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Grenzfall: Tarantula Rasa

In jungen Jahren zählte zu meiner Lieblingslektüre ein Werk über Obskures. Zwei Bilder sind mir hierbei besonders in Erinnerung geblieben: Zum einen das Bild vierer komatöser Chinesen, welche 24 Stunden am Tag Opium rauchen und scheinbar freiwillig in ihrer dürftigen Behausung, bestehend aus einem Raum mit mickrigen Etagenbetten, vor sich hin vegetieren. Für mich, für den es nichts Schlimmeres gab, als allabendlich ins Bett geschickt zu werden, eine mehr als absurde Vorstellung. Zum anderen das Bild eines gewaltigen Spinnenetzes, das die gesamte DinA4-Seite des Buches einnahm. Eine Vogelspinne, die Erbauerin der Tod bringenden Wand aus starkem Faden, stellt, am Rande des Netzes lauernd, nicht nur Vögeln sondern auch größerem Getier bis hin zu Kindern und gebrechlichen Erwachsenen nach. Nichts würde der Spinne entkommen, hätte es sich erst einmal in ihrem Netz verfangen.

Mehr als ein Jahrzehnt später erkunde ich mit Kollegen die Maya-Stadt Tikal. Im Norden Guatemalas gelegen umgibt die beindruckende Ausgrabungsstädte Urwald soweit das Auge reicht. Den Geräuschpegel hoch halten Zirpen und Grillen, alle Arten von Papageien und die den Jaguar imitierenden Brüllaffen. Zentrum der Stätte bildet der Große Platz zwischen der Jaguar-Pyramide und dem Tempel der Inschriften.

Wir schlendern über den Platz dem Ausgang entgegen, welcher sich in gut einem Kilometer Entfernung befindet, immer schön durch den dichten Wald, als uns einer der Wächter des Parks zu sich ruft, um uns einige ungemein Vertrauen einflössende Exemplare der heimischen Tarantula zu präsentieren. Fasziniert und fröstelnd zugleich, beobachten wir die Männerhand großen Spinnen mit ihren Zeigefinger dicken Beinen, wie sie ihre gewaltigen Kiefer in Stöckchen schlagen. Und dann ist es dunkel. Geschwind leuchtet der Uniformierte mit seiner Taschenlampe nach links und rechts und immer mehr Taranteln erscheinen im Scheinwerferlicht. Plötzlich ist der gute Mann und wir ohne Taschenlampe; allein und umzingelt. Es bedarf mehrerer Kästen Bier, um die schreckliche halbe Stunde des Drei-Männer-Arm-In-Arm-Zitternd-Heimwegs vergessen zu machen und mit neuem Mut in die dunklen Zelte zu fallen.

So im Zelt liegend, kommen mir Zweifel an der Jagdtechnik hiesiger Vogelspinnen. Wie wollen sie des Nachts, und sie verlassen ihre Höhlen nur im Dunkeln, Vögeln nachstellen, die indes zur gleichen Zeit in den Baumwipfeln schlafen. Und wo sind ihre Netze? Die Antwort, wenn auch eher noch mehr Verwirrung in die Sache bringend, erhielt ich am folgenden Morgen: Mit einer Araña de pajaros (Vogelspinne) wusste keiner der Einheimischen etwas anzufangen, vielmehr erfuhr ich, dass man die Spinnen in Lateinamerika als Araña de caballos bezeichnet, als Pferdespinne; da sich die Spinne unter die Hufe vorbei galoppierender Pferde heftet und diese durch einen gezielten Biss zu Fall bringt und den damit sicheren Tod herbei führt.

Etwas verwirrt versuche ich ein wenig Licht in die Sache zu bringen: Die Naturforscherin und Malerin Maria Sibylla Merian (1647-1717) beobachtete in Surinam eine gewaltige behaarte Spinne beim Verzehr eines Vogels, skizzierte die Szenerie und verewigte diese Gegebenheit als Kupferstich. Nach diesem Kunstwerk nun wird eine ganze Artenreihe der Gattung dicke, große, behaarte Spinne avicularia getauft, zu englisch bird-eating-spiders, zu deutsch Vogelspinne. Keine der 800 Vogelspinnenarten (Vogelspinne dient fortan dem Volksmund als Überbegriff) spinnt Netze, allesamt sind sie Lauerjäger. Nähert sich ein Insekt dem Unterschlupf zu Boden oder im Baum, greift die Spinne blitzschnell zu. Auch kleine Wirbeltiere sollen hin und wieder auf dem Speiseplan stehen, so eventuell auch Maria Sybillas Vogel.

Wissenschaftlich falsch ist es, eine Vogelspinne als Tarantel zu bezeichnen, da die Tarantel eine in Europa heimische Wolfsspinne ist. Der Begriff Tarantula wanderte mit europäischen Auswanderern in die neue Welt und wurde für die der Wolfsspinne nicht ganz unähnliche Vogelspinne übernommen. Es zog mich wieder gen Lateinamerika. Diesmal aber hatte ich mich auf die Begegnung mit der haarigen kleinen Bestie vorbereitet. Ich wusste, dass in Venezuela die größten Exemplare der Spinnengattung leben: bis zu 30 Zentimeter von Fuß zu Fuß Spannweite; gewaltige Weibchen, die ihre Männchen an Größe überragen und bis zu 25 Jahre alt werden. Venezuela also war mein Ziel. Recht schnell verschlug es mich in den Nationalpark Morrocoy, wo ich zur Osterzeit für zwei Wochen eine Hütte am Berghang bezog. Von der Hängematte aus genoss ich den Blick auf das traumhafte, karibische Inselparadies. In dieser Zeit suchten das offenstehende Haus fünf Vogelspinnen heim, eher aber kleine Exemplare von der Größe einer Untertasse.

Zur Beseitigung der Spinnen nutzte ich ein großes Glass mit Verschluss: Glas über die Spinne, Deckel drauf und weiter unten am Hang Freigabe der Tarantel. Einmal, ich aß gerade mit Freunden zu Mittag, tauchte eine Vogelspinne unter dem Tisch auf und verschwindet geschwind im Glas. Minuten später flog mir ein Grashüpfer von bestimmt sieben Zentimeter Länge ins Haar. Der Körper des kräftigen Tieres war zu einem Blatt geformt und somit im blättrigen Geäst wunderbar getarnt, nicht so aber auf meinem Kopf beziehungsweise auf dem Mittagstisch, auf dem er landet, nachdem ich ihm einen Schlag versetzt hatte.

Wider meiner pazifistischen Ader wanderte die Heuschrecke zur Tarantel ins Glas, quasi als Zeitvertreib. Es dauerte nicht lange, da hatte die Tarantel den Hüpfer fest im Griff. Wir hielten den Kampf für entschieden und widmeten uns anderen Dingen. Erst als wir zum Freilassungsspaziergang ansetzten, schauten wir wieder in das Glas. Ungläubigkeit ob der Geschehnisse: Der Grashüpfer hatte der Vogelspinne fein säuberlich alle acht Beine abgetrennt und war gerade dabei ihren recht stattlichen Körper zu zerlegen.

Ja und nun stecke ich zu aller freudigen Erkenntnis, dass Vogelspinnen absolut harmlose Geschöpfe sind und bestimmt keinem Vogel geschweige denn einem Pferd etwas zu Leide tun können, in einem Dilemma: Lasse ich aus meinen Zeichnungen, die so schlecht sind, dass sie nicht einmal zu diesem Artikel abgedruckt werden, einen Kupferstich anfertigen und muss damit rechnen, dass die Vogelspinne in Grasshüpferfutter-Spinne umgetauft wird; obwohl es sich vielleicht nur um ein einmaliges Erlebnis handelt (altersschwache Spinne im Nahkampf mit geschulter Heuschrecke)? Habe ich überhaupt eine Chance, dass das Geschilderte irgendwer glaubt; schließlich bin ich nicht einmal Biologe, oder werde ich aufgrund der unglaublichen Beobachtungen geächtet und verdonnert zu einem Leben unter den, die Vogelspinnen als Delikatesse schätzenden, venzolanischen Yanomani-Indios?

Text: Dirk Klaiber

Weitere Artikel zur Kolumne findet ihr im Archiv.







 
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