logo caiman
caiman.de archiv
 
brasilien

Von Kulturwüsten und Ordnungsmustern

Sehen wir nur das, was wir wirklich sehen wollen oder aber anzutreffen erwarten? Lassen wir nur die Erfahrungen zu, die in unser immer zu kleines Weltbild hineinpassen und es somit bestätigen?

Tagelang lief ich von einem Buchantiquariat zum nächsten, verzweifelt auf der Suche nach einer portugiesischen Ausgabe eines Buches, das ich zu meinen liebsten zähle. Mich quälte die Frage, ob es überhaupt in Brasilien publiziert worden sei? Oder würde ich, um das einer Freundin gemachte Versprechen einzulösen, ihr ein Exemplar meines Lieblingsbuches zu schenken, die Übersetzung selber bewerkstelligen müssen? Wie kann es nur sein, dass dieses Buch, ein internationaler Bestseller, hier nicht zu finden ist? Kann ich mich jemals daran gewöhnen, in dieser Kulturwüste zu leben? Trotz allen Globalisierungsgeschwätzes, ein kleiner feiner Unterschied bleibt immer, denke ich so vor mich hin.

Vielleicht liegt es ja an den seltsamen Ordnungssystemen in diesem Land, das sich "Ordnung und Fortschritt" auf die Fahne schreibt.

Wie lange habe ich vergeblich nach der neuen Elvis Costello CD gesucht, in der festen Überzeugung, natürlich nicht fündig zu werden. Oder kann sich jemand einen Brasilianer vorstellen, der „I don`t want to go to Chelsea“ zum Frühstück hört? Doch selbstverständlich darf man eine Elvis Costello CD nicht, wie im Rest dieser Welt, unter C wie Costello suchen. In einem Land, wo man jeden mit seinem Vornamen anschwätzt, muss man natürlich unter E suchen, ich Idiot. Eigentlich hätte ich früher darauf kommen sollen, spätestens jedoch nachdem mir der dritte Verkäufer innerhalb eines Tages auf die Frage nach der neuesten Elvis Costello CD die älteste Elvis Presley Scheibe anzudrehen versuchte.

Das ist übrigens, auch wenn ich jetzt ein bisschen von meinem ursprünglichen Thema abdrifte, eine witzige Angewohnheit der Verkäufer hierzulande. Man fragt nach einem speziellen Buch oder einer ganz besonderen CD, und der Verkäufer muss passen: "Haben wir nicht." Aber dafür hat er ganz viele andere Dinge: "Möchten Sie diese nicht anstelle dessen kaufen?" Und er fängt an, mir alle in Reichweite herum liegenden Dinge unter die Nase zu halten.

Dem Europäer, der einen Großteil seines Lebens damit verbracht hat, in der Schule, dem deutschen Hochkulturöffentlichrechtlichenfernsehen und selbstverständlich der Universität "das Leben" zu studieren und deshalb darauf getrimmt ist, die Dinge dieser Welt konform tiefschürfender Theorien fein säuberlich zu zerschneiden und in wissenschaftlich begründete Kategorien zu unterteilen, muss es bei diesem Kultur- und Stilmix jenseits jeglicher Schranken wissenschaftlicher Rechtfertigung und "guten Geschmax" übel werden. (Man stelle sich nur einmal die grob verstümmelte Leiche eines englischen Plattenverkäufers vor, der einem Oasis-Fan folgende Antwort gab: "Die neue Oasis ist noch nicht da, aber hast Du eigentlich schon einmal was von Blur gehört?")

Warum ich ab jetzt übrigens verstärkt den Buchstaben X an die Stelle von "cks" treten lassen werde? Die Antwort ist, dass ich mich mittlerweile an diesen Buchstaben gewöhnt habe, der für einen Deutschen wie ein Fremdkörper wirkt. Gesellschaften, die Namen und Wörter mit X schreiben, haben immer irgendwie eine Assoziationskette von Xinesen bis Größenangaben nordamerikanischer Baseballshirts in mir hervorgerufen. Aber spätestens nachdem ich hier meinen fünften oder sechsten Cheeseburger bestellt hatte, trat ein gewisser Duldungsfrieden mit dem X in Kraft. Wieso, in Cheeseburger kommt doch gar kein X vor? Good point, aber die Brasilianer sprechen das X wie "Schiss" aus, und damit sind wir auch schon beim englischen "cheese" und beim brasilianischen X-Burger! Irgendwie jedenfalls.

Zurück zur Elvis Costello CD, die ich dann schließlich doch noch aufspürte, nachdem ich ein wahres Wechselbad der Gefühle durchwatet hatte. Zuerst entdeckte ich hocherfreut ein Plastiksortierschild oder wie auch immer das heißen mag mit der Aufschrift ELVIS COSTELLO (direkt vor dem Schild mit ELVIS PRESLEY), um dann erschrocken festzustellen, dass jenem Plastiksortierschild oder gar keine entsprechende CD zugeordnet war. Das Fach leer war. Durch Zufall entdeckte ich die CD dann doch noch, einsortiert unter ELVIS PRESLEY!

"Welch eine Kulturwüste!" dachte ich mir, kein Wunder, dass ich jenes Buch nicht finden kann. Wer Elvis Costello mit Elvis Presley zusammen in eine Tüte haut, liest bestimmt nicht die im Frankreich des Mittelalters angesiedelte Geschichte eines süddeutschen Autors! Denn eigentlich wollte ich ja nur kurz über die verzweifelte Suche nach diesem einen meiner Lieblingsbücher berichten, das ich dann schließlich und endlich doch noch in der hintersten Ecke eines Antiquariats aufstöberte. Ein bisschen teuer, aber glücklich war ich trotzdem.

"In dieser Wüste ist jeder Schluck Wasser willkommen", flüsterte mir mein Weltbild ins Ohr, kurz bevor es dann, Tage später, die gemeinsten Tiefschläge erleiden musste.

Denn seitdem läuft mir dieses Buch in jedem Antiquariat über den Weg, egal, ob ich gerade bei "Geschichte", "Esoterik" oder "Anthropologie" suche. Sogar der Straßenhändler bei uns um die Ecke führt es, obwohl sein Sortiment gerademal aus 20 oder 30 Büchern besteht, ausgebreitet auf einer Decke. Letzte Woche fand ich es in meinem Lieblingsantiquariat direkt neben der Kasse, und gestern lächelten mich hämisch sechs (!) Exemplare aus einer Regalreihe auf direkter Augenhöhe an. Und als ob all dies noch nicht genügte, führte mich mein Schicksal heute morgen in eine kleine Gebrauchtbuchhandlung. „Schlecht sortiert!“, war mein erster Gedanke. Mein zweiter ließ mich angsterfüllt nach jenem Lieblingsbuch Ausschau halten. Nur ein Exemplar, stellte ich erleichtert fest. Dann aber entdeckte ich daneben 25 (!) Exemplare des Nachfolgewerkes, das ich schon immer lesen wollte.

„Richtig klasse, dieses Buch. Haben Sie es schon gelesen?“, musste mich natürlich die Verkäuferin standesgemäß fragen. „Na klar, sofort, nachdem es rausgekommen ist“, antwortete der Judas in mir, ohne dass ich ihn hätte aufhalten können. Peinlich berührt verließ ich den Ort meiner Schmach, schlich mich zum nächsten Regal weiter und tat so, als ob ich mich für die Großmeister der brasilianischen Literatur interessieren würde. Zwischen einigen Büchern von Machado de Assis stand ganz unschuldig das 26ste Exemplar jenes verfluchten Nachfolgewerkes. Ich überlegte kurz, nahm es aus dem Regal, um es dann, mit dem größtmöglichen Triumphlächeln auf den Lippen, neben die anderen 25 zu stellen. Ordnung muss sein!

Text + Foto: Thomas Milz

Weitere Artikel zu Brasilien findet ihr im Archiv.







 
Archiv
nach




© caiman.de - impressum - disclaimer - datenschutz pa´rriba