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Brasilien: Geweißte Capoeira
Vom afrobrasilianischen Kulturgut zum globalen Freizeitsport

Capoeira ist heutzutage in aller Munde. Aus europäischer Sicht wird sie besonders als "neue" Sport- und Freizeitbetätigung betrachtet. Exotisch bleibt allein die Herkunft und die schwarzen Capoeira-Meister in europäischen Schulen. Jedoch ist das gemeinsame "Spiel" der Capoeira noch lange kein Garant für die Überwindung von Vorurteilen und Diskriminierung Schwarzer - zumindest nicht im Ursprungsland Brasilien.

Historisch gesehen ist die Capoeira mit der Sklaverei auf den Zuckerrohrplantagen und der Widerstand der Sklaven verbunden. Keine Klarheit besteht über den letzten Ursprung der Capoeira, auch die Etymologie des Begriffs bleibt im Dunkeln. Während "puristische" Interpreten daran festhalten, die Capoeira stamme aus Afrika und sei somit eine in Brasilien eingeführte afrikanische Kulturpraxis, so geht die Forschung heute davon aus, dass die Capoeira von afrikanischen Bantusklaven erst in der "Neuen Welt", in Brasilien also, entwickelt wurde.


Inspiriert von zum Teil aus Afrika stammenden Tänzen, Ritualen und Musikelementen entstand eine Körpertechnik, die vor allem die Funktion hatte, sich der in der Sklaverei herrschenden Gewalt zu entziehen und ihr mitunter sogar Widerstand entgegenzusetzen. Die Capoeira erscheint in dieser Perspektive als von männlichen afrikanischen Sklaven in Brasilien geschaffene körperliche Widerstandspraxis, die sich im Laufe der Geschichte zu einem Teil der afrobrasilianischen Kultur entwickelte.

Im Zusammenhang mit der Flucht von Sklaven und der Errichtung von Fluchtburgen (z.B. der Quilombo von Palmares) kristallisiert sich im 18. Jahrhundert die Capoeira, bei der auch Messer eingesetzt wurden, zur Verteidigungs- und Angriffstechnik der geflohenen Sklaven. Im Vordergrund stand bei der Capoeira aber immer der defensive und ausweichende Gestus, durch den waffenlose Sklaven der Brutalität der Sklavenaufseher, -jäger und -fänger zu entkommen suchten. Auch gestische Finten, mimische und phonetische Strategien des Täuschens und Fliehens gehörten zum Repertoire der Capoeira.

Nach dem Ende der Sklaverei 1888 kriminalisierten Gesetzestexte Capoeira als Gewaltakte von Vagabunden. Tatsächlich nahm sie in der Stadt einen mitunter aggressiven Charakter an. Auch bildeten sich zum Teil Banden, die ihre Rivalität gewaltsam austrugen und teilweise in Diensten von Politikern standen. In einer historischen Perspektive muss Capoeira aber zunächst als kulturelle Praxis begriffen werden, die die körperlich gespeicherte Erinnerung an die Gewalt der Sklavenhaltergesellschaft und die Techniken und Rituale physischen, psychischen und religiösen Überlebens beinhaltet.

In den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts beginnt die Entkriminalisierung, Institutionalisierung und Reglementierung der Capoeira. 1932 gründete Mestre Bimba (bürgerlich: Manoel dos Reis Machado) die erste Capoeira-Schule oder -Akademie, wobei die Behörden Capoeira als Körperertüchtigung für die Jugend und nicht als ethnisch gebundene Kulturpraxis sehen wollten. Mestre Bimba, ein Hafenarbeiter aus Salvador, hatte in Rio de Janeiro Gelegenheit, asiatische Kampftechniken kennen zu lernen und schrittweise einige ihrer Elemente in die Capoeira integriert. 1936 erkannte die Landesregierung des Bundestaats Bahia die Legalisierung der Capoeira Capoeira als Sportart an, 1937, unter Getúlio Vargas, der Capoeira als brasilianischen Nationalsport betrachtete, entfällt das gesetzliche Capoeira-Verbot. In dem Maße, wie die Capoeira sich aus dem öffentlichen Raum, von den Straßen und Plätzen in die Turnhallen und Gymnastikstudios zurückzieht, hört sie auf, Synonym des Widerstands und der Gewalt Schwarzer zu sein. In der Folgezeit verbreiten immer mehr Capoeira-Lehrer den modifizierten Kampftanz in Brasilien, vor allem in Rio de Janeiro. Integriert, aber auch vereinnahmt und entcharakterisiert wird ein Teil der Capoeira durch die Organisation in Verbänden, zunächst innerhalb des brasilianischen Boxverbandes.

Lange Zeit galt Capoeira auch als Folklore und wurde später, während der Militärdiktatur (1964-1985), endgültig zum Sport: 1973 festigte der nationale Sportrat CND (Conselho Nacional de Desportos) des Erziehungsministeriums MEC die Integration der Capoeira in den brasilianischen Boxverband CBP (Confederação Brasileira de Pugilismo). Capoeira wurde an der Schule der Militärpolizei von Bahia (Academia de Policia Militar da Bahia) in Salvador unterrichtet, in andere Bundesstaaten verbreitet. Über eine Unterscheidung in "saubere" und "schmutzige" Capoeira erlangte die afrobrasilianische Kampfkunst den Rang eines nationalen Volkssports und Kulturguts.

Die Capoeira ist in der Gegenwart eine Mischung aus Sport, Spiel, Tanz, Ritual, Akrobatik und Musik. Vor einem Halbkreis von Musikern und Sängern präsentieren sich auf Plätzen, Märkten, auf Bühnen und in Schulen, Turnhallen und Fitnessstudios jeweils zwei Kämpfer-/ TänzerInnen, deren auf- und gegeneinander gerichtete Bewegungen, phänomenologisch betrachtet, wie eine Mischung aus Tanzritual und zeitlupenartig verlangsamten fernöstlichen Selbstverteidigungs- und Stoßtechniken anmuten.


Der ganze Körper wird dabei eingesetzt, wobei Beine und Füße oft sichel- oder halbmondartige Bewegungen vollziehen und sich die Hände in verlangsamten handstand-, rad- und handstandüberschlagartigen Bewegungsmustern vom und am Boden abfedern. Bei der Capoeira steht die aufeinander abgestimmte und aufeinander reagierende Bewegung im Vordergrund, die einer improvisierten Choreographie gleichkommen kann, die von Gesang und den Instrumenten Berimbau, sowie den Perkussionsinstrumenten der Korbrassel Caxixi, der Fasstrommel Atabaque, der Schellentrommel Pandeiro, der Doppelglocke Agôgô, Recoreco, einer Schrapröhre aus Bambus, dem Chocalho und einer Gefäßrassel begleitet werden.

Heute lassen sich grob zwei Hauptrichtungen der Capoeira unterscheiden, die zugleich verschiedene philosophische, kulturelle und politische Orientierungen afrobrasilianischer Kultur reflektieren. Die Angola und Regional traditionelle Capoeira de Angola basiert auf afrikanischen Wurzeln. Eine Organisation in Sportverbänden wird von ihren Mitgliedern abgelehnt. Sie betonen die Funktion der Capoeira de Angola als Ritual und Praxis einer afrobrasilianischen Widerstandskultur, die eher abseits der Großstadtzentren anzutreffen ist und sich dort teilweise als politische Straßen- und Marginalkultur begreift. Die Mitglieder von Capoeira de Angola suchen eine Afroidentität zu erzeugen, um sich in ihrer kulturellen Ausprägung abzugrenzen. Die Überlieferung afro-brasilianischer Ritualgesänge, die Herstellung traditioneller Instrumente und bodennahe, verlangsamte und tänzerisch anmutende Bewegungsfiguren sind die Hauptelemente der Capoeira de Angola. Durch ihre Geschichte bleibt sie auch der afrobrasilianischen Religion Candomblé verbunden.

Bei der Capoeira Regional dagegen dominieren schnelle, dynamische Bewegungsfolgen. Sie hat ihre Schulen auch den Weißen, den Frauen, der Mittel- und Oberschicht, den Militärs und der Polizei geöffnet. Als offener und unorthodoxer Kampftanz, eher Sport als Ritual, finden sich Elemente fernöstlicher Kampf- und Verteidigungstechniken. Capoeira Regional ist dadurch spektakulärer, kraftvoller, schneller, akrobatischer und aggressiver geworden. In besonders weiterentwickelten - touristischen - Formen erinnert sie stellenweise an den nordamerikanischen Breakdance. Während bei der Capoeira de Angola Musik, Spiel und Ritual die meist bodennah und zeitlupenartig ausgeführten Ausweichfiguren prägen, stellt sich die Capoeira Regional, erkennbar an den zahlreichen offensiven Luftsprüngen, als ein auf Leistung ausgerichtetes Sport- und Kampfgeschehen dar, auch wenn die Musikbegleitung erhalten geblieben ist.

Verschiedene Kodifizierungen und Reglementierungen entwickelten neben der noch entfernt rituellen "Taufe" ein System von verschiedenfarbigen Gürteln, von Zeugnissen und Diplomen. Ab den achtziger Jahren ergab sich für einige der traditionellen Capoeira-Meister (mestres) ein Zwang, ein Universitätsdiplom in Sport vorzulegen, um Capoeira überall unterrichten zu können.

In der Gegenwart existieren zahlreiche Mischformen der beiden Grundrichtungen. Im Bewegungsrepertoire lassen sich über fünfzig ritualisierte und kodifizierte Figuren oder Elemente unterscheiden, wobei das Variationsfeld weit gesteckt ist. Man unterteilt gemeinhin die Ginga, eine Art Wiegen des Körpers oder wiegenden Wechselschritt, von den Golpes, den auch nach vorne gerichteten Stößen.


Viele der kodifizierten Figuren tragen Tiernamen, z.B. Rochenschwanz, Katzenbett, Krebsmaul oder Affe, daneben entfalten aber auch die Bezeichnungen Bananenstaude, Halbmond, Peitsche, Fußsohle oder Lederhut eine magische Wortpoesie (port.: rabo-de-arraia, cama-de-gato, boca-de-siri und macaco, bananeira, meialua, chibata, chapa-de-pé, chapeu-de-couro). Wie die Religionen Candomblé, Macumba und Umbanda gehört auch die Capoeira zu den prägenden Phänomenen der afrobrasilianischen Kultur. Capoeira kann daher verglichen werden mit anderen afrokulturellen Ausdrucksformen, vor allem in der Musik, aber auch im religiösen und sportlichen Feld. Im Zuge der Popularisierung afroamerikanischer Kulturen und im Zeichen der brasilianischen Assimilations- und Vermischungskultur verbreitete sich die Capoeira zunächst in Brasilien. In einem weiteren der Globalisierung geschuldeten Verbreitungsschritt eroberte die Capoeira seit den neunziger Jahren Europa und die USA, so dass am Anfang des dritten Jahrtausends selbst in deutschen Kleinstädten Capoeira-Zentren und -Kurse zu finden sind. Die symbolische Aneignung und Veränderung der Capoeira zu einer Art "ginástica nacional" (nationale Körperertüchtigung), ihre Rationalisierung und touristische Indienstnahme förderte ihren internationalen Erfolg und schuf zweifellos auch Arbeitsmöglichkeiten für viele Capoeirista.

Die Brasilianisierung und Internationalisierung dieses Teils der Afrokultur Brasiliens zeigt aber auch kultur-und ideologiegeschichtlich die Ambivalenzen im Umgang mit der Kultur der Schwarzen Brasiliens: Die kulturelle Aufnahme und Angleichung afrobrasilianischer Kultur besteht neben einer tiefverwurzelten und vielfach verdeckten Diskriminierung der Afrobrasilianer. Indem die hellhäutigen Eliten ausgewählte und für ihre Ziele eingerichtete Teile der afrobrasilianischen Kultur akzeptieren und assimilieren, geben sie vor, dass sie "um pé na cozinha", d.h. in der afrobrasilianischen Welt haben, obwohl sie im Alltag verdeckt die Schwarzen Brasiliens nach wie vor diskriminieren. Im Zusammenhang mit der Leugnung von "preconceito de não ter preconceito" (Vorurteilsstrukturen) glauben die Eliten und Mittelschichten ihre Vorurteilsfreiheit dadurch zu beweisen, dass sie ausgewählte "schwarze" Kulturanteile aus Musik, Tanz und Literatur übernehmen und "geweißt" der brasilianischen Kultur einverleiben.

Text: Claudius Armbruster
Fotos: Anna Schlieben

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