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Macht Laune: Die Kunst der stilvollen Verarmung

Der soziale Abstieg ist eine Kunst, die bereits ganze Völker mit Bravour gemeistert haben. Argentinien beispielsweise: ungeschlagener Meister in der Performance des sozialen Verfalls.

Einen weiten Weg haben wir nicht mehr bis dahin, also höchste Zeit, sich auf die Veränderungen im täglichen Leben hierzulande einzustellen. Und mit ein bisschen Übung und lateinamerikanischem Alltagskulturmimikry können wir die Fertigkeiten unserer Vorbilder prima anwenden.

Beispiel eins: Parkplatzwächter. Warum sollten Autofahrer auf den gefährlichen öffentlichen Parkplätzen auf eine private Bewachung verzichten? Organisiere Samstags abends in der nächstbesten Stadt auf öffentlichen Parkplätzen Wächter, welche die Autofahrer auf die gefährliche Gegend und teure Reparaturkosten aufmerksam machen. Sicher werden die Parkplatzsucher diese Tipps entsprechend honorieren. Erfahrene Parkplatzwächter wissen, dass jede Gegend gefährlich sein kann, daher sollte auf jeden Fall genügend privates Sicherheitspersonal zur Verfügung stehen. Fortgeschrittene könnten daher einzelne Parkplatzbereiche an Subunternehmer vergeben.

Beispiel zwei: Autofahrern sollte jeder nur erdenkliche Service geboten werden, denn schließlich hat in unserer Gesellschaft niemand Zeit. Schaffe Abhilfe. Verkaufe überteuerten Plastikkram, Zeitungen, Handykarten, Eiskratzer, Fleckenentferner an Ampeln und Kreuzungen oder Pokemonkarten an quengelnde Kinder auf der Rückbank.

Beispiel drei: Führe Ersatzgeld in deinem Viertel ein. Vorbild auch hier ungeschlagen Argentinien, das bereits vor einem Jahrzehnt in den nördlichen Provinzen "Provinzbons" als Zahlungsmittel kursieren ließ.

Bei Mehrbedarf praktisch per Fotokopierer auf normalem Papier zu vervielfältigen. Kann innerhalb eines Viertels, Stadt oder eines Tauschzirkels verwendet werden. Der Gültigkeitsbereich sollte auf der Rückseite mit dem Versprechen, dass alle Untertanen dieses Zahlungsmittel akzeptieren, vermerkt und vom örtlichen Bandenchef, Oberbürgermeister oder Vereinsvorstand unterzeichnet in Umlauf gebracht werden.

Für Fortgeschrittene, die mit einem Farbkopierer die Inflation hochgetrieben haben und weiterhin im Geschäft bleiben möchten: Zahlungen, vor allem Gehälter an Angestellte, die keine andere Chance haben, möglichst verspätet und wenn, dann nur im System "differenzierter Schecks" auszahlen: ein selbstgestalteter Scheck, möglichst bunt, das hebt die Glaubwürdigkeit, auf welchem geschrieben steht: Bei Einlösung in der ersten Woche des Folgemonats beträgt der Wert dieses Schecks 50% seines Ausstellungsbetrages, bei Einlösung jeder späteren Woche erhöht sich der Wert um 10%. Vorteil: erst 10 Wochen nach Ausgabe der Schecks bekäme der Angestellte 100% der Gesamtsumme ausgezahlt, abzüglich einer Bearbeitungsgebühr, versteht sich; bis dahin hat die Inflation wieder kräftig zugeschlagen. Einlösbar am besten nur über 0190er Telefonleitungen zu Onlinebanken. Dieses neue Kundenpotential kommt den Methoden der meisten großen Geldinstitute hierzulande sehr entgegen und sie werden sich dieser Idee bestimmt nicht verschließen. Ansonsten tut es auch ein privat gegründetes Institut, das sich bestimmt steuerlich absetzen lässt.

Wichtig: Übertreiben sollte man es nicht. Argentinische Cleverles haben es auf diese Art und Weise geschafft, einen geldlosen Tauschzirkel zu sprengen, der vielen Armen das Überleben sicherte. Sie kopierten und fälschten die Gutscheine, die statt Geld im Austausch für verschiedene Dienstleistungen akzeptiert wurden, in so großer Menge, dass eine Hyperinflation das System kippte.

Beispiel vier: Touristen. Reiche asiatische Touristen sollen nicht nur auf dem Oktoberfest deutsche Kultur kennen lernen.

Biete Schuhplattler-, Jodeln- und kölsche Karnevalsliedgutkurse zu horrenden Preisen an und verkaufe sie als authentische deutsche Kultur. Japaner werden es lieben. Und freundschaftliche Verbindungen zur kommenden Weltmacht China nach dem wirtschaftlichen Untergang der USA sind zukünftig strategisch nicht zu unterschätzen.

Selbst die Medienindustrie hat den Trend erkannt und Arbeitslose als Wachstumsmarkt entdeckt. Spartipps in Zeitschriften überbieten sich: "Geiz ist geil - bei Aldi Schampus kaufen und Skoda Superb fahren". Verarmen en vogue. Die Marketingkampagne zur Platzierung eines neuen Ideal des perfektionierten Lebensstils und elegante Einleitung zur Einstimmung auf noch schlechtere Zeiten.


Diese unsäglichen Anbiederungsversuche an Verarmende (manche bevorzugen in falscher Scham noch den Ausdruck "Vermindert Wohlhabende") sollten auf jeden Fall boykottiert werden. Zuvorderst in den kleinen alltäglichen Dingen des Lebens. Der durchschnittliche Großstädter mit akademischer Bildung zwischen 25 und 38 gibt pro Woche ungefähr 478 Euro für Kaffee in bedruckten Pappbechern aus, oft ein sozialer Zwang, dem man sich nur schwer entziehen kann. Alternativ könnte daher auf ein chinesisches Rezept zurückgegriffen werden: "Weißer Tee", denkbar einfach, denkbar günstig, denn er besteht aus purem heißen Wasser, schmeckt sogar kalt noch köstlich, ist nie zu stark oder zu schwach, benötigt keine Teebeutel und verursacht keine gelben Zähne: ayurvedisches Heilmittel.

Übrigens konnte man vor kurzen in der amerikanischen Version von ebay eine Menschenseele ersteigern. Sie erzielte einen gar nicht mal so schlechten Preis, aber das nur als Gedankenanstoß nebenbei. Schließlich hat der Mensch definitiv nur zwei Nieren, aber wer will prüfen, wie oft man das als Kunstprojekt deklarierte Produkt "Seele" oder "Gewissen" schon verkauft hat? Dabei aber bitte nicht den argentinischen Tauschzirkel vergessen: bei zu vielen Seelen oder farbkopiertem Gewissen auf dem Markt droht definitiv Entwertung.

Verarmung mit Stil macht Laune

Text: Alexandra Geiser
Fotos: Dirk Klaiber
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