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Piraterie: Brasilianische Stadtpiraten

Jahrhunderte lang verunsicherten sie die sieben Weltmeere oder brandschatzten die Hafenstädte der großen weiten Welt. Doch jetzt haben sie ihren Tätigkeitsbereich offensichtlich verlegt. Zwar wurde mein auf einem Containerschiff zur See fahrender Vetter noch vor einigen Jahren in brasilianischen Gewässern von Piraten überfallen, doch die meisten Vertreter dieser Gattung haben mittlerweile die hohe See verlassen und tummeln sich nun in den Stadtzentren der großen brasilianischen Metropolen. Oder sind an den Grenzübergängen nach Paraguay oder Bolivien tätig, über die sie neben Unmengen von Ramsch und Plunder auch haufenweise markenkopierte Sonnenbrillen, Turnschuhe und CDs mit der neuesten Software und den aktuellsten Musikveröffentlichungen transportieren. Und was tut der Sheriff dagegen?

Langsam fährt die Polizeistreife mit der Beschriftung "Piraterie" durch die mit Straßenhändlern vollgestopften Gassen der Innenstadt von São Paulo.

Vier hinter Sonnenbrillen versteckte Augen richten sich auf die vor bunter Plastikware überquellenden Verkaufstische oder die als fahrende Läden am Straßenrand geparkten Kleinbusse. Doch niemanden scheint es zu stören. "Die nehmen höchstens mal jemanden mit kopierten CDs oder DVDs mit. Ich mit meinen Sonnenbrillen habe da nix zu fürchten."


Ruhig säubert der Pirat mit einem Staubwedel die verspiegelten Sonnenbrillen. Symbolisch seien die Polizeiaktionen, sagt er. Und er scheint Recht zu haben, denn so weit das Auge reicht, überall bekommt man die nachgemachten, gefälschten, kopierten Waren, die ihren "echten" Vorbildern zum Verwechseln ähnlich sehen. Zwar hat die Polizei mehrmals versuchte, die illegalen Händler zu vertreiben, doch jedes Mal mit recht wenig Erfolg. Die Händler wehren sich mit Pflastersteinen oder verschwinden einfach für einen Tag, um am nächsten mit ihrem erstaunlichen Sortiment wieder präsent zu sein.

"Ne, die CD hab ich nicht, aber bis morgen besorg ich sie dir. Sofern es sie in den Plattenladen gibt, wo mein Kollege arbeitet." Am nächsten Tag hat er sie dann, versehen mit einer grottenschlechten Kopie des CD-Covers. Aber was will man für 5 Reais erwarten? Immerhin gibt der Händler noch seine Visitenkarte dazu, damit man die CD umtauschen könne, wenn sie nicht spielt. Im Plattenladen nebenan kostet die Original-CD 30 Reais.

Modeartikel, Hifi-Geräte, die neueste Microsoft-Rechtschreibsoftware, Webdesignprogramme, die neue Nirvana-Best-of - was immer man braucht, für wenig Geld findet man es in den Stadtzentren von São Paulo, Rio oder Porto Alegre, an U-Bahnstationen, Fußgängerbrücken und auf Marktplätzen. Täuschend echt aussehende Niketurnschuhe für 20 Reais (5 Euro), Gucci-Sonnenbrillen für 12 Reais (3 Euro) und "original" Diesel-Jeans für 25 Reais (6 Euro). Neben all diesen schicken Modeartikeln wird der herumstreifende potentielle Käufer mit einer Flut billigstem Ramsch konfrontiert, angefangen bei Taschenradios samt Ohrstöpseln oder Gameboys für 5 Reais, bis hin zu Jogginghosen für 8 und T-Shirts zu 5 Reais. Ob Made in China, Taiwan, Paraguay oder Bolivien, wer weiß das schon. Egal!

Ab und zu sieht man in den Nachrichten riesige Dampfwalzen über Berge von CDs und Turnschuhe rollen, die man zuvor in Containern versteckt im Hafen von Santos aufgespürt hat. Viele ausländische Investoren meiden den brasilianischen Markt, da die Einhaltung der gesetzlichen Copyrightbestimmungen nicht gesichert werden kann.

Wie hoch der volkswirtschaftliche Schaden durch die Piraterie ist, wagt niemand zu schätzen. Für die Musikindustrie wird davon ausgegangen, dass auf jede Original-CD eine kopierte kommt. Und auch der Buchmarkt ist betroffen. So hängen in öffentlichen oder Universitäts-Bibliotheken Hinweisschilder neben den Photokopierern, dass nach brasilianischem Recht nur 10% des Inhalts eines Buches kopiert werden dürfen. Ob das jedoch was bringt? Notfalls geht der Student halt zehnmal mit dem Buch zum Kopierer.

Jetzt hilft wohl nur noch die psychologische Kriegsführung gegen die überall lauernden Piraten. Vor einem Jahr wurden Gerüchte gestreut, dass selbstgebrannte CDs die Hifi-Anlage zerstören würden. Mit wenig Erfolg. Und im brasilianischen Fernsehen läuft gerade ein Spot gegen Piraterie. Vor einem mit gefälschten CDs und DVDs vollgestopftem Tisch gibt ein ernst dreinschauender Polizeikommissar ein Interview. "Die Jungs waren uns schon lange bekannt. Erst Mord, dann Drogenhandel, Entführungen und jetzt Markenpiraterie. Das ist alles Mehl aus dem selben Sack." Im Hintergrund sieht man die üblen Burschen an der Wand stehen, mit gesenkten Köpfen und Handschellen auf dem Rücken. Doch ob das wirklich abschreckt?

Waren ja offensichtlich nicht gerade die hellsten Köpfe! Wenn man schon weiß, dass einen die Polizei wegen Mord, Drogenhandel und Entführungen auf den Fersen ist, stellt man sich doch nicht mit selbstgebrannten CDs auf die Straße.

Da fragt man sich, ob das Entführungsgewerbe gerade in einer Konjunkturflaute steckt oder die Gewinnspannen bei nachgemachten CDs oder markenkopierten Turnschuhen größer sind als bei Kokain? Oder wäre es nicht eine gute Idee, allen Drogendealern und Auftragsmördern einen kleinen Verkaufsstand mit Krimskrams zu schenken, damit sie ihre kriminelle Kariere aufgeben und zu harmlosen Multimedia-Piraten mutierten?


Nun, ob dieser Art Anti-Piratenkampagne wirklich der durchschlagende Erfolg beschieden sein wird, wird die Zukunft zeigen. Ich selber konnte mich jedoch erst kürzlich und ganz persönlich von der Gefährlichkeit dieser Produkte überzeugen. Der recht einfache Gameboy, den ich für wenig Geld auf den Straßen São Paulos gekauft hatte, faszinierte mich während eines Zwischenstopps auf einem Flughafen so sehr, dass ich vor lauter Jagd nach Tetris-Rekorden meinen Flieger verpasste.

Wehret den Anfängen!

Text +Fotos: Thomas Milz
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