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Grenzfall: Halb leeres Glas im Wunderland

Chiles Wirtschaftswachstum scheint auch im Jahr 2003 unverwüstlich. Während die Nachbarn von einer Krise in die nächste schlittern, gehört Lateinamerikas Modellstaat in vielen Bereichen schon zur "ersten Welt". Doch im Schatten der Anden ist die Stimmung mies.

Für Lateinamerika war 2002 katastrophal: Argentinien, Paraguay, Uruguay und Venezuela brachen wirtschaftlich und teilweise auch politisch zusammen.

Spekulanten zwangen Brasilien in die Knie. Erstmals seit 20 Jahren schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt der Region. "Als dies das letzte Mal geschah, führte Chile den Absturz mit einem Fall von mehr als 13 Prozent an. Diesmal wuchsen wir", sagte im Januar der linksliberale Finanzminister Nicolás Eyzaguirre bei einer Darstellung der Bilanz von 2002. Und zwar mit 2,1 Prozent.

Viele Chilenen finden das mager, während die wichtigsten Handelspartner in Nordamerika und Europa von solchen Raten zur Zeit nur träumen.


Neidvoll dürfen andere Wirtschaftspolitiker zugucken, wie Chiles Zentralbank und Finanzministerium in Krisenzeiten den Geldhahn lockern und in Boomzeiten zudrehen können, um die Volkswirtschaft zu stabilisieren, trotz der langen Liste außenwirtschaftlicher Hiobsbotschaften.

Wider IWF und "Chicago Boys"
Chile verdankt diese glückliche Lage unter anderem einer Wirtschafts- und Reformpolitik, die sich den Vorschriften des Weltwährungsfonds in vielen Punkten widersetzte, meint Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz. Chile habe pragmatische Entscheidungen getroffen, dem Kapitalmarkt nicht alle Fesseln gelockert und die Verschuldung unter 15 Prozent des Bruttosozialprodukts gehalten. Eine ganze Reihe der wirtschaftspolitischen Rezepte, die Anfang der 90er anderswo noch angewendet wurden, warf Chile bereits 1985 über Bord. Hernán Büchi, damals Finanzminister, zog die Lehren aus dem wirtschaftlichen Scherbenhaufen der Militärdiktatur Augusto Pinochets. Das Gemurkse der ultraliberalen "Chicago Boys" hatte dazu entscheidend beigetragen und Chile 1982 praktisch wieder in dieselbe Lage wie unter Salvador Allende gebracht, vor dem die Militärs das Land 1973 vermeintlich retten wollten.



Büchi gelang es zusammen mit rund 500 Mitarbeitern zum Ende der Diktatur, den Karren aus dem Dreck zu ziehen; mit politischer Unterstützung Pinochets, wie er betont. Die Weiterführung seiner Reformen und der Institutionenaufbau verhalfen Chile dann zu Beginn der Demokratie zu spektakulären Wachstumsraten von knapp unter 10 Prozent im Jahr. Die Armutsrate, die 1990 zum Ende der Diktatur noch 40 Prozent betrug, sank inzwischen auf 20 Prozent. Extreme Armut, in der 5 Prozent der Chilenen noch leben, soll laut dem Regierungsprogramm bis 2006 verschwinden.

Die jüngsten Freihandelsabkommen, mit der EU, Südkorea und den USA, werden Chile beim Inkrafttreten mit den letzten beiden Ländern einen fast zollfreien Exportmarkt mit der Hälfte des Welt-Bruttoinlandsproduktes bescheren. Und die Wirtschaftsdaten ziehen an.

Im ersten Quartal 2003 wuchs das Bruttosozialprodukt um 3,5 Prozent. Dennoch ist die Stimmung unter den Chilenen mies.

Präsident Ricardo Lagos äußerte vor ausländischen Journalisten: "Bei allen Schwierigkeiten würde ich das Glas zumindest halb voll sehen, während andere es halb leer sehen." Eine Mitarbeiterin der Rating-Agentur Standard & Poors bescheinigt den Chilenen "einen Hang zur Selbstgeißelung".

An der negativen Stimmungsmache beteiligen sich auch die meist regierungsfeindlichen Medien. Erfolge der breiten Mitte-Links-Regierung etwa werden in der Presse mit Steuer- und Privatisierungsdiskussionen zerredet. Und die Fernsehanstalten zeichnen ein realitätsfernes Bild von Gewaltverbrechen und tödlichen Verkehrsunfällen, die Santiago in die Nähe von Bogotá rücken.

Wunderlands Schattenseiten
Allerdings gibt es auch handfeste Gründe für die Missstimmung. Seit November erschütterten drei schwere Korruptionsskandale das Land: Der Fall Coimas führte zur Aufhebung der Immunität einer Handvoll Abgeordneter und kostete die Regierung fast die Kongressmehrheit. Hinzu kamen die MOP-GATE-Affäre in der Baubranche und der Skandal um die Finanzholding Inverlink, der an das US amerikanische Enron-Debakel erinnert.

Die Regierung zog jedoch schnell Konsequenzen. Köpfe rollten, Zentralbankpräsident und Leiter der Wertpapieraufsicht traten zurück. Unter teilweise konstruktiver Mitarbeit der rechtsextremen Opposition peitschte die Regierung innerhalb von sechs Monaten mehrere umfassende Reformpakete durch, zu denen ein kompletter Umbau des Beamtenwesens inklusive Besoldung gehört Sowie, endlich, eine Regelung der Wahlkampffinanzierung.

"Welches Land kann von sich sagen, in der Lage zu sein, so schnell eine fundamentale Reform durchzuziehen?", brüstet sich Lagos.

Dennoch gibt auch die Regierung zu, dass Chile einiges an Modernisierung verschlafen hat. Chiles UN Botschafter Heraldo Muñoz meint, der Staat sei noch in vielem ein Apparat des 19. Jahrhunderts, während sich die Wirtschaft stark entwickelt habe. Aber auch bei den Unternehmen hapert es. Makroökonomisch steht das Land im internationalen Vergleich zwar glänzend da, auf Betriebsebene aber sank zuletzt die Wettbewerbsfähigkeit.


Selbst Spitzenmanager verdienen vergleichsweise wenig, und das nicht nur im Verhältnis zu Industrieländern, sondern auch im Vergleich zu solchen Problemfällen wie Ecuador. "Es glänzt nicht so, wie es von außen aussieht", meint ein kolumbianischer Mitarbeiter der Weltbank.

Trotz eines aufgeblähten Dienstleistungsbereichs herrscht eine Massenarbeitslosigkeit von rund 8 Prozent, und 500.000 der sechs Millionen erwerbstätigen Chilenen verdienen gerade einmal den Mindestlohn von knapp 140 Euro pro Monat, und das bei einer 48-Stunden-Woche. Für die unter 18- und über 65-jährigen liegt das Minimum sogar bei nur 105 Euro. Im informellen Sektor bekommen viele noch weniger. Jugendliche packen in Supermärkten bis spät am Abend unbezahlt den Kunden die Waren in die Tüten, in der Hoffnung auf Trinkgeld.

Manche riskieren dabei sogar ihr Leben im immer noch primitiven öffentlichen Verkehrswesen. Fehlende Fahrpläne und rabiate Busfahrer, deren Gehälter oft direkt von der Zahl der Fahrgäste abhängen, haben zum Beruf der Sapos, Frösche, geführt. Für zugeworfene Münzen stehen Männer den ganzen Tag zwischen den rasenden, Smog spuckenden Blechkisten, um per Handzeichen den Fahrern die Abstände zur Konkurrenz auf der selben Strecke mitzuteilen.

Den Palomitas, Täubchen, geht es kaum besser. An frisch gebauten privaten Autobahnen versuchen sie auf der Standspur belegte Brötchen oder Kuchen an gedankenlose Autofahrer zu verkaufen. Manchmal bezahlen sie dafür mit dem Leben.

Mehr als Erkältung
Präsident Lagos und Finanzminister Eyzaguirre wissen aber, dass sie bei den vielschichtigen Problemen auf einem schmalen Grat wandern, um Chiles Ruf als Hort der Stabilität in Lateinamerika zu wahren. Die Schere zwischen Arm und Reich konnten die fast 13 Jahre Demokratie nicht verringern. "Ich kenne außerhalb der (gefährlichen) Steuerpolitik auch keine Möglichkeit, kurzfristig dieses Problem anzugehen", gesteht Lagos und erinnert daran, dass sich die Einkommensverhältnisse nicht nur in vielen Entwicklungsländern, sondern auch in Industrieländern in den letzten Jahren auseinander bewegt haben.

Abgesehen von den konkreten Problemen leiden die Chilenen aber auch an Komplexen - vielleicht auch an Hypochondrie, wenn man die überaus üppige Zahl an Apotheken betrachtet. "Wenn ich Chile für den Wert kaufen würde, den die Chilenen ihrem Land geben, und es im Ausland für den Wert verkaufen würde, den es dort bekommt, wäre ich reich," sagte zur Jahreswende der Ökonom Vittorio Corbo, inzwischen Präsident der Zentralbank.

Möglicherweise ist diese gespaltene Einschätzung eines der ungelösten Probleme der Gewaltherrschaft. Das Trauma, das Chile in den 17 Jahren des Pinochet-Regimes erlebte, konnten auch die wirtschaftlichen Erfolge Büchis und seiner Nachfolge nicht auslöschen.

Text: Stephan Küffner Andrade
Fotos: Stephan Küffner Andrade + Christine Hauguth
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Dieser Artikel ist erschienen in der Zeitschrift Matices (Heft 38/2003). Diese erhaltet ihr bei:
Projektgruppe Matices e.V., Melchiorstr. 3, 50670 Köln, Tel.: 0221-9727595

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