - trotz vieler Studien.

Ein Dichter aus dem Amazonas berichtigte die offizielle Feststellung während der 500-jähringen Endeckungsfeiern Brasiliens, dass es ein 500-jähriges desencontro (Sich- nicht- Begegnen) gewesen wäre und bis heute sei.

Die Europäer fühlen sich mit ihrer Ratio, ihrer Informatik und ihren Hightechwaffen vollkommen erhaben über die Natur und den Mythos der hiesigen Völker. Doch wir sind nur Opfer des Logozentrismus, des Eurozentrismus. Wir meinen, mit unserem Denken könnten wir alle Probleme der Welt lösen. Doch das können wir eben nicht, und viele wollen es nicht wahrhaben.

Der Ökologe James Bruges hat schon vor langem vorgerechnet, dass wir fünf Erdbälle bräuchten, wenn alle Menschen so leben wollten wie in der industriellen Welt oder wie die Eliten der industriell unterentwickelten Völker. Das heißt, wir müssen weg von dieser herrschenden ozidentalen Kultur, wenn wir unsere Erde retten wollen. Wir müssen hin zu einer Synthese mit den Mythen bzw. den Sichtweisen der Ethnien, die im Wesentlichen schon immer bestrebt waren, Leben zu erhalten und nicht zu zerstören.

Das impliziert die Demystifizierung (im Sinne Panikkars) des christlichen Bildes des Menschen als Krönung der Schöpfung. Stattdessen müssen wir im Sinne der Gaia-Theorie (nach Lovelock) mit und in der Natur unsere Bestimmung finden.

4. IN DEINER WISSENSCHAFTLICHEN ARBEIT BENUTZT DU DEN BEGRIFF DES "KULTURELLEN METABOLISMUS". WAS BEDEUTET DAS?

Der Kulturelle Metabolismus basiert auf Lehren, die auf das Konzept der Madre Tierra zurückgehen: die Erde als geschlossenes System, in dem das, was wir ausatmen oder sonst wie abgeben von der Natur in neue Lebensstoffe zurück verwandelt wird. Alles hat seinen Sinn und seine komplementäre Funktion, das Denken, die Spiritualität genauso wie die Wissenschaft - alle sind Teile des Ganzen und müssen im System ihre Funktion erfüllen. Sonst haben sie als Teil des Ganzen keine Berechtigung.

5. UND DAS GESCHIEHT IM WESTLICHEN SYSTEM NICHT?

Nein, es geschieht nicht. Wir trennen die Dinge, spezialisieren uns, treiben die Lebensfunktionen auseinander. Wir zersetzen die Einheiten, sowohl die unseres Körpers wie auch die der Gesellschaft als Körper in den diversen Einheiten. Die Dualität von Denken und Praxis, die Teilung von Spiritualität und Ratio ist fatal für unsere Welt. Im Buddhismus ist Religion, Philosophie, Psychologie und die Tat eine hollistische Einheit, die man nicht trennt, weil man sie so zerstört. Das ist ein sehr interessanter Ansatz, den wir weiterverfolgen sollten.

In der westlichen Welt sprengt man die Einheiten auseinander, und dem müssen wir im Sinne einer holistischen Denk- und Verhaltensweise entgegentreten.

Reinhard Senkowski


6. GIBT ES HOFFNUNG, DASS DIE HEUTIGE WELT ETWAS VON DEN ALTEN KULTUREN LERNEN WIRD?

Genau das beleuchte ich in meiner Doktorarbeit: wer die Geschichte nicht pflegt, hat keine Zukunft. Unsere Wurzeln geben uns Halt und Sicherheit. Doch frei nach Berthold Brecht kann man sagen: alle Krisen haben in sich die Chance, etwas Besseres hervorzubringen. Oder aber auch die, zu sterben. Und beides macht übrigens Sinn.

Infos: Reinhard Bernd Senkowski wurde 1943 in Königsberg, dem heutigen russischen Kaliningrad, geboren. Er war lange Jahre als Lehrer und politischer Aktivist in Hannover tätig bevor es ihn 1980 nach Peru verschlug. Von 1986 bis 1999 arbeitete er in Minas Gerais und Pernambuco (beides Brasilien) als Entwicklungshelfer. Seit 1999 lebt er in Mexiko Stadt, wo er an seiner Doktorarbeit schreibt.

Kontakt:  senkorei@yahoo.com

Interview + Fotos: Thomas Milz