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grenzfall: Weltkulturerbe Müll

Während der Mensch sich selbst entdeckte und erkannte, dass er menschlich sei, entwickelte sich gleichzeitig aufgrund seiner ach so menschlichen Natur sein Subprodukt: DER MÜLL!

Über Müll zu sprechen, wurde nicht nur notwendig, sondern entwickelte sich zu einer modisch-philosophischen Bewegung. Es folgten Taten: die Trennung von Flaschen und Papier, von organischem und anorganischem Müll, von verschlissenen und ansehnlichen Kleidungsstücken, allgemein von Neuem und Altem, von Dreckigem und Sauberem, von Positivem und Negativem, von Gutem und Schlechtem... ein ewiger Kampf!

Was ist er überhaupt, der Müll? Woher kommt er, und wohin geht er? Wer war zuerst da? Das Ei oder die Henne? Der Mensch oder der Müll?

Der Müll ist präsent, hier und jetzt, genau in diesem Moment: in der Luft, in der Politik, im Fernsehen, der Religion, im Internet, in den Gedanken... Komischerweise gibt es kein Wort das per Definition das genaue Gegenteil von Müll ist; deshalb nehmen wir den Müll als das, was er ist, nämlich Müll, und wer weiß, ob wir es nicht seiner Existenz verdanken, dass wir überhaupt gelernt haben, zu trennen!

So halte ich es für sinnvoll, euch hier eine Geschichte zu erzählen, die sich in einem dieser Länder zugetragen hat, in denen das Überleben eine Kunst darstellt, und dies oftmals mit Hilfe des Mülls! In einer Stadt dieses Landes gibt es jeden Tag einen Markt. Grünzeug, Früchte, von allem ein bisschen, bis hin zum Schweinefleisch.

Eine gutgekleidete und wohlgenährte Frau besucht den Markt und fragt, als sie so das ganze Grünzeug betrachtet, den Verkäufer: Wo sind denn die schönen frischen Tomaten? Haben Sie denn nur diese alten hier? So etwas würde ich niemals essen!

Und genau hier beginnt die Geschichte der armen Tomate, die nicht verkauft wurde, weil sie schon zu alt war und alte Tomaten ohne eine robuste Form und ein extravagantes Rot keine Chance haben, irgendwohin zu gelangen, außer in den Müll. Aber wer hat behauptet, dass Müll keine Zukunft hätte?

Diese arme Tomate jedenfalls wird weggeworfen und landet, gemeinsam mit anderem alten Grünzeug, erst mal in einer Abfalltonne mit Endstation Müllkippe.

Hier trifft sie auf Menschen, die die Ankunft des Mülls als ein großes Geschenk ansehen.

Mit zwei Tüten in der Hand nähert sich ein Mann der alten Tomate, steckt sie, ohne zu überlegen, zusammen mit weiteren Früchten ein und schleppt sie in seine Hütte, die er mit seiner Frau, seinen fünf Kindern und einem Schwein teilt.

Die Hälfte der Lebensmittel sind für die Familie, die andere Hälfte für das Schwein, darunter die Tomate.

Genau an diesem Tag benötigt der Mann Geld, um seine Rechnungen zu bezahlen. Er entschließt sich, das Schwein zu töten. Dessen frisches Fleisch, genährt durch die alte Tomate, geht direkt auf jenen Markt, der jeden Tag in dem Land abgehalten wird, in dem das Überleben eine Kunst ist, und dies oftmals mit Hilfe des Mülls.

Sei es Schicksal, Karma oder freier und spontan sich konstituierender Wille des Mülls, auf jeden Fall besucht unsere gutgekleidete und wohlgenährte Frau jenen Markt, mit dem überwältigenden Verlangen nach Schweinefleisch.

Wie schön ist es doch zu sehen, wie diese Frau es überlebt, das wohlschmeckende Fleisch des mit der alten Tomate gefütterten Schweins zu verzehren.

Ob diese Geschichte wohl wahr ist?
Sei die Tomate Müll, und wir kommen zum Anbeginn der Zeit und zum Anfang dieser Seite. Vielleicht ist ja auch diese Geschichte nichts als Müll, so wie die alte Tomate, aber wenn Müll all das ist, was alt geworden ist, so bleibt uns ja nur das Neue übrig.

Und was ist "das Neue"? Ganz einfach, es ist Müll, der gestorben ist und wiedergeboren wurde als etwas "Neues", in diesem Fall als das frische Fleisch des toten Schweins.

Meine Damen und Herren, Männer, Frauen, Herr Präsident, all Ihr Schauspiele in diesem Spektakel: Bevor wir noch mal alles "neu" bedenken, sollten wir uns um das "Alte" kümmern, unser Weltkulturerbe: unseren alltäglichen Müll!


Weitere Artikel zur Kolumne findet ihr im Archiv.







 
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