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Die Verrückten dieser Welt
Eine Zugfahrt in São Paulo

Schweigen. Nur die angenehme Frauenstimme der Zugansage meldet die nächste Station. „Seien Sie vorsichtig mit dem Abstand zwischen Zug und Plattform”. Jeder soll wissen, welche Gefahren da draußen lauern, sobald man den voll klimatisierten Zug verlässt. Doch Innen ist es kaum besser. Einige Fensterscheiben des Zuges sind zerbrochen und weisen Einschusslöcher auf, notdürftig geflickt. Die Welt scheint sauer zu sein auf diese rollende Festung. Und mit jedem Öffnen der Tür weht der Gestank der ungeklärt in den Marginal Pinheiros hinein fließenden Fäkalien herein.

Stille. Ein jeder in seine Lektüre vertieft. Heiligengeschichten für die Hausfrauen, Fußballnachrichten für die Arbeiter, Börsenkurse für die Geschäftsleute, die neuesten Verbrechensberichte für die Masochisten. Vielleicht ist es die Angst vor der Gewalt dieser Stadt, die die Menschen so verschlossen macht.

Grinsend betritt er den Zug. Durchgeknallte Augen, irgendwo zwischen verzweifeltem Weinen und verschmitztem Grinsen, angegrautes Haar, offene Schuhe ohne Socken, tänzelnder Gang, wulstige Lippen, ein kleiner Plastiksack, der aussieht, als ob er Essenreste enthalten würde. Ein suchender Blick in die Runde. Er setzt sich, die Ellbogen angewinkelt, die Hände nach vorne gedreht, so als ob er sich einen Schleier vor das Gesicht halten würde.

Erschrecken. Panik im Gesicht des Mädchens, das neben ihm sitzt, als er anfängt, laut zu singen.

"Wissen Sie, als ich mich aufmachte, den Sertão und mein geliebtes Bodocó (Stadt in Pernambuco) zu verlassen,
war mein Koffer ein Sack und das Schloß daran ein Knoten,
nichts brachte ich mit außer meinem Mut und meinem Gesicht,
auf einem Laster aufgesessen,
gelitten habe ich, aber hier bin ich nun gestrandet."

Einige grinsen, andere vertiefen in ihr Buch oder drehen ihren Walkman auf maximale Lautstärke. Seine Gesang wirkt obszön in dieser Stille, so als ob jemand auf einer Trauerfeier plötzlich einen Witz herausbrüllen würde.

Die Blondine, die gerade eingestiegen ist, stellt sich in der ihr gegebenen Ahnungslosigkeit direkt neben ihn. Bis er wieder zu singen beginnt und sie einen Satz zur Seite macht.

"Geh nicht weg, mein Schatz, geh nicht weg,
wenn du weg gehst, werde ich mein Leben lang weinen,
Geh nicht weg, mein Schatz, geh nicht weg,
Unsere Streitereien sind Dinge, die vorüber gehen."

Ein Geschäftsmann will der Blondine beistehen und beginnt ihn zu beschimpfen. „Hey, hey, lass mich...“ schreit der Sänger, die Augen zusammen gekniffen, wie ein kleines Kind, das von seinem Papa am Ohr gezogen wird.

„Ich bin kein Hausschuh, dass du auf mich trittst
Ich bin kein Müll, dass du mich weg schmeißt
Wie oft wurde ich aus diesem Haus vertrieben
Aber, mein Schatz, heute wirst gerade du weggeschickt."

Die ersten Fahrgäste fangen laut an zu lachen. Lachen befreit aus der peinlichsten Situation, man schaut den Nachbarn an, verdreht die Augen, verbrüdert sich im Geiste miteinander gegen die Bedrohung.

„Ich bin ein Mann, ein Tier, eine Frau...“

Die nächste Station wäre „Berrini", aber die nette Frauenstimme kündigt stattdessen „Socorro“ an, was soviel wie Hilfe bedeutet. Ist jetzt auch noch die Zugansage verrückt geworden? Oder kann sie die Gedanken der Fahrgäste lesen? Mittlerweile lacht fast das ganze Abteil, und er scheint es zu genießen, alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sein Fuß zuckt nervös, unbeherrscht.

"Dies ist das letzte Lied, das ich für dich singe,
ich habe die Nase voll von dieser Ilusion von dir,
und morgen, wenn du mich in den Armen einer anderen triffst,
mach als ob Du mich nicht kennst."

Als er endlich aussteigt, wirft man sich Kopf schüttelnde Blicke zu, halb vor Lachen, halb vor unfassbarer Verlegenheit. „Immerhin hat er alle zum Lachen gebracht“, rechtfertigt eine Frau ihre feuchten Augen.

Schnell kehrt wieder Ruhe ein, man konzentriert sich auf seine Lektüre, bemüht sich, nicht aufzufallen. Alles wieder so, als ob nichts passiert wäre, als hätte man nicht Tränen vor Lachen vergossen. Schweigen. Stille. Den Blick gesenkt.

So fährt er weiter, der Zug mit den zerschossenen Fensterscheiben, voll mit all den Verrückten dieser Stadt, hinein in die Nacht, vorbei an den mit Autos verstopften Straßen, den stinkenden Marginal Pinheiros hinauf.

Text + Foto: Tom Milz

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