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Cuba: Che kehrt zurück
frei nach der Erzählung "Der Großinquisitor" von Fjodor M. Dostojewski *

Er erscheint. Er. Allerdings spricht Er kein Wort, Er erscheint nur und geht vorüber. Fast vier Jahrzehnte sind seit Seinem letzten Erscheinen vergangen. Doch die Menschheit wartet auf ihn noch mit demselben Glauben und mit derselben Ergriffenheit wie seit dem. Auf die Häuserwände der Stadt hat man sein Abbild gemalt, mit seinen sehnsüchtig in die Ferne schweifenden Augen. Die Tränen der Menschen steigen nach wie vor zu Ihm empor, man erwartet Ihn, man liebt Ihn, man hofft auf Ihn, wie vordem. Und so will Er denn in Seiner Barmherzigkeit wenigstens auf einen Augenblick zum Volk hinabsteigen, zu dem sich quälenden, dem leidenden, schmutzig-sündigen, doch kindlich Ihn liebenden Volk.

Nein, diesmal will Er nur auf einen Augenblick seine Kinder wiedersehen, und zwar gerade dort, wo die Scheiterhaufen der Ketzer prasseln. In unermesslichem Erbarmen kommt Er zu ihnen noch einmal in derselben menschlichen Gestalt, in der Er einst 39 Jahre lang unter den Menschen gewandelt, vor mehr als vier Jahrzehnten.

Er steigt hinab auf den großen "Revolutionsplatz" der karibischen Stadt, der mit Seinem berühmten Portrait geschmückt ist, dort, wo gerade erst tags zuvor im Beisein der Parteiobersten, des Hofes, aller Granden und Parteienfürsten, vor den Augen der zahlreichen Einwohnerschaft der karibischen Stadt vom greisen Máximo Líder fast ein volles Hundert Ketzer ad majorem gloriam revolutiones auf einmal verbrannt worden war.

Er ist ganz still und unbemerkt erschienen, aber alle – sonderbar ist das -, alle erkennen Ihn. Eine unwiderstehliche Macht zieht das Volk zu Ihm hin; es umringt Ihn, wächst mehr und mehr um Ihn an und folgt Ihm wohin er geht.

Gerade da, in diesem Augenblick, geht über den "Revolutionsplatz" der Máximo Líder. Er ist ein fast neunzigjähriger Greis, groß und aufrecht, mit vertrocknetem Gesicht, eingesunkenen Augen, in denen aber noch ein Glanz glimt wie ein Feuerfunke.

Oh, nicht in seiner prächtigen Militäruniform geht er vorüber, in den leuchtenden Farben, in denen er gestern vor dem Volke geprunkt hat, als er die Feinde der glorreichen Revolution den Flammen übergab, nein, in diesem Augenblick trägt er nur seine alte, grobe Mönchskutte, die er aus einer von seinen Revolutionären geplünderten Kirche hat mitgehen lassen. Ihm folgen in angemessenem Abstand seine finsteren Gehilfen und Diener und die "heilige" Wache. Er runzelt die grauen, buschigen Brauen, und sein Blick erglüht unheilverkündend. Er streckt den Finger aus und befiehlt der Wache, Ihn zu ergreifen.

Und jäh beugt sich die ganze Menge, wie ein Mann, bis zur Erde vor dem greisen Máximo Líder; der segnet schweigend das kniende Volk und geht stumm vorüber. Die Wache führt den Gefangenen in ein enges, dunkles, gewölbtes Verließ im alten Palast des Heiligen Tribunals und schließt ihn dort ein. Der Tag vergeht, es wird Nacht: dunkle, glühende, "hauchlose karibische Nacht". Da, im Dunkel der tiefen Nacht öffnet sich plötzlich die eiserne Tür des Verlieses, und mit der Leuchte in der Hand tritt er, der Greis, der Máximo Líder, langsam über die Schwelle. Er ist allein, hinter ihm schließt sich die Tür. Er steht und blickt Ihm lange ins Gesicht. Endlich tritt er leise näher, stellt die Leuchte auf den Tisch und spricht zu Ihm: "Bist Du es? Du?"

Und da er keine Antwort erhält, fügt er schnell hinzu: "Warum bist Du gekommen, uns zu stören? Denn Du bist uns stören gekommen! Das weißt Du selbst. Aber weißt Du auch, was morgen geschehen wird? Morgen werde ich Dich als vom CIA geschickten Doppelgänger auf dem Scheiterhaufen verbrennen, und dasselbe Volk, das heute noch Deine Füße geküsst hat, wird morgen auf einen einzigen Wink meiner Hand zu Deinem Scheiterhaufen hinstürzen, um eifrig die glühenden Kohlen zu schüren. Die Zeit der Revolutionen ist vorbei, wir regieren seit fast fünf Jahrzehnten, und jeder, der sich uns in den Weg stellt, wird beiseite geräumt."

Der Greis hält inne und schaut zu Boden. Dann hebt er seinen Blick und fragt: "Weißt Du eigentlich, dass wir Deine Leiche gefunden und in ein riesiges Mausoleum in Santa Clara überführt haben, unter der Anteilnahme Deines Volkes, der "neuen und freien" Menschen? Hast Du nicht damals so oft gesagt: "Ich will euch freimachen, will euch zu neuen Menschen formen?" Jetzt hast Du sie gesehen, diese "freien" Menschen!" So höre denn, dass gerade jetzt diese Menschen mehr denn je überzeugt sind, vollkommen frei zu sein, und dabei haben sie doch selber ihre Freiheit zu uns gebracht und sie gehorsam und unterwürfig uns zu Füßen gelegt. Der Mensch war als Rebell geschaffen; aber können denn Rebellen glücklich sein? Konntest Du glücklich sein? Die Menschen da draußen schreien: Sättigt uns! Knechtet uns lieber, aber macht uns satt. Wir verzichten auf das himmlische Brot der Erkenntnis, gebt uns lieber das Erdenbrot. Und selbst, wenn Dir um des himmlischen Brotes willen Tausende und Zehntausende folgen, was soll dann mit den Millionen und Milliarden von Wesen geschehen, die nicht die Kraft haben, das Erdenbrot um des Himmelsbrotes willen zu verschmähen?

Du hast sie aufgerufen, sich zu erheben. Und dann hast Du Dich verpisst. Auf zur nächsten Revolution. Afrika. Bolivien. Hauptsache den eigenen Egotrip durchziehen und zum großen toten Helden aufsteigen. Dein Problem ist, dass Du niemals etwas zu Ende führst. Überall fängst Du eine Revolution an, und wenn Du keine Lust mehr hast, ziehst Du einfach weiter zur nächsten. Und ich muss mich hier mit dem Alltagskram herumschlagen und habe als Dank auch noch die schlechte Presse am Bein. Während Du zu einem Gott wurdest, konnte ich mir überlegen, wie ich es anstelle, all diese schreienden Mäuler satt zu machen. Und wenn sie Coca-Cola trinken wollen, bauen sie ein Boot und fahren rüber nach Florida. Dein neuer Mensch, Dein geliebtes Volk.

Alle Helden Deiner Zeit sind tot, Nikita Chruschtschow, Karl Marx, Jim Morrison, Jimi Hendrix, sogar John Lennon. Du warst also in prima Gesellschaft da oben im Himmel. Ich verstehe wirklich nicht, was Du hier unten willst. Hier ziert Dein Gesicht die verschwitzten T-Shirts des kapitalistischen Nachwuchses, die damit gegen Papis dicken Mercedes und für die Freigabe von Hasch in ihrer teuren Privatschule protestieren. Und in 20 Jahren sind sie genauso wie ihre Väter, reiche fette Rechtsanwälte, Wissenschaftler und Frauenärzte.

Vielleicht hängen sie Dein Bild in das Wartezimmer ihrer Praxis, um die weiblichen Patienten mit ihrem rebellischen Habitus zu beeindrucken. Du bist zur kapitalistischsten Figur der Welt geworden. Und das nur, weil alle katholischen Mädchen auf tote Mittdreißiger mit Bart und langen Haaren stehen, die man sich in irgendeiner Form an die Wand hängen kann. Und deshalb, wenn es einen gegeben hat, der vor allen anderen unseren Scheiterhaufen verdient, so bist Du es. Morgen werde ich Dich verbrennen. Dixi!"

Nachdem der Máximo Líder verstummt ist, wartet er noch eine Weile, was der Gefangene ihm antworten werde. Dessen Schweigen bedrückt ihn. Er hat gesehen, wie der Gefangene ihn die ganze Zeit anhörte, und wie tief und still Er ihm in die Augen blickte, offenbar ohne etwas entgegnen zu wollen. Der Greis aber hätte gewünscht, dass Er ihm etwas sage, und wäre es selbst etwas Bitteres, Furchtbares. Er aber nähert sich schweigend dem Greis und küsst ihn still auf die blutleeren neunzigjährigen Lippen. Das ist Seine Antwort. Der Greis zuckt zusammen. Und dann erbebt etwas an den Mundwinkeln des greisen Máximo Líder; er geht zur Tür des gewölbten Verlieses, öffnet sie und sagt zurück gewandt: "Geh und komm nie wieder!" Und er lässt Ihn hinaus in die dunklen Gassen der Stadt.

Der Máximo Líder starrt Ihm noch lange hinterher. Vom Meer weht eine kühle Brise über die karibische Stadt hinweg. Noch immer spürt er jenen Kuss bis in sein Herz hinein brennen. Zuhause in seinem Palast hat er ein Glas, in dem die vor vier Jahrzehnten abgehackten Händen Che Guevaras in Formaldehyd eingelegt sind.

Wenn er traurig ist und es einsam um ihn wird, nimmt er sie aus dem Regal und betrachtet sie lange und nachdenklich.

Text + Fotos: Thomas Milz Druckversion  

* Die Erzählung "Der Großinquisitor" stammt aus dem Roman "Die Brüder Karamasoff", der zur Jahreswende 1880/1881 erschien. Bereits ein Jahr zuvor las Fjodor M. Dostojewski auf einer literarischen Matinee in St. Petersburg die Erzählung "Poem vom Großinquisitor" mit großem Erfolg vor. In ihr erscheint Jesus um das Jahr 1500 im kurz zuvor von den Mauren eroberten Sevilla, wo er von dem greisen Großinquisitor gefangen genommen und mit dem Tode bedroht wird.

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