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Brasilien: Lula hält Einzug in den Planalto

Die Brasilianer richten hohe Erwartungen an ihren neuen Präsidenten. Die Situation im Lande bereitet ihm keinen einfachen Amtsantritt und lässt bezweifeln, ob er mit dem "Lulismo" das Land verändern kann.

Am 1. Januar 2003 hielt der neue Präsident Brasiliens, Luiz Inácio da Silva – genannt Lula – Einzug in den Palácio do Planalto. Mit einer Mehrheit von 61,3 Prozent und 52 Millionen Stimmen in der Stichwahl hatten ihn die Wähler am 27. Oktober 2002 in das Präsidentenamt katapultiert. Seit Getúlio Vargas, welcher die Politik in Brasilien Mitte des 20. Jahrhunderts diktierte, fand kein Politiker eine so deutliche Mehrheit in der Bevölkerung. Der höchste Repräsentant kommt nun aus ihren eigenen Reihen. Noch nie zuvor wurde in der jungen brasilianischen Demokratie ein Arbeiter und nordestino - ein Vertreter aus dem Nordosten Brasiliens – ins Präsidentenamt berufen. Im Vergleich zu den Wahlergebnissen von 1998 konnte Lula seine Wählerschaft verdoppeln. Der Bundesstaat Rio de Janeiro wurde mit 80 Prozent zur Stimmenhochburg des neuen Präsidenten. Lula steht für eine Generation des gesellschaftlichen Umbruchs. Sein Name ist eng verbunden mit der Geschichte der brasilianischen Arbeiterbewegung und dem Kampf um Demokratie. Er passt deshalb nicht ins Bild eines klassisch brasilianischen Politikers. Lulas politischer Kampf um die Präsidentschaft gehört eigentlich ins Buch der Rekorde: vier Kandidaturen in 13 Jahren.

Was verbirgt sich wirklich hinter diesem roten Stern auf Lulas schwarzem Anzug? Lula gründete 1979 die Partido dos Trabalhadores (PT) zusammen mit Genossen aus der Gewerkschaft Central Única dos Trabalhadores (CUT) und einigen Akademikern aus verschiedenen Universitäten. Mit 750.000 Mitgliedern ist die PT die größte der 25 Parteien Brasiliens und grenzt sich durch eine eigene Programmatik, eine starke Basis und die Art der innerparteilichen Entscheidungsprozesse ab.

Auf Mitgliederversammlungen trifft man heute vom Umweltaktivisten über den Gewerkschafter und den Landlosen bis zur Frauenrechtlerin einen bunten Querschnitt der politisch engagierten Zivilgesellschaft. Zu den inhaltlichen Schwerpunkten gehören Verschuldungspolitik, Demokratisierung der staatlichen Betriebe, Agrarreform, stärkere Kontrolle des Militärs und Reform der Außenpolitik.

Eine der Stärken der PT ist eine innovative Politik im Kommunalbereich. Bei den letzten Kommunalwahlen im Jahr 2000 honorierten die Wähler dieses Engagement. Mit 1.316 Bürgermeistern übertraf die PT bei weitem die Ergebnisse vergangener Wahlen; unter anderem eroberte sie Metropolen wie São Paulo. Ein Konzept heißt Orçamento Participativo ("Kommunaletat mit Bürgerbeteiligung") und kommt aus Porto Alegre (Rio Grande do Sul). Dieses direkt-demokratische Konzept bietet beispielsweise dem Steuerzahler die Möglichkeit, aktiv in die Verteilung der öffentlichen Mittel einzugreifen. Konkret entscheiden die Bürger mit, wie zum Beispiel die Gelder auf Schul- oder Straßenbau verteilt werden. Kommune und Bürger werden damit zu Pfeilern einer modernen und demokratischeren Gesellschaft.

Während die Neue Linke in den wilden 1980er Jahren radikale Forderungen stellte und diese sogar teilweise militant durchzusetzen suchte, lässt sie sich heute kaum noch auf sozialistische Ideologien festlegen. Bis vor kurzem waren die Anhänger der PT - die Petistas –aufgrund ihres Parteibuches nicht einmal salonfähig. Bürgerlich-konservative Spitzenpolitiker warfen ihnen enge Verbindungen zur Theologie der Befreiung und dem Movimento Sem Terra (Landlosenbewegung) vor.

Die pragmatische Hälfte unter Lula hat den innerparteilichen Wandel noch vor dem Einzug in den Planalto vollzogen. Der Parteivorsitzende José Dirceu de Oliveira e Silva gesteht, dass die meisten Mitglieder in der Partei heute nicht mehr an Sozialismus denken, sondern an eine Regierungsübernahme durch Abgeordnete und Bürgermeister.

Es scheint gerade so, als ob die Linke ihre Ziele gegen die Regierungsfähigkeit eintausche. Noch gehören ungefähr 25 Prozent der Genossen zum radikalen Flügel der Partei. Obwohl Lula eine Allianz mit der bürgerlichen Mitte- Rechts-Partei Partido Liberal (PL) eingegangen ist, hat er es zunächst geschafft, den linken Flügel der PT zu disziplinieren. Es bleibt abzuwarten, wie die gezähmten Widerspenstigen mit der neuen Verantwortung umgehen und welche Politikziele sich mit ihnen durchsetzen lassen.

Mit dem Textilfabrikanten José Alencar aus Minas Gerais als Vize-Präsidenten gelang Lula ein unglaublicher Coup, der ihm selbst die Stimmen der erzkonservativen Unternehmer und ihrer öffentlichkeitswirksamen Meinung sicherte. Entgegen aller Vermutungen war die Arbeiterpartei nie mehr als eine intellektuelle Hochburg sozialistischer Utopien der Mittelschicht. Paradoxerweise hielten die Unterprivilegierten bisher nur ihre eigenen Chefs aus der Oberschicht für regierungsfähig. Doch dieses Paradoxon löste Lula bei der letzten Wahl auf und konnte so bei der armen Stadt- und Landbevölkerung einen erheblichen Stimmenzuwachs erzielen.

Wo PT drauf steht, muss auch Lula drin sein. Die Wahlergebnisse zeigen deutlich, dass die PT ohne den Kandidaten Lula den roten Stern über dem Planalto nie hätte aufgehen sehen. Lula hat die Partei mitgegründet und brachte sie auf Regierungskurs. Während die PT mit 18 Prozent und 91 Sitzen die stärkste Fraktion von 19 vertretenen Parteien im Congresso Nacional (Repräsentantenhaus) bildet, verlor sie auf föderaler Ebene ihre Mehrheit. Die PT stellt während der Amtsperiode Lulas zwar mit Jorge Neves in Acre, José dos Santos in Mato Grosso do Sul und José Dias in Piauí wieder drei Gouverneure, verliert aber in allen heiß umkämpften Bundesstaaten, wie zum Beispiel Bahia, Minas Gerais oder São Paulo, an politischem Gewicht. In Rio Grande do Sul verlor die PT den Gouverneursposten, das bisher wichtigste politische Amt für die Partei, das sie an die Partido do Movimento Democrático Brasileiro (PMDB) verlor. Benedita da Silva, die erste schwarze Haushälterin, die auf dem politischen Parkett in Rio und Brasília unerwarteten Erfolg hatte, konnte die Cariocas im Bundesstaat Rio de Janeiro nicht für sich gewinnen. Das Amt ging an Rosinha Garotinho von der Partido Socialista Brasileiro (PSB). Eigentlicher Gewinner der Wahl ist die Demokratie.

Trotz der Wahlpflicht, spiegelten die Wahlergebnisse in der Vergangenheit nicht unbedingt den Willen der Bevölkerung wider. Seit 1954 wurden nicht mehr so wenig ungültige Stimmen gezählt wie bei dieser Wahl. Lag der Durchschnitt bei ungefähr 40 Prozent der votos em branco ("weißer Stimmen", d.h. ungültiger Stimmen), so verringerte sich der Prozentsatz auf überraschende sechs Prozent und fiel im zweiten Wahlgang sogar auf 3,27 Prozent zurück. Sind nun die Brasilianer politischer geworden oder lassen sich andere Ursachen ausmachen? Brasilien gehört zu einem der wenigen Länder weltweit, in dem per Fingerdruck elektronisch gewählt wird. Damit wird den rund 20 Millionen Analphabeten im Lande eine korrekte, unabhängige und im wahrsten Sinne des Wortes geheime Stimmabgabe ermöglicht. Manipulation der abgegebenen Stimmen ist wegen der hoch abgesicherten elektronischen Stimmabgabe so gut wie unmöglich. Die Stimmen werden über Zentralrechner gezählt, so dass das Wahlergebnis bereits in den frühen Morgenstunden nach der Wahl vorlag. Die Zurückhaltung der Medien in punkto Beeinflussung und Stimmungsmache trug positiv zum Verlauf des demokratischen Wahlprozesses bei. Wahlbeobachter der Universität Rio de Janeiros bestätigen, dass sich der einflussreiche Privatsender Rede Globo entgegen früherer Wahlskandale sehr zurückgehalten hat. Alle gesellschaftlichen Schichten sahen die Wahl Lulas voraus. Aus einem beeindruckenden TV-Duell ging Lula siegreich hervor. Aber wird er auch die Hoffnungen und hohen gesellschaftlichen Erwartungen erfüllen können? Werden die politischen Zwänge Lula verändern oder wird er seinen Politikstil finden und durchsetzen? Er hatte im Wahlkampf inhaltlich nicht mehr zu bieten als die anderen Kandidaten. Dafür hatte er weniger als sie versprochen. Seine politische Herkunft und sein persönlicher Einsatz haben ihn zum Präsidenten gemacht. Dies hat insgeheim Wünsche auf schnelle soziale und Wirtschaftliche Veränderungen geweckt. Seine erste Ansprache nach der Wahl verfolgten die Menschen an den Bildschirmen in den Bars oder zu Hause, als handele es sich um ein Spiel der Nationalmannschaft.

Eine seiner ersten Amtshandlungen ist ein Dekret für das so genannte Aktionsprogramm Fome Zero ("Null Hunger"). Doch der populäre Journalist Gilberto Dimenstein warnt bereits in der Folha Online vor Aktionismus mit altbekannten Ideen. Mit seinem Vorhaben 10 Millionen Arbeitsplätze zu schaffen, könnte Lula – wie viele seiner internationalen Kollegen – aufgrund der Abhängigkeit von der weltwirtschaftlichen Lage scheitern. Ob er strukturelle Veränderungen in der brasilianischen Wirtschaft initiieren kann, um damit die Arbeitslosigkeit zu verringern, bleibt offen. Brasilien steht vor einer unsicheren Zukunft, die einen sozialen Wandel umso dringlicher, aber auch umso schwieriger macht. Aufgrund der wirtschaftlichen Negativ-Trends wird Lula in wichtigen Bereichen der Außen-, Wirtschafts- und Finanzpolitik auf Kontinuität setzen müssen. Argentinien gibt mit seiner finanz- und wirtschaftspolitischen Bruchlandung einen kleinen Vorgeschmack auf eine mögliche Krise des größten lateinamerikanischen Landes. Der neue Präsident Lula – der "Sohn Brasiliens" - hat das Land verzaubert. Viele glauben an die Magie des "Lulismo", der die erwartete Ordnung und den erhofften Fortschritt bringen soll – ganz im Sinne des Landesmottos "ordem e progresso".

Dieser Artikel ist erschienen in der aktuellen Matices. Diese erhaltet ihr bei:
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Text + Fotos: Matthias Lehmphul Druckversion     

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