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Gratwanderung
Leichten Fußes zur Laguna La Coromoto

Ich schaute ihn an und konnte es nicht glauben. Körperlich und mental dem komatösen Zustand näher denn je zuvor, fragte ich nochmals nach: „Es gibt also keinen Bus, keinen Jeep und auch kein Taxi nach Tabay; kein Motorrad und auch sonst keine Mitfahrgelegenheit?“ Ich mobilisierte die letzten Kräfte und deutete auf den Jeep vor der Tür. Der Guard grinste und schüttelte den Kopf. Ganz so sei es nun nicht, er würde später noch mit dem Jeep ins Tal fahren, aber das könne dauern.

Dabei hatte alles so schön begonnen. Ich saß mit einem Kollegen auf der Terrasse unserer Unterkunft in Merida und schmiedete Pläne für den bevorstehenden Tag. Wandern wäre gut, an der frischen Luft, körperliche Ertüchtigung (Feuerzeuge schnippten, Zigaretten wurden angezündet) und Natur, Flora und Fauna, wie wunderbar.

Und so beschlossen wir etwas später, in Tabay Verpflegung zu besorgen und uns dann von einem Freund bis zum Ausgangspunkt des Nationalparks bringen zu lassen. Gesagt, getan! Zwei Liter Wasser (zu wenig und dazu noch das falsche Getränk), ein Weißbrot und eine halbe Salami sollten im folgenden als Weggefährten dienen. Also schwangen wir uns in den Jeep unseres Freundes, um 20 Minuten später festzustellen, dass ein eigensinniger Baumstamm sich an diesem Tage in den Kopf gesetzt hatte, den Anfahrtsweg zu versperren. Wir ignorierten ihn und umgingen per pedes das Problem.

Eine wunderbare Entscheidung: vor uns lag die kleine Schweiz, idyllisch und allerliebst. Eine halbe Stunde später erreichten wir den Stützpunkt der Guards, an dem sich jeder einigermaßen verantwortungsbewusste Tourist zu melden hat. Nicht, dass wir es in Betracht gezogen hätten, rasten die Verantwortlichen doch just in diesem Moment an uns vorbei in Richtung Baum. So schlenderten wir weitere fünf Minuten, fragten uns, wann denn nun die Abzweigung Richtung Parque Nacional Sierra Nevada komme, bogen sinnlos in die Botanik ab, erreichten etwas später (10 Minuten) eine Hütte und verschlangen Salami, Wasser und eine nicht geringe Anzahl Zigaretten. Phänomenal!

Dann machten wir uns erneut auf den Weg. Bergauf, immer bergauf, durch das, was der Europäer Regenwald nennt (tatsächlich durchquerten wir sämtliche vorstellbaren Vegetationsstufen). Wir passierten eine Gruppe Birdwatcher, die ein insgesamt äußerst eindrucksvolles Bild abgaben.

Beschuht mit gelben Gummistiefeln, bebrillt mit dicken Kassengestellen und alle um die 50-60 Jahre jung. Sie winkten uns zu und wünschten uns für den weiteren Weg alles Gute.

Ausgestattet mit einem Fernglas (einem wirklich professionellen, wie ich mir habe sagen lassen) erspähten wir hin und wieder die farbigsten Vogelgattungen. Unisono verkündeten wir lauthals die entsprechende lateinische und englische Bezeichnung jedes einzelnen Exemplars. (Leider mussten wir später, sehr viel später feststellen, dass laut "großem Vogelfreund", einer sehr einschlägigen Lektüre für Vogelkundler, die einzelnen Arten nicht so ohne weiteres auseinander zu halten sind. Jedenfalls erkannten wir nur solche, die gar nicht in Venezuela heimisch sind. Dementsprechend skeptisch reagierte unser Publikum.)

Doch eigentlich waren es auch nicht die Papageien, Tucane und was weiß ich, die mich am meisten beeindruckten, sondern zwei Fettrallen (sehen aus wie übergewichtige Truthähne). Leichten Fußes bog ich um eine der vielen Windungen des Trampelpfades als plötzlich rechter Hand zwei riesige Schatten aus der Böschung hervor brachen. In gleichem Maße erschrocken und gebannt, blickten sie mir tief in die Augen. Nun reagierte jeder der drei Protagonisten auf unterschiedliche Weise: Während ich selber verzweifelt nach der lateinischen, englischen oder sonstigen Bezeichnung dieser zwei Kollegen suchte, um sie durch den Wald brüllen zu können, beschleunigte Herr Fettralle aus dem Stand und verschwand links im Unterholz. Unglücklicherweise bedachte er dabei weder sein Gewicht noch die Tatsache, dass es auf dieser Seite steil bergab ging. Frau Fettralle und ich verfolgten seinen Untergang audiovisuell. Dann drehte sich die nun Verwitwete um 180 Grad und entschwand meinen Blicken gemächlich auf dem Weg, den sie gekommen war.

Ich bedauerte den Unfall weitere 2 Minuten bis mein Weggefährte zu mir aufgeschlossen hatte. Dann erhöhten wir unser Tempo; immerhin sollte es irgendwo da oben eine Lagune geben und wir hatten schon zuviel Zeit vertrödelt. Keine 30 Minuten später begannen die Diskussionen.

Wir würden es nicht schaffen, die Dunkelheit würde uns überraschen, wir würden schwerlich den Rückweg finden und Freunde würden sich um uns sorgen (reine Mutmaßung). Aber vielleicht läge die mittlerweile legendäre Lagune ja sozusagen um die Ecke, nur 5 Minuten, klitzekleine weitere 5 Minuten und nochmals 5 und nochmals 5 und so weiter und so fort. Wir verloren jegliches Zeitgefühl bis wir auf die ersten Einheimischen in diesem Dschungel trafen. Und wider aller Erfahrung und besseren Wissen vertrauten wir der Aussage, die Lagune läge um die Ecke (so wie wir uns das seit Stunden schon gedacht hatten), für so sportliche junge Männer wie uns (ich schaute mich um, konnte aber nicht erkennen, wer gemeint war) keine 10 Minuten mehr. Wir wollten es einfach glauben.

Eine Stunde später, ich konzentrierte mich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen, meine Naivität in Bezug auf das Vertrauen zu anderen Leuten verfluchend, erhielten wir dann die Bestätigung von einer Schwester der zuvor Auskunft Gebenden (reine Mutmaßung): für euch, keine 10 Minuten. Hoffnung keimte auf, nach einer halben Stunde redeten wir uns ein, wir wären einfach nur zu langsam und nach weiteren 1000 Schritten steil bergan brach ich zusammen. Natur, Natur, wer will das schon sehen, Postkarten, ja das ist die Lösung. Ich überredete meinen Kollegen umzudrehen und er murmelte irgendwas von Städtern. Egal!

Auf halber Strecke stoppten wir (zwischenzeitlich wäre ich Herrn Fettralle fast ins Tal gefolgt, nachdem mein unsicherer Schritt mich an den Rand des Weges geleitet hatte) und genehmigten uns die 10. Zigarette. Drei weitere Touristen mit Führer näherten sich uns. Wir setzen zufriedene Mienen auf und vermittelten den Eindruck von Unbekümmertheit: Aufstieg, lächerlich! Spaziergang, selbst für Raucher! Die Gruppe kroch an uns vorüber, die Erschöpfung zwang mich in die Knie.

Nun ist bergab glücklicherweise immer nur halb so schlimm. Den Kopf gesenkt, lässt man sich vorne über fallen, und hofft, die Füße folgen. Wir überholten die zwei Schwestern (ich weigere mich, meine Worte hier widerzugeben) und erreichten kurz vor Einbruch der Dunkelheit den Ausgangspunkt. Mich an einer Tafel abstützend, las ich dann folgende Worte: Laguna la Coromoto, 9 Kilometer; maximal 3 Stunden. Und ich beschloss, zu sterben.

Es folgten der oben erwähnte Disput mit dem Guard und die Aussicht auf weitere Strapazen. Doch nicht mit uns! Ein Restaurant entdeckend, 6 Bier vernichtend, harrten wir der Lösung all unserer Probleme. Der Taxifahrer grinste, verlangte 2 Dollar, setzte uns 4 Kilometer später zu Hause ab und entschwand engelsgleich.

Text + Fotos: Sönke Schönauer

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Als Ausgangspunkt für Reisen in Venezuela empfiehlt der caiman:
Posada Casa Vieja, Tabay / Mérida


Online Reiseführer Venezuela (reihe fernrausch)
Der Hauptteil des Reiseführers besteht aus Beschreibungen von Ausflugsmöglichkeiten in die Natur, in Form von ein- oder mehrtägige Touren, individuell oder mit Guide organisiert, und Abenteuertrips.






 
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