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Nichts über die Fussball-WM

"Bloß keinen Artikel über die Fußball-WM!", haben alle gefleht, obwohl natürlich die Seleção der Pentacampeões, der Fünffachweltmeister, derzeit DER absolute Held Brasiliens ist. "Und bloß nix über Ronaldo! Dieses Thema und der Typ dazu sind dermassen abgegriffen." Schade eigentlich, hätte einen guten Artikel gegeben. Ich hätte richtig gute Sachen schreiben können: die Geschichte eines zweieinhalb Jahre lang verletzten Ex-Superstars, der vor vier Jahren das Finale gegen Frankreich ordentlich vergeigte und an den fast niemand mehr glaubte, bis er plötzlich auferstand und in Gott ähnliche Höhen aufstieg. Ich hätte einige witzige Sachen über das Dreieck auf seinem Kopf schreiben können, und die ganz neuen Möglichkeiten, dies als Toupet zu vermarkten, aber... seis drum.

"Schreib doch mal was anständiges, was kluges, über Kultur oder so..." Auch die anderen Spieler der Seleção hätte ich mal so richtig abziehen können; hätte die Theorie aufgestellt, dass Roque Jr. schwul ist, weil er sich die hübschen gegnerischen Stürmer von hinten greift und sie dann aufs gemeinsame Grün zwingt.

Oder hätte die Frage beantworten können, warum Ronaldinho selbst bei seinem Platzverweis gegen England noch gelächelt hat (in Wirklichkeit hat er gar nicht gelächelt, sondern seine Zähne passen einfach nicht alle gleichzeitig in seinen Mund). Ich hätte mir eine schöne Übersetzung für das kleine Wortspiel einfallen lassen, welches ich immer mal wieder - zum Ärger meiner brasilianischen Mitfußballgucker - den über den Bildschirm flimmernden "Ballzauberern vom Zuckerhut"(wie das deutsche Kompetenzblatt "Der Spiegel" sie so gerne nennt) entgegen schrie: "Ca..fúdeu a bola para Ronaldo...".

Sicherlich hätten sich auch viele Fußballverrückte dafür interessiert, dass hier in Brasilien eine Mehrheit der Zuschauer die Meinung vertrat, dass Ronaldinhos Freistoßtor gegen Seaman reiner Zufall war. Glaube ich übrigens auch, selbst wenn Ronaldinho das Gegenteil behauptet. Denn die Brasilianer sind Weltmeister darin, etwas, was eigentlich schiefgegangen ist (wie diese Flanke, die eben nicht schief war, sondern geradewegs ins Tor flog), als gewolltes Meisterstück ihrer Genialität darzustellen. "Cara de pau - Holzgesicht!"

In dem Zusammenhang hätte ich so gerne Rivaldo fertig gemacht, der ein Schüsschen ans Bein bekommt und dann so tut, als ob der Ball ihn tödlich am Kopf getroffen hätte.

Schade, dass er das nur gespielt hat. Und Luizão, der sich nach einem angeblichen Foul weit vor dem Strafraum noch bis an die 16er Linie schleppt, um sich dort fallen zu lassen. Die armen Türken! Und die armen Belgier, denen man das 1:0 gegen Brasilien einfach so aberkannte.

Und irgendwie wäre mir sicherlich noch ein Trick eingefallen, um den Bogen zu meiner Lieblinggeschichte, der WM 98 in Frankreich, die ich hier in Brasilien verfolgte, zu schlagen. Denn das, was ich dazu erzählen könnte, habe ich mittlerweile in den letzten vier Jahren zu einer wahren Heldenlegende meiner eigenen Person aufgeblasen. Die zwei Gelegenheiten, als man mich für einen Landsmann des aktuellen Brasilien-Gegners hielt, (während des Spiels gegen Holland schrie plötzlich jemand: "Da ist Frank de Boer!" und zeigte auf mich, an das zweite mal erinnere ich mich nicht mehr) ist zu einem "jedesmal, wenn Brasilien gespielt hat, hat man mich für einen... gehalten" geworden: ob Schotte, Däne, Norweger, Holländer oder Franzose, ich stand immer unter Verdacht! Und die vielen Interviews, die ich vor jedem Spiel geben musste, waren dann in Wirklichkeit auch nur zwei: in Cuiabá wurde ich vom lokalen Radiosender gefragt, wie das Spiel gegen Dänemark ausgehen würde ("5:0 für Dänemark, I`m sorry"), und an der Copacabana antwortete ich einem Kamerateam von TV Globo in der Halbzeitpause des Finales Frankreich - Brasilien auf die Frage, woher ich komme und für wen ich sei: "Aus Deutschland, aber für Brasilien, natürlich!"

Doch zurück zur WM 2002. Ich hätte meine Schenkelklopfer anbringen können, dass ich eines Tages im Supermarkt ein Hühnchen kaufen wollte, und der Verkäufer mir sagte: "Es gibt leider keine Hühnchen mehr.

Man hat das ganze tote Viehzeug zur WM geflogen, um es gegen Brasilien spielen zu lassen!" Türkei, China, Costa Rica, Belgien, England und noch einmal die Türken!

In vollkommener Verfälschung der Tatsachen hätte ich dann behaupten können, dass die Brasilianer rein zufällig und natürlich vollkommen unverdient Weltmeister geworden seien, was man ja auch daran gesehen hätte, dass die Deutschen mit einer Riesensause in der Heimat empfangen wurden, während es für die Brasilianer in Rio de Janeiro Steine gehagelt hat. Und der vielbeschworene Sieg der brasilianischen Spielfreude über die deutsche Ordnung hat den Brasilianern bei der vollkommen missratenen Dreistädte-Siegesfeier in Brasília, Rio und São Paulo auch nur geschadet. Ein bisschen deutsche Ordnung hätte hier wohl das Schlimmste verhindert.

Überhaupt, ich hätte endlich meinen erst gar nicht vorhandenen Nationalstolz wieder aufrichten können, hätte erzählt, dass fast alle Mannschaften dieser WM außer Deutschland die Schiedsrichter bestochen haben, dass Kahn den Ball nur deshalb nicht festhalten konnte, weil ein Brasilianer ihm vorher die Hand zertrümmerte, dass es mir aber eigentlich egal ist, wer gewinnt, denn es gibt ja viel wichtigere Dinge im Leben als Fußball, vorallem für einen Europäer, der gerne in Kultur schwelgt, klug daherschwätzt, dermassen tolerant ist, dass er sich auch über die schön herausgespielten Tore der gegnerischen Mannschaft kräftig freuen kann, und außerdem ja toll ist, dass Deutschland Vizeweltmeister ist, und dass die Deutschen halt alle Freunde sind und deshalb immer weiter kommen.

Dass trotz der 0:2-Niederlage die deutsche Abwehr, über das gesamte Turnier betrachtet, eindeutig besser war als die brasilianische, und dass die brasilianische Abwehr im Finale nur so gut war, weil man Lúcio während seines Praktikums in Deutschland die "basics" gesteckt hat.

Aber über Fußball zu schreiben, ist eigentlich vollkommen sinnlos, und deshalb war die Entscheidung richtig, darauf zu verzichten. Denn, wie schon gesagt, es gibt viel wichtigere Dinge im Leben als eine Fussball-WM. Vor allem für die Verlierer.

Text + Fotos:
Thomas Milz

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