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Brasilien: Itatinga - Energie aus der Natur

Mit einem leichten Ruck setzt sich der Zug in Bewegung und verlässt langsam die Haltestelle an der Fähre des Rio Itapanhaú. Über einen Erddamm geht es durch das Mangrovendickicht den Flusslauf entlang auf die Serra do Mar (Küstengebirge) zu. Nach gut einem Kilometer macht die Bahntrasse eine scharfe Kurve und verläuft dann parallel zur Gebirgskette. Jetzt zeigt der Lokomotivführer, was sein Schmalspurbähnchen noch zu leisten vermag. So um die 20 – 25 Stundenkilometer werden es sein, mit denen wir dahineilen. Aber das ist gut so, denn es gibt links und rechts eine Menge zu sehen und von unserem Luxus-Aussichtswagen, Holzbänke, keine sichtbehindernden Außen- oder Trennwände, nur ein Dach als Schutz gegen die Witterung, haben wir einen prächtigen Ausblick.

Gegen den Fluss zu bildet Sekundärwald (Wald, der sich nach dem Abholzen des Regenwaldes neu gebildet hat) eine undurchdringliche Mauer:

Bambus, Farne, Philodendren, Schlinggewächse, alles dicht miteinander verwachsen, nur unterbrochen von den orangenen Farbtupfern der Heliconien, dem intensiven Rot der Bromelien und dem blau-weißen Farbenspiel der Manacá da Serra.

Am Fuß der Serra breitet sich unberührte originäre Mata Atlantica aus; Regenwald, wie ihn die Europäer beim ersten Betreten Brasiliens die ganze Küste entlang vorgefunden haben: ein grüner Block, nur überragt von den Kronen mächtiger, 20 – 30 Meter hoher Bäume, aufgelockert durch farbenprächtige Blüten.

Aus der Mata steigt die Serra empor; Berghänge, bedeckt mit einem Teppich der verschiedensten Pflanzen, durchzogen von steilen, glatten Felswänden und Vertiefungen, in denen das Wasser in der Sonne glitzert.

Itatinga, "Weiße Felsen", das ist der Name, den die Indios dieser Gegend gegeben haben.
Itatinga, das ist auch der Name des Ortes, den wir besuchen wollen.

Ausgangspunkt diese Tour ist Bertioga, ungefähr 100 Kilometer von São Paulo entfernt, eine kleine Stadt am Beginn des "Litoral Norte", des Küstenabschnitts zwischen Santos und Rio de Janeiro. Das Fort São Tiago, das die Portugiesen 1532 an der Mündung des Rio Itapanhaú errichteten, galt als Keimzelle für die neue Siedlung. Zuerst als Palisadenfort errichtet, wurde es wegen seiner strategisch günstigen Lage stetig ausgebaut. Es beherbergte bedeutende Perönlichkeiten der brasilianischen Geschichte wie die Jesuiten José de Anchieta und Manoel de Nóbrega, die Gründer São Paulos, und spielte eine bedeutende Rolle bei der Kolonisierung der Küste und der Sicherung des Weges nach Santos beziehungsweise ins Landesinnere. Um das Fort herum bildete sich allmählich das heutige Bertioga.

Der Name leitet sich ab, so erzählt man, von dem Wort Buriquioca, was in Tupi-Guarani, der Sprache der hiesigen Indios, "Wohnstätte der Affen" bedeutet. Von den Affen ist allerdings nicht mehr viel zu sehen. Bertioga ist heute vor allem Anziehungspunkt für Sonnenanbeter, die die ausgedehnten Sandstrände am Ort selbst und in der näheren Umgebung genießen wollen oder für Angler, die von den Fischrevieren in den Flüssen oder im Meer angezogen werden.

Der Hesse Hans Staden, der 1550 nach einem Schiffbruch vor Bertioga in die Hände der Tupinambá-Indianer fiel, "fast in deren Kochtöpfen landete", aber es schaffte, von der Speisekarte gestrichen zu werden, war übrigens der erste deutsche Tourist an dieser wunderschönen Küste. Er lebte 22 Monate bei den Indianern, bevor ihm die Flucht gelang. Seine Erlebnisse schilderte er in der Schrift "Wahrhaftig Historia und beschreibung eyner Landschafft in der Newenwelt America gelegen" – eine Lektüre, die noch heute spannend und informativ ist.

Bevor man sich auf den Weg von Bertioga nach Itatinga macht, gilt es einige obstáculos (Hindernisse) zu überwinden. Zunächst ist eine Genehmigung erfoderlich, die nur bei Reisebüros erhältlich ist. Folglich muss man dort eine geführte Tour nach Itatinga buchen.


Damit löst man aber glücklicherweise automatisch das zweite Problem, gibt es doch keinerlei Placas (Verkehrshinweisschilder) auf dem Weg nach Itatinga. Mit Hilfe unseres Guia gelangen wir problemlos zur Fähre am Rio Itapanhaú, die letzten Kilometer auf der "Estrada de Terra" (nicht asphaltierte Straße). Unser Auto verbleibt auf dem Parkplatz vor der Fähre.

Der Fluss bildet eine natürliche Grenze, denn die Fähre ist das einzige Transportmittel. Sie befördert nur Bewohner von Itatinga oder Gäste mit Genehmigung auf die andere Seite. Ab hier befindet sich das Gelände im Besitz der CODESP (Companhia Docas do Estado de Sao Paulo / Hafengesellschaft des Staates Sao Paulo). Und von hier aus geht es mit öffentlichen Verkehrsmitteln weiter, sprich der Schmalspureisenbahn. Einziges alternatives Fortbewegungsmittel für die Bewohner von Itatinga ist das Fahrrad oder das Motorrad; doch selbst in trockenem Zustand engt die Qualität der Wege diese Möglichkeiten stark ein.

Wie ist es zu dieser etwas eigenen Situation gekommen?
Alles beginnt im Jahre 1903, als eine englische Ingenieurgesellschaft im Auftrag der Hafenverwaltung von Santos prüft, wie der Hafen unter Nutzung natürlicher Reserven seine Stromversorgung sicherstellen kann. Eine Studie belegt, dass ein Wasserkraftwerk, welches die Kapazitäten des Rio Itatinga nutzt, geeignet scheint.

Im Jahre 1905 wird die Studie Realität. Die Engländer beginnen mit der Erschließung des Weges zum Rio Itatinga und bauen vom Rio Itapanhaú aus eine Eisenbahnstrecke, auf der Personen und Material zur Baustelle transportiert werden. Auf der Höhe der Serra, 650 Meter über dem Platz, an dem die Turbinen installiert werden sollen, wird der Rio Itatinga angestaut, um die permanente problemlose Wasserversorgung des Kraftwerks sicherzustellen. Fünf Druckleitungen, für jede Turbine eine, verbinden das Reservoir mit der Zentrale.

Am Fuße der Serra wird eine Siedlung für die aus Europa kommenden Ingenieure und die einheimischen Bauarbeiter errichtet. Das notwendige Baumaterial kommt aus Europa, der Stil und die Ausführung der Häuser orientiert sich daran, was sich im Britischen Empire in ähnlichen Klimazonen bewährt hat.

Gar keine Frage, dass auch die technischen Installationen dem europäischen Know-how dieser Zeit entsprechen.

1910 ist dann das Werk vollendet. Die erste in Brasilien installierte Anlage, die Wasserkraft in elektrische Energie umsetzt, nimmt ihre Arbeit auf. Insgesamt 15.000 KW Kapazität stehen für Santos und seinen Hafen zur Verfügung.

Heutzutage wissen nur wenige Personen, dass die Funktionsfähigkeit des Hafens in Santos und die Energieversorgung von Santos, Guarujá (Badeort in der Nachbarschaft von Santos) und Bertioga zum überwiegenden Teil von der effektiven und reibungslosen Arbeit dieser mittlerweile fast 100 Jahre alten Anlage abhängen.

Als wir nach 7 Kilometern Fahrt in Itatinga ankommen, führt der erste Weg natürlich zu diesem technischen Schmuckstück, der Energiezentrale. Leider können wir nur von außen einen Blick in die Maschinenhalle werfen, wo die Turbinen, bestens gepflegt und gewartet, blinkend wie neu, ihren Dienst verrichten. Ein toller Ausblick bietet sich auf die Druckleitungen, die von der Höhe der Serra herab in das Maschinenhaus führen.

Wie wir auf Nachfrage erfahren, liegen Fotos aus der Bauphase, Pläne und weitere Informationen bei der CODESP in Santos. Es ist schade, dass Itatinga kein Museum hat, in dem diese Dokumente der Öffentlichkeit zugänglich sind. Es würde eine weitere Attraktion für Itatinga sein.

Nach der Besichtigung dieser technischen Meisterleistung unternehmen wir eine Wanderung in die originäre Mata Atlantica. Heutige Umweltschutzgedanken vorab realisierend, haben die Betreiber des Kraftwerks dafür gesorgt, die Natur zu erhalten. Es stehen mehrere Trilhas (Wanderwege) zur Verfügung, auf denen man die Wunder dieses tropischen Waldes erleben kann.

Wir nutzen diese Chance und wandern mit unserem Guia bis zum Wasserfall Tres Poços (Drei Wasserbecken). Unterwegs erklärt er uns anhand verschiedener Pflanzen, welche Heilwirkungen die Indios ihnen zuschreiben. Wir sind fasziniert. Da schlummert ein gigantischer Schatz, der sorgsam gehütet und behutsam gehoben werden müsste.

Die Luft steht geradezu im Wald, es ist warm und feucht: Treibhausatmosphäre. Wir sind klatschnass als wir am Wasserfall ankommen. Nichts wie raus aus den Klamotten und rein in das klare, kühle Wasser. Wohltuend erfrischt klettern wir danach auf die großen, rundgeschliffenen Felsbrocken, die im Bachbett verstreut liegen und suchen uns einen Platz für die Siesta.


Doch die ist uns nicht vergönnt. Borrachudos, kleine Kriebelmücken, die nur dort leben, wo optimale Wasserqualität zur Verfügung steht, attackieren und wollen uns ans Blut. Wir flüchten. Ja – auch das Paradies hat seine Schattenseiten.


Text + Fotos: Dieter Hauguth
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