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Spanien: Carmen in Sevilla
Die populärste Oper als Open Air Event an Originalschauplätzen


Sevilla, (noch) die schönste Stadt der Welt, ist immer eine Reise wert. Man sollte die andalusische Kunstmetropole dringend besuchen, bevor die größte Altstadt Europas ihr romantisches Flair durch hypermoderne U-Bahn-Stationen und die grauenhafte Bauplanung für die zentrale Plaza de la Encarnación für immer verlieren wird. Für einen Besuch Sevillas bietet sich vom 02. – 12. September 2004 die beste Gelegenheit, denn die emblematischen Plätze der Hauptstadt Andalusiens werden für 10 Tage zur Kulisse für die romantischste aller Opern: Carmen.

Von den zahlreichen Opern, deren Handlung in Sevilla spielt (z.B. Mozarts "Don Giovanni", Rossinis "Barbier von Sevilla", Beethovens "Fidelio" und Verdis "Die Macht des Schicksals"), ist die "Zigeuneroper" Carmen vielleicht die populärste. Hat sie docht viele ewig moderne Gassenhauer zu bieten, deren Melodien auch Opernmuffel mühelos trällern oder pfeifen können. Man denke nur an den Triumphchor der Toreros, den frechen Kinderchor im ersten Akt und natürlich an Carmens berühmte "Habanera", eine der bekanntesten Opernarien überhaupt und ein romantisches Plädoyer für die leidenschaftliche Liebe, die "frei wie ein Zigeunerkind" sich keiner festen Bindung unterwirft.

Nun wird diese Oper erstmals komplett an den verschiedenen Originalschauplätzen in Sevilla aufgeführt – ein ehrgeiziges und gewagtes Projekt, das Opernfans in aller Welt in Begeisterung versetzen wird. Schon über 20.000 Eintrittskarten sind verkauft worden. Die Idee, die unvergleichliche Atmosphäre Sevillas, die dieses blutige Eifersuchtsdrama (Merimées Novelle, Bizets Oper) inspiriert hat, auch als natürlichen Hintergrund für seine Aufführung zu nutzen, ist so gut und liegt so nahe, dass man sich fragt, warum man nicht früher darauf gekommen ist.

Die Veranstalter von "Opera on Original Site Inc." unter der Leitung von Marketing-Experten Michael Ecker haben dieses Konzertereignis der Superlative mit Unterstützung der Stadt Sevilla geplant und zwei Stars von Weltrang dafür verpflichtet: Lorin Maazel, den Dirigenten der New Yorker Philharmoniker und den spanischen Regisseur Carlos Saura, dessen Flamenco-Version der "Carmen" (1983) einer der erfolgreichsten Kultfilme aller Zeiten wurde. Für jeden der vier Akte haben die Organisatoren ein anderes Szenarium in der Altstadt Sevillas ausgewählt: die alte Tabakfabrik, die Plaza de España, den María-Luisa-Park und die Stierkampfarena.

Erster Akt: Universität (Alte Tabakfabrik)
Vor diesem riesigen Gebäude, von der Grundfläche her das zweitgrößte Spaniens und erbaut 1730-1760 von Sebastian van der Borcht als Königliche Tabakfabrik, werden die Bühne und Sitzplätze für mindestens 8.000 Zuschauer aufgebaut. Alles wird sich vor dem Portal der Juristischen Fakultät abspielen.

Wo sonst geplagte Jura-Studenten zu Vorlesungen oder Prüfungen ein- und ausgehen, werden also Anfang September Operndiven die Röcke raffen, der exzentrische Dirigent Lorin Maazel sich mit dem sturen Regisseur Carlos Saura Wortgefechte liefern und schließlich der Chor der Zigeunerkinder endlich Carmens Erscheinen ankündigen.

Sowohl in Prosper Merimées Kurzroman als auch in Bizets Oper arbeitet Carmen als Zigarrendreherin in genau dieser Tabakfabrik. Beim ersten Zusammentreffen der beiden Hauptfiguren schleudert Carmen im Vorbeischlendern dem Soldaten Don José eine Akazienblüte ins Gesicht, worauf dieser in Liebe für sie entflammt. So schnell kann`s gehen. Danach muss er sie aber erst mal verhaften, da sie in der Tabakfabrik einer Kollegin, von der sie als Hure bezeichnet worden war, mit dem Messer ein Kreuz ins Gesicht ritzt. Am Ende des ersten Akts gelingt es Carmen natürlich, auf dem Weg ins Gefängnis zu fliehen. Vielleicht hat sie sich im gegenüberliegenden Stadtpark versteckt, den die Zuschauer auf dem Weg zum zweiten Akt durchqueren müssen. Obwohl man die dreihundert Meter bis zur Plaza de España zu Fuß gehen kann, stehen für die ganz bequemen Carmen-Fans auch Pferdekutschen zum Transport bereit.

Zweiter Akt: Plaza de España
Kein Opernhaus der Welt könnte so pompöse Kulissen bieten wie der weite Halbkreis der monumentalen Plaza de España mit ihren beiden Ecktürmen, dem zentralen Palast und den Arkadengängen und Keramikbrücken.

Streng genommen dürfte dieser Platz nicht als "Originalkulisse" bezeichnet werden, denn erstens spielt der zweite Akt der Oper eigentlich in einer Taverne der Vorstadt Triana (wo aber der Platz für eine große Zuschauermenge fehlt), und zweitens wurde die Plaza de España erst 1929 erbaut, die Uraufführung der Carmen-Oper datiert aber schon von 1875.


Dieser zweite Akt ist voller erotischer Spannung, denn zunächst beginnt hier die heiße Liebesaffäre zwischen Carmen und Don José, der ganz dem Zauber der wilden Zigeunerin verfällt. Aber Carmen lernt in der Taverne auch schon den Torero Escamillo kennen, der ihr den Hof macht und eine neue Begierde in ihr erweckt. Es deutet sich an, dass Don José für Carmen nur eine Affäre unter vielen, während sie für ihn zur leidenschaftlichen Liebe seines Lebens geworden ist.

Jedenfalls bietet dieser Platz, dessen Architektur zugleich repräsentativ und verspielt wirkt, mit seinen Arkaden, den zierlichen Säulen und kleinen Brücken ein südländisches Ambiente und ideales Szenarium für die Zigeunertänze und Carmens Lied "Les tringles des sitres tintaient" – neben der "Habanera" wohl die schönste Arie dieser Oper.

Es bleibt nur zu hoffen, dass die zahlreichen Gerüste und Absperrungen, die während der Renovierungsarbeiten einige Abschnitte der Plaza de España unpassierbar machen, bis zum 02. September verschwunden sein werden.

Dritter Akt: María-Luisa-Park
Zwischen dem zweiten und dritten Akt werden dem Zuschauer keine größeren Stadtwanderungen abverlangt, denn die Bühne für den dritten Akt wird einfach gegenüber am Eingang zum Stadtpark der María Luisa aufgebaut.

Wie man allerdings laut Ankündigung der Veranstalter diesen üppig blühenden subtropischen Garten in eine karge Bergregion für die Räuberszene verwandeln will ohne Palmen zu fällen oder Lilien nieder zu trampeln, bleibt abzuwarten.

Jedenfalls müssen für diese kulturelle Großveranstaltung, zu der die Zuschauer in Abendgarderobe durch die Alleen flanieren werden, zunächst spielende Kinder, joggende Fußballmannschaften und cruisende Schwule aus dem Park verbannt werden. Und auch sonst wird man einiges für die entscheidenden Szenen, in denen der ehemals brave Gendarm Don José aus Liebe zur wilden Carmen zum Schmuggler und Ausgestoßenen wird, verändern müssen. Im Gegensatz zu den beiden ersten Schauplätzen braucht man hier zusätzliche Kulissen.

Dafür muss der heutige Zuschauer nicht mehr auf den "unmoralischen" Inhalt der Carmen-Oper vorbereitet werden. Man hat jetzt mehr Verständnis als damals dafür, dass man für Liebe (oder das, was man dafür hält) bereit ist, alles zu opfern. Bei der Uraufführung 1875 sah das ganz anders aus.


Das Pariser Publikum, eigentlich nicht als besonders moralisierend bekannt, empfand diese Oper mit der "Zigeunerhure" Carmen und dem vom Ehrenmann zum Räuber und Mörder mutierenden Don José als Skandal: die Sänger wurden gnadenlos ausgebuht und auch die Kritik verriß das Werk als Halunken-Folklore. Der Komponist Bizet ertrug dieses Scheitern nicht und starb nur drei Monate später. Grausame Ironie der Musikgeschichte: heute gilt dieses zunächst verpönte Werk als die erfolgreichste und meist gespielte Oper der Welt und Bizet – würde er denn noch leben – wäre steinreich.

Vierter Akt: Stierkampfarena
Nach dem dritten Akt gibt es eine lange, fast zweistündige Pause und die Zuschauer werden an der schönen Uferpromenade Sevillas entlang geführt. Hier sollen Tischreihen mit Tapas- Terrassen und Souvenirstände mit Carmen-Kitsch aufgebaut werden. Natürlich stehen auf Wunsch abermals Pferdekutschen zum Transport zur Verfügung.

Das dramatische Finale im vierten und letzten Akt wird genau an dem Ort stattfinden, der sowohl in Merimées Novelle als auch in Bizets Oper dafür vorgesehen ist: in der Stierkampfarena Sevillas, die 14.000 Zuschauern Platz bietet. Es ist die zweitälteste Plaza de Toros der Welt, erbaut 1760 – 1780 im Barockstil, die in Carmen-Verfilmungen (u.a. von Francesco Rosi) bereits als Schauplatz eingesetzt wurde. Dieser vierte Akt soll passender Weise mit einem (verkürzten) echten Stierkampf eingeleitet werden – aber unblutig, wie die Veranstalter betonen. Schließlich wird die Hure Carmen inmitten der Arena sterben müssen, nicht der Stier.

Denn als der vor Eifersucht rasende Don José seine geliebte Carmen an der Seite ihres neuen Liebhabers, des Toreros Escamillo, in die Arena kommen sieht, zerrt er sie mit sich und beschwört sie, bei ihm zu bleiben.

Sie aber, in einem emanzipatorischen Akt der Rebellion, schleudert ihm ein wütendes "Nein!" entgegen, worauf er sie in seiner Verzweiflung erstechen und ihr Blut den Sand rot färben wird. So nimmt eines der meist verfilmten und aufgeführten Dramen der Weltliteratur sein wohlbekanntes Ende. Und es bleibt zu hoffen, dass in der schönen Arena von Sevilla, die wie geschaffen ist für große Oper, demnächst nur noch Theaterblut und kein Stierblut mehr fließen wird.
Bereits 20.000 Eintrittskarten sind weltweit für dieses verlockende Carmen-Spektakel verkauft worden. Doch nun kommt der Skandal: alle Carmen-Fans haben sich zu früh gefreut. Denn Stardirigent Lorin Maazel ist unpässlich – so die offizielle Begründung. Am 4. August wurde die Mega-Veranstaltung einfach abgesagt! Angeblich wegen einer Augenoperation des Dirigenten, dem die Ärzte jede Anstrengung untersagt haben, und weil kein gleichwertiger Ersatz für Herrn Maazel gefunden werden konnte.

Die Frage nach den weiteren oder sogar den wahren Gründen für die Absage muss aber erlaubt sein. Möglicherweise haben die im vollen Gange befindlichen Bauarbeiten für die neue Sevillaner Metro auch eine Rolle bei diesem Festival-Debakel gespielt. Denn ausgerechnet auf die Calle San Fernando direkt neben der Tabakfabrik, wo der erste Akt aufgeführt werden sollte, konzentrieren sich zur Zeit diese mit beträchtlichem Verkehrschaos, tiefen Gruben, Lärm und Staub verbundenen Arbeiten, die man auch kaum für zwei Wochen ruhen lassen kann. Das Metro-Chaos sowie die Restaurierung der Plaza de España könnten also eine ungenannte Ursache für die Carmen-Absage sein. Möglicherweise waren aber auch die Veranstalter "Opera on Original Site Inc." finanziell nicht flüssig genug, um die nötigen Vorschüsse für Gagen, Organisation und Sicherheitsvorkehrungen zu gewährleisten und die Stadt Sevilla war zu wenig bereit, hier einzuspringen. Weitere Spekulationen werden gern gesammelt.

Eines steht jedenfalls fest: für den Tourismussektor der Kunstmetropole Sevilla bedeutet diese kurzfristige Absage ein katastrophales Desaster, denn viele der verkauften Eintrittskarten waren durch ein "Paket" (zum stolzen Preis von 2710 €) an Hotelübernachtungen gekoppelt, die nun storniert werden. Nun den enttäuschten (Nicht-) Zuschauern das dubiose Angebot zu machen, wenn sie ihr Geld nicht zurückfordern, würden sie im nächsten Jahr 50% des Eintrittspreises erlassen bekommen und dieses Verfahren – unfreiwillig zynisch - "Bono de Confianza" (Vertrauensbonus) zu nennen, grenzt schon an Sarkasmus.

Und selbst wenn die Verantwortung für diese peinliche Panne nicht direkt bei der Stadtverwaltung liegt, so scheint sich wieder ein Klischee zu bestätigen, das viele Sevillaner auch selbst formulieren: Sevilla hat ein ungeheures Potential an Kunst und Kultur, aber im Verhältnis dazu eine mangelhafte Organisation und ein unglaublich schlechtes Marketing seiner kulturellen Highlights.

Aber dennoch: auch ganz ohne "Carmen" ist Sevilla eine Reise wert – nur beeilen sollte man sich. Damit man ankommt, bevor der Zauber dieser Stadt zerstört wird durch gähnende Metro-Eingänge und die lächerlichen Beton-Pilze des deutschen Architekten Jürgen Mayer, die bald gegenüber der ehrwürdigen Renaissance-Kirche La Anunciación auf der Plaza de la Encarnación emporschießen werden.

Text + Fotos: Berthold Volberg druckversion   

Links:
carmeninsevilla.com/espanol
next-tv.de/in-concert/carmen/Carmen

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