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Brasilien: 11 3/4 Stunden

Noch bevor das Rauschen an das Ohr gelangt, sieht man den Dampf durch die Baumkronen aufsteigen. Zwischen den Bäumen ist es schwül-heiß, Spinnen haben ihre Netze über unseren Köpfen aufgespannt und Mosquitos und asiatische Touristen umschwirren uns. Ab und zu könnte man einen ersten Blick auf das hinab schießende Wasser werfen. Doch für all das bleibt keine Zeit. Tunnelblick ist angesagt. Nichts wie durch, die Zeit sitzt uns im Nacken. Wir haben keine Sekunde zu verlieren.

Kurz vor sieben Uhr morgens fährt der Bus in die Busstation von Foz do Iguaçu, Brasiliens Grenzstadt am Dreiländereck zu Paraguay und Argentinien, ein. Der Kumpel zerrt das Gepäck aus dem Bus, ich spurte durch die Ausgangskontrolle zu den Ticketschaltern in der Eingangshalle. Campo Grande ist das morgige Ziel. Eigentlich Zeit genug, um uns die Wasserfälle von Iguaçu anzuschauen. Leider gibt es nur noch Tickets für heute Abend.

"Heute, 18.45 Uhr? Da bleiben ja gerade mal 11 3/4 Stunden! Schaffen wir das? Die argentinische und die brasilianische Seite an einem Tag?" Eigentlich geht das nicht, aber man muss ja nicht immer ehrlich sein. "Na klar, kein Problem. Ich weiß ja, wo es langgeht." Beim ersten Besuch vor einigen Jahren hatte ich mir noch drei Tage Zeit gegönnt, easy going mit langen Disconächten, der Fußball-WM im Fernsehen zu Grillteller und kühlem Bier, angenehmem Hotel mit Klimaanlage und ausgiebigem Shopping. Doch das ist ein paar Jahre her, und mit dem Alter kommt die Eile. Die letzte Nacht im Bus geschlafen, 16 Stunden rappelige Fahrt im Doppeldecker. Und auch die nächste Nacht wird sich darin nicht unterscheiden. Irgendwie ist der Zeitplan aus den Fugen geraten, und jetzt bleiben uns gerade einmal ein paar Stunden Zeit, um eines der größten Wunder dieser Welt zu besichtigen.

Y-guaçu, Großes Wasser, so nannten die Guarani-Indianer diesen Ort, wo sich das ockerfarbene Wasser des Rio Iguaçu auf einer Länge von 2,7 Kilometern über eine 60 Meter hohe Felskante in die Tiefe stürzt. 275 einzelne Fälle sollen es laut Reiseführer sein. Keine Zeit, nachzuzählen. "Wir machen es so wie damals auf der USA-Tour: alles fotografieren, zu Hause können wir dann sehen, wo wir überall gewesen sind."

Es ist schon Mittag, die Sonne brennt bei 35 Grad, und überall stehen Asiaten im Weg herum. Schon wieder ist der Zeitplan pulverisiert. Tunnelblick.

Unser Gepäck haben wir an der Busstation zurückgelassen, wo wir unsere Zähne geputzt und unseren Magen mit einem hastigen Frühstück startklar machen mussten. Dann den Bus rein in die Stadt genommen, direkt die Straßenecke gefunden, wo der Bus nach Argentinien vorbeikommt. Oder besser: vorbeikommen sollte. Doch der kommt erst mal nicht. Kleinere Verzweiflungsanfälle. Laut Reiseführer soll die Morgensonne an den Fällen besonders schön sein. Stattdessen beleuchtet sie für uns den Asphaltdschungel der 250.000-Seelenstadt Foz do Iguaçu. Stunden später die Erlösung: der Bus bringt uns hinaus aus der Stadt, hinüber nach Argentinien. Die brasilianischen Grenzposten winken uns durch. Anscheinend brauchen wir keinen Ausreisestempel. Na gut, weiter geht es bis Puerto Iguazú, von wo aus der Zubringerbus zu den Fällen startet.

Die Stege führen genau über die Kante der Fälle, an der das Wasser aus dem dichten Dschungel heraustritt, über die Bruchstelle läuft und dann eine unglaubliche Beschleunigung hinab in die tiefe Schlucht entwickelt. Der Blick von hier oben ist atemberaubend, Regenbögen durchziehen den Wasserdampf, hinter dem der blaue Himmel des späten Vormittags verschwunden ist. Im Laufschritt geht es über die Eisenstege, den Tagesrucksack mit dem Nötigsten auf dem Rücken, die Kamera unter dem verschwitzten T-Shirt versteckt, zuviel Wasser spritzt hier herum. Die Beine werden schwer, elendig lang war der Weg von der Busendstation am Besucherzentrum bis hier zu den Fällen.

Und jetzt hechten wir kreuz und quer über die kilometerlangen Wege, über Stege und Dschungelpfade, auf der Suche nach immer neuen phantastischen Ausblicken auf das fallende Wasser.

"O guys, where are you from?" Das erste, was man in Südamerika erlernt, ist Geduld. Wir sitzen in einer daher schleichenden Bimmelbahn, nachdem wir unendlich lange an einer kleinen Bahnstation am Ende der Stege gewartet haben. Beim letzten Besuch gab es von hier noch einen schnellen Bus, der die Besucher an das Ende der Abbruchkante brachte, den Garganta del Diablo, dort wo die Fälle am imposantesten sind. Doch irgendwer hielt es für eine gute Idee, etwas Schnelligkeit aus diesen rastlosen Zeiten herauszunehmen. "We come from Australia, and Brazil is wonderful." Zwei sonnenverbrannte Gesichter grinsen uns an. Wir möchten von der Bahn abspringen und vorauslaufen.

Wir befinden uns ganz alleine auf der Plattform am Rande des Garganta del Diablo. Die Bahn haben wir im Sprint verlassen, den langen Steg hinaus, der über den Rio Iguaçu führt, vorbei an den Scharen von Touristen, die uns auf dem Weg zur Bahn entgegen kommen. Nun haben unsere Kameras freies Schussfeld. Von Brasilien trennen uns nur 100 Meter, wir sehen die Menschen auf der anderen Seite. Doch noch liegen mindestens zwei Stunden Rückweg vor uns. "O, that`s lovely!" Als unsere australischen Freunde eintrudeln, packen wir schon unsere Sachen. Tunnelblick und durch.

Auch die brasilianische Seite der Fälle hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Konnte man früher einfach in Foz einen Bus nehmen, der bis an die Fälle heran fuhr, so heißt einen jetzt ein modernes Besucherzentrum willkommen. Hier wartet bereits ein Jurassic-Park-Bus, der erst einmal im Schritttempo Richtung Fälle gurkt. Zwischendurch hält er, damit man sich die Bäume am Wegesrand auch eingehend besehen kann. Ein Zeitfenster nach dem nächsten schließt sich vor unserem geistigen Auge.

Schon der Rückweg nach Brasilien war hart erkämpft. "Ohne Ausreisestempel in Ihrem Pass kann ich Sie nicht nach Brasilien einreisen lassen. Sie sind offiziell ja gar nicht ausgereist." Das zweite, was man in Südamerika lernt, ist, dass Probleme dazu da sind, aus dem Weg geräumt zu werden. So können wir dann auf brasilianischer Seite die schon tief stehende Sonne genießen, während sich das Tal der Fälle vor uns ausbreitet. Wir folgen einem Pfad hinunter ans Wasser, von wo aus wir auf die von argentinischer Seite hinunterdonnernden Wasserwände schauen.

Ein Metallsteg führt über das Wasser bis dicht unter den Garganta del Diablo. "Argentinien sorgt für die Show, und Brasilien verdient an den besten Zuschauerplätzen", so sagen die Argentinier spöttisch. Die Grenze zwischen beiden Ländern verläuft in der Mitte der Fälle, doch das Wasser stürzt von der argentinischen Seite, und so kann man sie von der brasilianischen aus am besten in ihrer opulenten Gesamtheit bestaunen. Wir zwängen uns in den Aufzug, der uns bis zur Oberkante des Garganta heranbringt. Langsam senkt sich die Sonne hinter die Bäume.

Um 18:30 Uhr sind wir zurück an der Busstation. Das Gepäck abgeholt, ein paar Snacks und Getränke am Kiosk gekauft und ab zum schon wartenden Bus nach Campo Grande. Wir lassen uns in die Sitze fallen, atmen tief durch, wissen noch gar nicht so genau, was heute alles passiert ist. Wir gucken uns an. "Ich hab Dir gesagt, dass es kein Problem ist. Beide Seiten an einem Tag. Ganz locker."

Das Dritte, was man in Südamerika lernt, ist, man muss halt Vertrauen haben.

Text + Fotos: Thomas Milz druckversion  

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