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[kol_1] Helden Brasiliens: Maria Fumaça und das Spanferkel
Einblicke in das koloniale Tiradentes

Aus weit aufgerissenen Augen starren die Frauen auf die Straße hinaus, ihre in bunte Kleider gehüllten Körper auf die Fensterbretter gelehnt. Sie scheinen zu träumen, doch wenn man ihnen näher kommt, entdeckt man ihre wahre Natur: sie sind aus Holz geschnitzt, und in der ganzen Stadt begegnet man dem neuesten Trend in Sachen Mitbringsel. Im Stadtzentrum, wenn man die Gegend um den zentralen Platz, den Largo das Forras denn so nennen möchte, finden sich zahlreiche kleinere Geschäfte, die dieses und ähnliches Kunsthandwerk anbieten.


Ganz im Gegensatz zu den Frauen aus Holz hat das Spanferkel schon lange seine Augen geschlossen. Mit einem eigens gebastelten Handgrillgerät gibt Chefkoch Dr. Luiz Ney dem bereits einige Stunden über dem Feuer gebratenen Spanferkel den letzten Schliff. "Die Haut muss Blasen werfen, knusprig werden, aber man muss vorsichtig sein, damit das Spanferkel nicht verbrennt."

Von allen Seiten drängen sich die schaulustigen Besucher der Villa Paolucci um das sich unter der Hitze krümmende Ferkel. "Leitão a pururuca" nennt Dr. Luiz Ney seine Spezialität. Eigentlich Arzt von Beruf, lässt er es sich nicht nehmen, jedes Wochenende den Gästen seiner opulenten Pousada dieses extravagante kulinarische Spektakel zu servieren.

Die Pousada, eigentlich eine fürstliche Fazenda aus vergangenen Tagen, grenzt direkt an das kleine Städtchen Tiradentes mit seinen nicht einmal 6.000 Einwohnern. Im Hintergrund richtet sich die beindruckende Gebirgswand der Serra de São José auf, und das Haupthaus der Fazenda ist umringt von 800.000 Quadratmetern reinster Mata Atlântica, dem dichten Regenwald der brasilianischen Küstenregion.

Ob die düsteren Figuren des nur einige Minuten entfernt gelegenen São José Springbrunnens aus dem Jahre 1749 ihre Augen geöffnet haben oder nicht, kann nicht wirklich geklärt werden. Aus ihren Mündern entspringt ein weiter Wasserstrahl, an dem sich die Kinder des Städtchens nach einer deftigen Partie Querfeldeinfußballs erfrischen. Der Springbrunnen soll São José de Botas darstellen, doch niemand kann sagen, wer das war oder sein soll. Einige Meter weiter plätschert das Wasser des kleinen Flusses Santo Antônio daher, und Familien picknicken auf den Wiesen rund um den idyllischen Springbrunnen.


Nur einige hundert Meter weiter steht das Haus des Padre Toledo, in dem sich einst die Verschwörer der ersten brasilianischen Unabhängigkeitsbewegung trafen, um ihre Pläne für eine Loslösung Brasiliens von Portugal zu schmieden. Das war 1788, und heute beherbergt das Haus ein Museum, in dem 250 Jahre alte Möbel einen Eindruck von früheren Wohnwelten vermitteln. So sehen wir das Bett von Carlos Correia de Toledo e Mello, so des Padres vollständiger prunkvoller Name, in dem er wohl in den Jahren zwischen 1777 und 1789 geschlafen hat.

Ein Blick durch die reich verzierten Fenster des Hauses verrät, dass draußen auf den Straßen Tiradentes ein brasilianischer Fernsehsender eine Telenovela vor historischer Kulisse dreht. Überall stehen Technikwagen herum, und böse schimpfen die Touristen auf die moderne Technik, die ihnen die schönsten 18. Jahrhundert-Postkartenmotive verstellt.

Draußen vor der Stadt führt eine Brücke über den Rio das Mortes hinaus zur Bahnstation. Von hier aus fährt am Wochenende zweimal täglich der kleine Zug ins 12 Kilometer entfernt gelegene São João del-Rei ab. Um die Lokomotive, "Maria Fumaça", "Dampfmaria" genannt, drängeln sich die Schaulustigen. Die rumpelige Fahrt mit rauschenden 20 Stundenkilometern an grünen Wiesen zu Füßen der Serra de São José vorbei und dem Rio das Mortes entlang dauert 35 Minuten.

Vor der Station in Tiradentes wartet ein Ochsenwagen, "boi-taxi" genannt, auf Fahrgäste, die es nicht ganz so eilig haben. Während der eine Ochse ganz interessiert daherkommt und vergeblich versucht, das Objektiv der Kamera abzulecken, döst sein Kumpel mit geschlossenen Augen selig vor sich hin.


Ob den beiden wohl bewusst ist, dass ihre kleine Stadt nach Brasiliens Nationalhelden Nummer 1 benannt ist, dem hier im Jahre 1746 geborenen Joaquim José da Silva Xavier, genannt "Tiradentes", der "Zahnzieher", da er in der portugiesischen Kolonialarmee als Zahnarzt tätig war. Ihm zu Ehren erhielt die kleine Stadt nach Abschaffung des Kaiserreichs und Ausrufung der Republik im Jahre 1889 den Namen ihres berühmtesten Sohnes.

Dabei war Tiradentes, will man der jüngeren Geschichtsforschung glauben, gar keine der führenden Persönlichkeiten der Verschwörung von Minas Gerais, die 1789 versuchte, Brasiliens Unabhängigkeit von Portugal zu erzwingen. Eher sieht es so aus, als ob die wirklichen Drahtzieher der Verschwörung den geistig nicht wirklich fitten Tiradentes ans Messer geliefert haben, um den eigenen Kopf zu retten.

Fakt ist jedenfalls, dass Tiradentes der einzige Verschwörer war, der für seinen Verrat an der portugiesischen Krone mit dem Leben bezahlen musste. Während die eigentlichen Köpfe der Verschwörung einige Jahre Zwangsverbannung in Afrika absaßen, teilte man Tiradentes Körper vor den Augen der versammelten Volksmasse von Rio de Janeiro in vier ungleiche Teile.


Wie den beiden berühmten Bildern "Tiradentes esquartejado", "Tiradentes gevierteilt" von Pedro Américo, und "Martírio de Tiradentes", "Das Martyrium von Tiradentes" von Aurélio de Figueiredo zu entnehmen ist, handelte es sich dabei um folgende Körperteile: der Oberkörper samt Armen, dem linken Bein, dem rechten Bein und schließlich dem völlig losgelösten Kopf. So sehen wir einen von den bösen Besatzern Brasiliens hingerichteten Tiradentes, der sein Leben hingab, um sein Volk zu befreien - näher kann man Jesus gar nicht mehr kommen.

Tiradentes Augen sind geschlossen, so wie die des Ochsen. Wovon er wohl träumt?

Text + Fotos: Thomas Milz