logo caiman
caiman.de archiv
 

Helden Brasiliens: Neues aus Lulaland
Zum Stand der Dinge

Es ist Herbst im Jahre 2004, auch wenn die Moderatorin von "Miss Brasil 2004" die neue brasilianische Schönheitskönigin als Miss Brasil 2002 vorstellt. Und sie ist damit nicht die Einzige, die den "guten alten Zeiten" von Ex-Präsident Fernando Henrique Cardoso nachtrauert. Zurzeit herrschen in Brasilien trübe Aussichten. Die tägliche Gewalt nimmt zu und der erhoffte wirtschaftliche Aufschwung lässt auf sich warten. Am 1. Mai ist ein Drittel von Präsident Luiz Inácio Lula da Silvas Amtszeit vorüber, und es ist an der Zeit, eine erste Zwischenbilanz zu ziehen.

Der Sommer 2004 in São Paulo war kalt und regnerisch. Der Februar sei beinahe so kalt wie in Deutschland, hörte man die Menschen stöhnen. Das komme daher, meldeten sich einige Zyniker zu Wort, dass Brasilien jetzt dank Präsident Lula zur ersten Welt gehöre.

Es fehle nur noch, dass es zu schneien anfinge. Einige Tage später ging über São Paulo ein Graupelschauer nieder, der ganze Stadtviertel einen halben Meter hoch mit grauer Matsche überzog. "Lächelt und seid froh", hörte man einige optimistische Stimmen sagen, "es hätte schlimmer kommen können." Und man lächelte und war froh, und es kam schlimmer. Ein enger Mitarbeiter von José Dirceu, dem Kopf der Regierung Lula, wurde gefilmt, wie er von einem führenden Mitglied der Bingo-Mafia Bestechungsgelder entgegen nahm. Das war kurz vor Carnaval. Seitdem läuft in der Regierung Lula so gut wie nichts mehr rund.

Mittlerweile hat der Herbst Einzug gehalten, und das heiße Wetter, eigentlich typisch für den Sommer, ist endlich eingetroffen. In den Ausgehvierteln São Paulos wie der Vila Olímpia und der Vila Madalena tummelt sich der Nachwuchs der wohlhabenden Familien vor Bars und Diskotheken. Laut wummern die Stereoanlagen der Pick-ups, mit denen die 18-jährigen aus gutem Hause heutzutage zur abendlichen Sause unterwegs sind. Es ist diese Gruppe von behütet Aufgewachsenen, die zurzeit die Gemüter der Nation erregt. In Rio de Janeiro hat die Polizei bereits eine Sondereinsatzgruppe gebildet, die die explodierende Gewaltbereitschaft der Jugendlichen, der so genannten "Pit-boys", bekämpfen soll.

Ihren Namen verdanken sie ihrer Liebe zu "Pit-bulls", und ähnlich aggressiv treten sie auch auf. So kehrte ein junger Mann, dem der Zutritt zu einer privaten Geburtstagsfeier verwehrt wurde, kurze Zeit später bewaffnet und begleitet von von seinen Kumpels zurück, um sich für diese Erniedrigung zu rächen. Besonders schockierend waren die Schwarzweißbilder einer Überwachungskamera, die zeigen, wie ein sich aus dem Fenster seines Autos herauslehnender "Pit-boy" einen Jungen mit acht Kugeln hinrichtet. Verzweifelt kriecht das Opfer über den Bürgersteig, versucht, sich vor den tödlichen Kugeln zu retten. Doch der "Pit-boy" hält drauf, bis das Magazin leer ist. Die Polizei nimmt ihn Wochen später an einem Strand Rio de Janeiros in der schicken "Zona Sul" fest, wo er vergnügt mit seinen Freunden Volleyball spielt.

Derweil bekämpfen sich die Drogenbanden Rio de Janeiros bis aufs Blut. Die Polizei hält mit über 900 Beamten die Favela Rocinha, das größte zusammenhängende Slumviertel Südamerikas, besetzt und macht Jagd auf Drogenbosse. In einem Versteck entdeckt sie u.a. acht Antipersonenminen.

Es scheint, als ob die Zeiten rauer würden. Der Justizminister will die Nationalgarde einsetzen, um der Gewalt Herr zu werden. Währenddessen denkt die Regierung des Bundesstaates Rio de Janeiro über die Errichtung einer drei Meter hohen Mauer bzw. eines Elektrozaunes aus Stacheldraht um die Rocinha nach.

Und in einem soeben in den brasilianischen Kinos angelaufenen Dokumentarfilm über das größte Gefängnis Südamerikas, Carandiru in São Paulo, werden Gefangene gezeigt, die in ihren Zellen Marihuana anbauen und mit Mobiltelefonen nach draußen Kontakt halten. Andere sind selbst im Knast schwer bewaffnet und schlitzen ungeliebte Mitgefangene einfach auf. Ein ehemaliger Direktor der Anstalt gibt zu bedenken, dass ohne eine Politik, die die unglaublichen sozialen Gegensätze bekämpft, die Gewalt immer mehr zunehmen werde. In der nächsten Filmsequenz berichtet der Gouverneur von São Paulo stolz über die Anzahl der neu errichteten Gefängnisse während seiner Amtszeit.

Eigentlich hatte man nach Lulas Wahlsieg Ende 2002 eine drastische politische Kehrtwende hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit erwartet. Doch bisher sind Lulas Programme ohne große Wirkung verpufft. So zog vor kurzem das Programm "Primeiro emprego - Erster Job" nach einjähriger Tätigkeit eine Zwischenbilanz. Durch das Programm, das einen Teil der Lohnkosten übernimmt, wenn ein bisher Unbeschäftigter in Lohn und Brot gebracht wird, sei genau ein Arbeitsplatz geschaffen worden – der eines Kellners in einem Restaurant in Salvador da Bahia, verkündete eine Nachrichtenagentur. Zwar dementierte die Regierung diese Meldung sofort und gab an, dass durch das Programm bisher immerhin 500 Arbeitsplätze geschaffen worden seien. Von den eigentlich für das erste Jahr angestrebten 260.000 neuen Stellen war man aber auch nach dieser Rechnung meilenweit entfernt. Ganz zu schweigen von den von Lula in Aussicht gestellten 10 Millionen neuen Arbeitsplätzen. Diese Zahl sei übrigens eher als Symbol zu verstehen als als reale Zahl, verkündete letzte Woche ein Abgeordneter der PT.

Regelmäßig werden Politiker verhaftet, die versuchen, zur Verteilung an die arme Bevölkerung vorgesehene Lebensmittel- und Schulgeldkarten selber einzulösen. Und so bleibt jeder Versuch einer Korrektur der sozialen Schieflage in einem Sumpf aus Korruption und Selbstbedienungsmentalität jämmerlich stecken.

Nicht einmal die Wirtschaft sendet positive Signale nach Brasília. Das seit Monaten von Lula herbeigeredete "spektakuläre Wachstum" will einfach nicht beginnen, außer bei den Arbeitslosenzahlen, die immer neue Rekorde verzeichnen. Voller Vertrauen setzt man auf den Export von Soja und freut sich insgeheim, dass der Rinderwahnsinn in Europa und die Geflügelseuche in Asien brasilianisches Fleisch zum Exportschlager werden lassen. Derweilen befinden sich die Durchschnittseinkommen brasilianischer Arbeiter seit Jahren im Sturzflug, und in der Industrie brechen Arbeitsplätze zu Zehntausenden weg. Und nun "drohen" die USA auch noch damit, ihr Zinsniveau hoch zu setzen, was das hochverschuldete Brasilien an seiner empfindlichsten Stelle treffen würde – der Abhängigkeit von Kapitalzuflüssen aus dem Ausland zur Tilgung der in Dollar fälligen Kreditzahlungen.

Als ob all dies nicht schon genug wäre, beschleunigt Lula den dramatischen Verfall seiner Popularitätswerte durch äußerst fragwürdige Handlungen. Muss ein Präsident in solch schwierigen Zeiten den Barbecue-Bereich seiner Residenz für 3,5 Millionen Reais umbauen lassen? Ist es nötig, für 167 Millionen Reais ein neues Flugzeug für den Präsidenten zu kaufen, obwohl das alte von seinem Vorgänger gerade erst für eine Unsumme umgebaut und modernisiert wurde? Muss die First Lady Marisa, die seit Lulas Amtsantritt nur noch in teuren Designerkleidern zu sehen ist, die wertvollen Schmuckstücke, die sie bei einem Staatsbesuch geschenkt bekommen hat, unbedingt behalten, obwohl sie versprochen hatte, diese in den Staatsschatz zu überführen?

Und warum lässt Lula im Garten seiner Residenz und des Präsidentenpalastes den roten Stern seiner Partei in Form von Blumenbeeten auf die Wiesen pflanzen? Ein roter Stern ausgerechnet im April, den die Landlosenbewegung MST zum "roten April" ausgerufen hat. Die Regierung scheint unfähig, den rasch zunehmenden Besetzungen von Farmen durch die MST-Bewegung entgegenzutreten. Und die von Lula versprochene Agrarreform verzögert sich immer mehr. Er verspreche, dass seine Regierung keine Agrarreform durchführen werde, die gegen bestehende Gesetze oder die brasilianische Verfassung verstoßen würden, erklärte Lula. Dabei sollte diese Tatsache für einen brasilianischen Präsidenten doch eigentlich selbstverständlich sein.

Zufrieden mit Lulas Politik scheint nur der Klassenfeind vergangener Tage zu sein. Weltbankpräsident Wolfensohn lobt die konservative Finanzpolitik des Exsozialisten und Gewerkschaftsführers Lula genauso wie der Internationale Währungsfond, die Bush-Administration und die Wall Street. Und stolz ist man in Brasilien darauf, dass Lula vom Time-Magazin zu einer der 100 einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt gekürt wurde, zusammen mit Tiger Woods und David Beckham. Aber man weiß ja, dass sich der Prophet nur in fremden Landen Gehör verschafft.

Nicht wirklich gute Nachrichten sind dies, und so ist die Stimmung in der brasilianischen Öffentlichkeit merklich gedrückt.

Dies spiegelt sich auch in dem Umfrageergebnis ab, nach dem 45% der Brasilianer einer erneuten Militärdiktatur zustimmen würden, sofern diese in der Lage wäre, die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Probleme in den Griff zu bekommen.

Aber wer Brasilien kennt, der weiß, dass die Hoffnung immer zuletzt stirbt. Seht her, ruft der Präsident, ich habe es auch geschafft, ganz nach oben zu kommen. Und das, obwohl meine Mutter als Analphabetin geboren wurde.

Text und Fotos: Thomas Milz

Druckversion

Weitere Artikel zu Brasilien findet ihr im Archiv.







 
Archiv
nach




© caiman.de - impressum - disclaimer - datenschutz pa´rriba