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Die religiöse Dimension der Statistik

Und über uns wacht der Zahlengott, er legt seine starke Hand auf unser kleines Haupt und flüstert: "Verzweifle nicht, mein Sohn, denn es gibt für alles eine Statistik!"

Wenn die Sonne aufgeht über dem Betondschungel São Paulos, ein neuer Tag über die im ewigen Stau stehenden Bewohner hereinbricht, die Klimaanlage des importierten Autos leise summt und die Raumtemperatur auf nordeuropäischen Winter absinkt, bringt das Radio die aktuellen Umfrageergebnisse bezüglich potentieller Präsidentschaftskandidaten; abwechselnd von den Meinungsforschungsinstituten Datafolha, Vox Populi, Ibope und CNT/Sensus. Gewürzt wird das Ganze mit der aktuellen Handelsbilanz und den überraschend positiven Daten zur Kindersterblichkeit. Dazu, sozusagen als Nachschlag auf die morgendliche Zahlensuppe, die Verbrechensstatistik der vergangenen Nacht, inklusive einer knappen aber prägnanten Schilderung der Tathergänge.

Für das Jahr 2001 summierte sich das ganze übrigens auf 17.370 Morde, 562 Raubüberfälle mit Todesfolge, 307 Entführungen, 321.369 Raubüberfälle und 552.810 Diebstähle. Von 1990 bis 2000 hat die Staatspolizei von São Paulo insgesamt 6.672 Personen erschossen, 51% davon in den Rücken, 23% mit 5 oder mehr Kugeln.

Und ein jeder ist beruhigt, denn solange es noch Leute gibt, die die Zeit haben, all diese Daten zu sammeln, in die passende Schublade zu sortieren, das ganze in ordentliche Zahlenreihen aufzustellen und daraus eine klar verständliche Statistik zu basteln, solange herrscht noch Ordnung. Man kann in dieser Welt alles verlieren, nur den Überblick sollte man immer behalten.

In den Schlagzeilen von heute erklärt eine gewisse FIPE, dass die Preise in São Paulo um 0,03% gefallen sind.


(Folha de São Paulo, 12.04.2002, Seite C1)

Zudem ist der Dollar um 2,15% gestiegen, dem höchsten Stand seit dem 29. November. Die Preise für Benzin fielen um 1,08%, während der Diesel um 4,35% gestiegen ist. Die Handelsbilanz hat in der letzten Woche einen Überschuss von 210 Mio. Dollar erreicht, und die Regierung hat im April 19,8 Milliarden Reais an Steuern eingenommen.

Verwundert fragt sich da doch die typische brasilianische Hausfrau, übrigens eine der - laut dem letzten Zensus des Jahres 2000 - 86 223155 Frauen in Brasilien, wieso sie heute beim Einkaufen nur Sachen erwischt hat, die teurer geworden sind. Dollars hätte sie auch ganz gerne, egal, zu welchem der drei abgedruckten Wechselkurse: "comercial" zu 2,519, "turismo" zu 2,440 oder dem "paralelo" zu 2,547. Die Spritpreise interessieren nicht wirklich, wenn man kein Auto hat und mit dem überfüllten Autobus jeden Tag zwei Stunden zur Arbeit unterwegs ist. Und eine wirklich gefestigte Meinung zur Rolle des Haushaltüberschusses und der staatlichen Steuereinnahmen des Monats April im Zusammenspiel des äußerst sensiblen Gefüges des volkswirtschaftlichen Hin-und-hers hat sie sich auch noch nicht gebildet. Der Hausfrau fehlt auch irgendwie die Zeit, um nachzuprüfen, ob sich der Haushaltsüberschuss mit steigenden Exportraten oder einer Reduzierung der Importe begründen lässt, was für ihre anschließende Analyse natürlich hilfreich wäre. Dass die Zahl der Vergewaltigungen in São Paulo von 3.983 in 2000 auf 3.870 in 2001 zurückgegangen ist, dürfte ihr dagegen Zuversicht geben.

Dabei paart sich der Statistikwahn gerne mit der Liebe zu Abkürzungen. Als Resultat dieser amourösen Beziehung entstehen Schlagzeilen wie "Der IPCA im April liegt bei 0,80%", wobei IPCA natürlich einer der zahlreichen Preisindizes darstellt, wie hier schon fast jedes Kind weiß, denn 97,3% der Kinder gehen ja - laut offizieller Regierungsstatistik - in die Schule!


(Folha de São Paulo, 15.05.2002, Seite B5)

So kann man die monatlichen Preisschwankungen anhand des IPC der Fipe, IGP-DI und IGP-M der FGV, dem INPC, IPCA ESP und dem ganz banalen IPCA des IBGE, dem ICV von Dieese, dem ICV von Classe Média-Ordem, dem INCC von IGP-DI/FGV, dem CUB - Sinduscon, desweiteren dem IPA, hier wahlweise in der Variation IGP-DI/FGV oder IGP-M/FGV zu haben, ablesen. Oder man schaut einfach auf den IPC von IGO-DI/FGV. Und wenn man gerade dabei ist, kann man gleich mal einen Blick auf die Zinsausbeute wagen, die man erzielen könnte, hätte man denn ein Konto. Da gibt es so schöne Zinsindikatoren wie den TR, Ufir, BTN+TR, Ufesp, UFM, TJLP oder den immer wieder gerne gesehenen UPC. Suchen Sie sich doch einfach einen aus!

Das wirtschaftliche Leben Brasiliens ist fest in den Händen solcher Indikatorenmonster. Man trifft auf das PIB, SINAPI und den PME, den nur ungeschulte Ausländer mit dem PMC verwechseln. Der "PEA por sexo" hat hier nichts anrüchiges, sondern indiziert die Zahl der "Pessoas Economicamente Ativas", der ökonomisch aktiven Personen, nach dem Geschlecht.
Die Arbeitslosenzahl gibt man gerne bis zu der dritten Stelle nach dem Komma an, gleichzeitig zählt man aber nur die Personen, die in den letzten 30 Tagen offiziell nach Arbeit gesucht haben und natürlich irgendwann in ihrem Leben schon einmal eine offizielle Arbeit gehabt haben. Auf diesem Hintergrund wird einem dann die traumhafte Quote von 6,2% für 2001 ein bisschen verständlicher.

Welche Macht die Zahlen haben können, zeigt die Schlagzeile "Untersuchung, die noch gar nicht existiert, wirft den Markt zu Boden" über den angeblichen Zusammenhang zwischen steigendem Dollar und den Umfragewerten für den sozialistischen Präsidentschaftskandidaten. So jemanden darf man natürlich nicht wählen, will man den vollständigen Niedergang des Landes verhindern. Dagegen sendet die Regierung ein klares Signal aus, dass sie die Zukunft des Landes fest in Händen hält: sie ließ einen Sprecher einer gewissen COPOM erklären, dass Untersuchungen im Rahmen des Projektes LDO ergeben hätten, dass die Zinsen für das Jahr 2003 wohl bei 12,84% liegen werden. Natürlich nur, wenn keine unvorhersehbaren neuen Ereignisse eintreffen sollten. Schade um ihr Projekt LDO, dass diese Wissenschaftler noch nicht bemerkt haben, dass das Leben aus dem ständigen Eintreffen vollkommen unerwarteter Ereignisse besteht.

Auch vor der Welt des Sports wird nicht Halt gemacht. Die Fußballseiten sind voll gestopft mit Statistiken über die - im Vergleich zur ungewissen Zukunft - leicht zu zählenden Bewegungen des Balles und der Spieler. Ein deutliches Signal dafür, dass hier dem aufmerksamen Blick des durchaus kritischen und Realität bezogenem Journalismus nichts entgeht.



(Folha de São Paulo, 14.05.2002, Seite B1)

Wir erhalten die interessante Information, dass von den insgesamt 467 Toren der Rio-São Paulo-Liga in der Spielzeit 2001-2002, übrigens ein Schnitt von 3,72 Toren pro Spiel, 133 in die untere linke Ecke, 56 links oben, 59 unten in die Mitte, 17 oben in die Mitte, 138 in die untere rechte Ecke und 64 oben rechts ins Netz gingen. Dabei wurden 98 Tore vom 5 Meter-Raum aus, 283 aus dem 16 Meter-Raum, 86 von außerhalb, dabei jeweils 1 von der linken und der rechten Seite aus erzielt. Mit 2,79 Toren pro Partie war die Mannschaft von São Paulo die torhungrigste. Trotzdem wurden sie im Finale von den Corinthians besiegt, die mit einem Schnitt von 1,0 Gegentoren pro Partie die beste Abwehr hatten. Zudem hatten sie in Rogério den besten Passspieler des Turniers in ihren Reihen, übrigens mit einem Effizienzquotienten von 92,3. Das Duell zwischen São Paulo und Corinthians steht, nebenbei bemerkt, nach 262 Partien mittlerweile bei 102 Siegen für die Corinthians, 81 Unentschieden, 79 Siegen für São Paulo, 385 Toren für Corinthians und 350 für São Paulo.

Wussten Sie eigentlich oder wollten Sie nicht schon immer mal wissen, dass die Mannschaft von Ponte Preta ganz locker 29,8 Pässe pro Spiel schlägt? Finden Sie, auf Grund Ihrer langjährigen Erfahrung, dass dies viel ist, mittelmäßig oder sehr wenig? Und ab wie viel Meter verwandelt sich ein Zuspiel denn in einen Pass? Und ist es hierbei wichtig, ob der Pass beim Mitspieler ankommt?

Auch sehr beliebt sind Publikumsfragen wie "Wer ist der größte Rivale Brasiliens bei der WM 2002?" oder "Welcher Spieler sollte unbedingt noch als zusätzlicher Stürmer ins Team?", die jeder langweiligen Live Übertragung das gewisse Etwas geben. Schön zu wissen, wen die Mehrheit der 174.260.826* Brasilianer gerne Romario in ihrem Team haben wollen.
(*Zahl geschätzt für Dienstag, den 14.05.2002, 17.19 Uhr. Zur aktuellen Zahl: www.ibge.gov.br. Auf der gleichen Seite findet sich auch eine zweite, um über 2 Millionen niedrigere Zahl. Suchen Sie sich doch einfach die aus, die ihnen sympathischer erscheint!)

Wer glaubt, sich dem ununterbrochenem Statistik-Bombardement dadurch entziehen zu können, dass er seinen Wohnsitz in den tiefsten Urwald verlegt oder sich die Augen und Ohren mit dem dort aus den Bäumen fließenden Kautschuk verschließt, hat sich getäuscht.

Man muss nur den "Atlas do Mercado Brasileiro 2002" der "Gazeta Mercantil" zur Hand nehmen, um zu erfahren, dass die 39.299 Einwohner der Stadt Tabatinga im Jahr 2001 genau 4000 Reais für Joghurt ausgegeben haben, was ungefähr 0,004% des gesamten Joghurtverbrauchs Brasiliens ausmachte.



(Folha de São Paulo, 15.05.2002, Seite B5)

Vergleicht man diese Zahlen mit denen des Mayonnaise Verbrauchs, so fällt dem aufmerksamen Beobachter sofort ins Auge, dass dieser fast fünfmal so hoch liegt.

Ist dies eine landesweite Tendenz, oder hat es vielleicht irgendwie mit der äußerst isolierten Lage des schwer zugänglichen Städtchens mitten im Amazonasurwald zu tun? Immerhin macht der Bundesstaat Amazonas mit seinen 1.570.946,8 Quadratkilometer stolze 18,47% der Gesamtfläche Brasiliens aus, wobei 74,21% der 2.840.889 Einwohner in den Städten leben, dabei von 369.000 Festnetzanschlüssen und 203.000 Mobiltelefonen aus telefonieren. Das alles kann man jetzt mit der äußerst dünnen Bevölkerungsdichte von 1,79 Einwohnern pro Quadratkilometer multiplizieren. Braucht man in dieser Einsamkeit mehr Telefone, isst man tendenziell mehr Mayonnaise als Joghurt, wenn man sich seinen Quadratkilometer Urwald mit weniger als einer vollständigen, genau gesagt einer 0,79-fachen, Person teilen muss?

Wollten Sie nicht schon immer wissen, dass die Einwohner São Paulos 7,970% der Gesamtausgaben Brasiliens an Klopapier bestreiten? Dass die Kindersterblichkeit zum Erstaunen aller Experten schon im Jahre 2002 und nicht erst, wie vorausberechnet, im Jahre 2004 auf unter 30 pro 1000 Neugeborener, genau genommen auf 29,6, gesunken ist. Dass Silvio Santos, Brasiliens beliebtester Fernsehmoderator, wenn er sich als Präsidentschaftskandidat aufstellen lassen würde, im ersten Wahlgang direkt 17% der Stimmen auf sich vereinen könnte? Und wie muss man diese Zahl vor dem Hintergrund der Studie auffassen, die ergeben hat, dass 54% der Wähler sich noch gar nicht entschieden haben, wen sie wählen wollen? Und wie steht die offizielle Einwohnerzahl von 10.499.133 für São Paulo zu den immer wieder zu hörenden Gerüchten, dass eigentlich 20 Millionen Menschen hier leben? Und war es nicht schon immer Ihr Traum, jemanden kennen zu lernen, der sein Leben damit zubringt, Statistiken darüber zu erstellen, wie viel Geld die Bevölkerung Macapas jedes Jahr für Spaghetti ausgibt? Und warum redet der brasilianische Talkmaster Jô Soares durchschnittlich 44,4%, während sein amerikanischer Kollege David Letterman seinen Gäste volle 71,8% der Zeit überlässt? Und warum ließ Jô am Dienstag seine Gäste nur 43,1% der Zeit reden, am Mittwoch jedoch 67,8%, wobei der Journalist Hélio Bloch mit 81,8% der Zeit oder Hand gestoppten 16 Minuten und 45 Sekunden einen Allzeit Rekord aufstellte?

Und warum beschleicht manchen Europäer immer ausgerechnet dann, wenn er eine Statistik vorgesetzt bekommt, das mulmige Gefühl, dass man ihn übers Ohr hauen will?

Vielleicht deshalb, weil der britische Premierminister Benjamin Disraeli einmal gesagt hat, dass die Statistik die dritte Form der Lüge sei? Und sein Amtskollege Winston Churchill nur an die Statistiken glaubte, die er selber hatte fälschen lassen? Und warum so viele unbeantwortete Fragen, wo es doch immer eine Antwort gibt, die einem an jeder Ecke ins Gehirn geblasen wird?

Und über uns wacht der Zahlengott, er legt seine starke Hand auf unser kleines Haupt und flüstert: "Verzweifle nicht, mein Sohn, denn auch DU zählst und hast einen Platz in einer unserer Statistiken sicher!"

Text + Fotos: Thomas Milz

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